Andreas Reckwitz: Die Spätmoderne und ihre Drei-Klassen-Gesellschaft

Andreas Reckwitz: Die Spätmoderne und ihre Drei-Klassen-Gesellschaft

Veranstalter
Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltungsort
HU-Hauptgebäude, Unter den Linden 6, Senatssaal 1. Stock
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.10.2019 -
Von
Elisabeth Wagner

Die Mosse-Lecture von Andreas Reckwitz. Mit Joseph Vogl.

In den Gesellschaften des globalen Nordens erlebt die Sozialstruktur in den letzten Jahr-zehnten eine tiefgreifende Transformation. Der Vortrag verfolgt die These, dass es sich dabei nicht nur um eine Verstärkung sozioökonomischer Ungleichheiten, sondern auch um eine Divergenz von Mustern der kulturellen Lebensführung handelt, welche die Form eines Paternoster-Effekts annimmt: Aus der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne steigt in der Spätmoderne eine neue, hochqualifizierte Mit-telklasse empor, während eine neue prekäre Klasse absteigt und die traditionelle Mittel-klasse sich in einer Sandwich-Position wiederfindet. Prozesse der Valorisierung (Auf-wertung) und Entwertung verlaufen parallel. Der Vortrag fragt nach den Ursachen, den Strukturmerkmalen und den künftigen Folgen dieser Entwicklung.

Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, zahlreiche Arbeiten zur Kulturtheorie in den Sozialwissenschaften, zur Soziologie der Subjekt-werdung und zum Strukturwandlung moderner Vergesellschaftung. Publikationen u.a.: „Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“, Berlin 2012; „Kreativi-tät und soziale Praxis“, Bielefeld 2016; „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“, Berlin 2017; „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spät-moderne“, Berlin 2019. In diesem Jahr erhielt er den Leibniz-Preis der DFG.

Beginn: 19 Uhr. Die Veranstaltung ist kostenlos.

Programm

KLASSENFRAGEN

Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Ökonomie, die sich an wirtschaftlichen Interessen von Großunternehmen und shareholders orientiert, nimmt die materielle Unsicherheit breiter Bevölkerungsschichten zu, wächst die ungleiche Verteilung von Bildung und Lebenschancen. Hinzu kommt die tagtägliche Erfahrung von sozialer und auch rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. In Wissenschaft und Politik mehren sich die Stimmen, die angesichts dieser Lagebeschreibung eine „Rückkehr der Klassengesellschaft“ annehmen. Es entstehen vielfältige soziale Bewegungen, an verschiedenen Orten, aus unterschiedlichen Lebenslagen und mit speziellen Motivationen: diversifiziert und nicht zentriert wie einstmals die soziale und politische Organisation der Arbeiterklasse. Entsprechend vielfältig sind die Praktiken, die anstelle eines Klassenbewusstseins ein Selbstbewusstsein der Emanzipation und des Widerstands hervorbringen oder zumindest einfordern. Eine klassenspezifische Zugehörigkeit und Solidarität, nach Herkunft, Schicht und Milieu, nach Erwerb und Besitz sowie unterschiedlichen Lebensformen- und Verhaltensweisen kann nicht kompakt behauptet, wohl aber symptomatisch rekonstruiert werden. Ist eine kulturelle Identitätspolitik, welche die Diversität aller möglichen Lebensentwürfe und Lebensstile auszeichnet, an die Stelle organisierter Sozialpolitik getreten? Hat eine liberalistisch orientierte marktkonforme Demokratie, welche die offensichtlichen Umstände einer „real existierende Klassengesellschaft“ ausspart, die soziale Demokratie ersetzt? Einige Kenner und Kritiker brandmarken die vorherrschende „Reichtumsverteidigungspolitik“ und sprechen von einem „Klassenkampf der Finanzoligarchie“ gegen den Rest der Bevölkerung. Mit welchem Recht und mit welcher Begründung? Kann der sich abzeichnende gesellschaftliche Strukturwandel („autoritärer Kapitalismus“, sozialpolitisch motivierte Protestbewegungen) eine erneuerte „Klassenpolitik“ hervorbringen? Wie entstehen Widerstand, Zusammenhalt, Kollektivität?

Kontakt

http://www.mosse-lectures.de