Laien, Lektüren, Laboratorien. Populäre Diskurse in Russland zwischen Wissenschaftstransposition & Wissenstransformation 1860-1960

Laien, Lektüren, Laboratorien. Populäre Diskurse in Russland zwischen Wissenschaftstransposition & Wissenstransformation 1860-1960

Veranstalter
Organisiert von Torben Philipp, Matthias Schwartz und Wladimir Velminski unterstützt durch das Institut für Slawistik der HU Berlin, das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin und das Osteuropainstitut der FU Berlin
Veranstaltungsort
Hermann v. Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität, Hauptgebäude, Raum 3031
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2005 - 02.07.2005
Deadline
29.06.2005
Von
Wladimir Velminski

Themenstellung des Workshops
Die Einflüsse naturwissenschaftlich spezialisierter Wissensformationen auf ästhetische und literarische Diskurse oder populäre Medien sind in den letzten Jahren in den Fokus der kulturwissenschaftlich entgrenzten Philologien und Kunstwissenschaften geraten. Fragen nach Popularisierungen, Umarbeitungen, Aneignungen, Realisierungen, Metaphorisierungen, Repräsentation oder auch Antizipation von (experimentell, laboratorisch, bildmedial usw. hergestelltem) „Spezialwissen“ haben sich hier als produktiv erwiesen, zum einen Beiträge zu einer Bestimmung der Kultur (nicht nur) der Moderne zu leisten und zum anderen die enge und historisch-dynamische Verzahnung von Ästhetik und Naturwissenschaften zu erhellen.
Auch für die russische Kultur sind in jüngerer Zeit (gerade im angloamerikanischen Sprachraum) eine Reihe von Problemstellungen verhandelt worden, welche die wechselseitigen Stimulationen oder Konkurrenzen zwischen „den“ Naturwissenschaften und ihren populären Formen (seien sie nun im ästhetischen, journalistischen oder institutionellem Rahmen) in den Blick genommen haben. Ein Hauptaugenmerk hat hier insbesondere auf emblematisch gewordenen Wissenschaftsfiguren der Moderne (Darwin, Mendeleev, Nordau, Pavlov, Gastev, Lysenko u.a.) und der Rezeption und Interpretation ihrer Theoreme in den (sich teils erst herausbildenden) Massenmedien, der Kunst oder Literatur gelegen. Zusätzlich existieren bereits einige ausbaufähige und systematisierende und diskurshistorische Bezugnahmen, die versuchen, das sich ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts dramatisch verschiebende kommunikative Bezugsfeld von Wissensproduktion, -rezeption und –übertragung, (also unter verstärkt wissenschaftspopularisierenden Aspekten) in die Analysen zu integrieren und methodisch zu reflektieren.
Ausgangspunkt einer solchen Überlegung bilden hier die Veränderungen des individuellen wie sozialen Status von Wissen und Wissenschaft in der Moderne überhaupt: Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften in den Einzeldisziplinen vollzieht sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine sich verschärfende Trennung des Wissens von Experten und Laien. Der universale Bildungsanspruch weicht einer universitären und hoch spezialisierten Fachausbildung, deren Forschungsergebnisse jedoch nur noch einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich sind. Gleichzeitig wächst mit dem aufkommenden Bildungsbürgertum und einer gesamtgesellschaftlichen Alphabetisierungsdynamik auch die Nachfrage nach „modernen“ Welterklärungsmodellen. Diese erhofft man sich gerade von den neuen naturwissenschaftlichen Disziplinen mit ihren vermeintlich objektiv abgesicherten Erklärungsansätzen. So kommt der verständlichen Vermittlung des jeweiligen Fachwissens für ein breites Publikum erstrangige Bedeutung zu. Das Forum hierfür stellen vornehmlich bildungsbürgerliche Periodika, illustrierte Journale (Groschenhefte, Familienzeitschriften usw.) oder die in Russland seit spätestens den 1880er Jahren blühenden populärwissenschaftlichen Publikationen und Organisationen bereit, die in dem Maße zu prosperieren scheinen, in dem die Etablierung und Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen voranschreitet.
Neben dezidiert popularisierenden Schriften bietet aber auch die „hohe“ und ästhetisch stärker avancierte Literatur dem Leser vermehrt Texte an, die wissenschaftlich basierte Stoffe, Diskurse oder Erklärungsmodelle verhandeln oder interpretieren. Die Naturwissenschaften (aber auch ihre Nachtseiten), so lässt sich konstatieren, werden dabei ab spätestens dieser Periode zu einer relevanten Bezugsgröße bei der poetologischen und ideologischen Selbstverortung der Künste.
Ausschlaggebend ist hierbei, dass die Migration von textuellen, graphischen, piktorialen usw. Inhalten keineswegs ungebrochen von wissenschaftlichen in ästhetische oder populärkulturelle Felder verläuft, sondern immer zugleich auch schon diverse kulturelle Vorstellungen, Symbole oder wissenschaftliche Werte transportiert. Lektüren der Wissenschaft funktionieren demnach nicht nur als reaktives Transportmedium zur Vereinfachung schwieriger Wissensinhalte, sondern sie verorten und formieren die neuen Erkenntnisse durch Vereinfachungen, Veranschaulichungen bzw. De- und Rekontextualisierungen immer aufs neue. Transpositionen von Wissenschaft bedeuten ihrerseits immer auch schon Transformationen von Wissen. Sie vollziehen sich nicht in einem gesellschafts- oder kunstpolitisch neutralen Raum, sondern dienen der Profilierung, oft Instrumentalisierung ideologischer Positionen und ästhetischer Maximen, deren epistemologische Eigendynamik wirkungsmächtig ist. Gerade die empirischer Forschung zugeschriebene Autorität macht naturwissenschaftliche Theorien und Hypothesen daher zum idealen Instrument in den kulturpolitischen oder geschichtsphilosophischen Auseinandersetzungen sowie bei der Klärung der Grenzverläufe zwischen Natur und Kultur und insbesondere der scheinbaren Ausdifferenzierung von Geistes- und Naturwissenschaften.
Zugleich vollziehen sich derlei Übertragungs- und Affizierungsphänomene nicht nur vom Laboratorium der Experten hinab zu den Lektüren der Laien, sondern auch in umgekehrter und vermischender Richtung. Insbesondere die in Ästhetik und Zeitschriften verhandelten populären Diskurse fungieren als ein Laboratorium zur Autorisierung oder Delegimitierung von naturwissenschaftlich begründeten Hypothesen sowie als Ausgangspunkt für neue Fragestellungen, Blickfelder und Begriffsinstrumentarien in den jeweiligen Einzeldisziplinen (bzw. überhaupt zu deren weiterer Ausdifferenzierung). Wissenschaftler, Popularisatoren und Öffentlichkeit erscheinen dabei nicht mehr als voneinander getrennte Pole der Wissenserzeugung, sondern als Akteure einer wechselseitigen Kommunikation zwischen Produzenten und Rezipienten.
Von diesen Hypothesen ausgehend, richtet sich das Erkenntnisinteresse des Workshops auf die populären Diskurse um die Naturwissenschaften in Russland im Zeitraum von ca. 1860 bis 1960 und fragt dabei nach den vielschichtigen Wechselwirkungen und gegenseitigen Einflussnahmen der scientas naturalis und belles lettres. Das pragmatische Ziel des Workshops besteht darin, erstmals diejenigen WissenschaftlerInnen zu einer gemeinsamen Diskussion zusammenzubringen, die sich im deutschsprachigen Raum in unterschiedlichen Disziplinen in den letzten Jahren mit den Zusammenhängen von Wissenschaften und Künsten in Russland beschäftigt haben.

Historische Linien: Von Darwin zu Lysenko
Für den hier angelegten Referenzzeitraum lassen sich solche wechselseitigen Diskursaneignungen selbstverständlich nur grob und keineswegs homogen skizzieren. Es kann daher kaum mehr als ein kursorischer Abriss einzelner Diskurse dargestellt werden:
Den Anfang bilden sicher die sich ab etwa den 1860er Jahren in Russland im breiten Maße durchsetzenden sozial- und wissenshistorischen Modernisierungsprozesse, die in den westeuropäischen Staaten und den USA bereits vorher zu beobachten waren. Hier sind historisch grundlegende Faktoren wie die Bauernbefreiung von 1861, die allmähliche Industrialisierung des Landes, Mobilisierung und Urbanisierung der Unterschichten, der massive Ausbau von Transport- und Kommunikationsmedien sowie institutionelle, Wirtschafts- und Bildungsreformen zu nennen (vgl. Mandelker Frieden 1981, Kelly/Shepherd 1998 u.a.). Für die neu entstehenden Bevölkerungsschichten entwickelt sich dabei eine eigene Publikationslandschaft, die auch und besonders populäre Unterhaltungs- und Aufklärungsliteratur umfasst. In diesen Publikationen kommt vornehmlich naturwissenschaftlich begründeten Welterklärungsmodellen eine zentrale Rolle zu, die sowohl für technisch-industrielle Neuerungen als auch für im Zuge der Mobilisierung der Gesellschaft auftretende Ängste und Unsicherheiten allgemein verständliche Antworten versprechen (vgl. Andrews 2003, Brooks 1985, 2000).
Ästhetik, Literatur und Populärwissenschaft reflektieren oder fiktionalisieren im Kontext von Positivismus, wissenschaftlichem Fortschrittsoptimismus und technisch-industriellen Veränderungen genau solche dominanten Diskurse der Zeit. Während in den populären Schriften der Aufklärungs- und Unterhaltungsliteratur Elektrizität, Hypnose, Medizin oder neue Transporttechniken (Eisenbahn, Dampfschiffe, Flugzeuge) meist ein rationales, gegen Aberglaube und Rückständigkeit gerichtetes Weltbild propagieren (Brooks 1985, Steinberg 2002), vollzieht sich die Aneignung in den intellektuellen Eliten stärker ausdifferenziert. Diese reicht von medizinischen Heilungsrezepten, psychologischen Analysemethoden, physiologischen Deskriptionsverfahren, psychiatrischen Pathologisierungen, biologischen Degenerationsvorstellungen bis zu entropischen Endzeitvisionen, okkulten Überadaptionen oder eugenischen Züchtungsfantasien.
Nach der Oktoberrevolution ist es in der Sowjetunion dann gerade der Topos der „Wissenschaftlichkeit“, auf dessen Autorität und ingenieurstechnische Umsetzbarkeit der neue Staat seine Legitimität gründet. Der revolutionären Avantgarde der Partei treten Künste zur Seite, die sich die technischen und wissenschaftlichen Innovationen programmatisch auf die Fahnen schreiben, während die Populärliteratur zunehmend fiktionale Handlungsanleitungen zur praktischen Umsetzung wissenschaftlicher Dispositive durchspielt. Gerade die systematische und laboratorische Zurichtung und Analyse des menschlichen Körpers, seiner Apperzeption und insbesondere des Gehirns geraten hier auf dem Weg zum „neuen Menschen“ in den Fokus psychophysischer Analysen.
Mit der gewaltsamen Industrialisierung des Landes in der Stalinzeit setzt ein zweiter massiver Modernisierungsschub ein, der die zuvor recht heterogenen Konzepte zur Alphabetisierung, Disziplinierung und Umerziehung der Bevölkerung sowie zu einem grundlegenden technisch-industriellen Umbau des ganzen Landes in den 1930er Jahren ästhetisch und ethisch normiert, propagiert und autoritär umsetzt.
Den Schriftstellern – als „Ingenieuren der menschlichen Seele“ - kommt bei der ästhetischen und diskursiven Ausformulierung dieser Machtdispositive eine Schüsselfunktion zu, die sich in der Nachkriegsära sogar noch intensiviert. Von der friedlichen Nutzung der Atomenergie über neue Raketen- und Radartechniken bis zu den ersten Kosmosflügen sowie dem Aufkommen der zivilen Luftfahrt und des Fernsehens reichen die Themen, die hier in wechselseitigen Aneignungen politisch-ästhetisch virulent werden und zur Reformulierung bisheriger Wissensparadigmen und Wissenschaftsfiktionen beitragen.
Als vorläufiger Endpunkt eines solchen, immer auch ambivalenten und höchst prekären wissenschaftsoptimistischen Diskurses ließe sich das Scheitern des kulturpolitischen Tauwetters und die einsetzende Stagnation der Brežnevzeit ab Mitte der 1960er Jahre betrachten.
So können als paradigmatische Zäsuren für den gesamten Untersuchungszeitraum vielleicht der Auftritt Evgenij Bazarovs in Ivan Turgenevs Otcy i deti“ 1862 sowie der Rücktritt Trofim Lysenkos 1964 als Präsident der Akademie für Landwirtschaft gesetzt werden. An Bazarovs erstmaligem Auftritt und Lysenkos endgültigem Rücktritt lässt sich mustergültig zeigen, wie solche Wissenschaftstranspositionen und Wissenstransformationen funktionieren. Ist doch die enthusiastische Aufnahme des Darwinschen Evolutionsgedankens in Russland vor allem durch eine mehrfache Fehllektüre bzw. Umkodierung auf die russischen Verhältnisse gekennzeichnet: Angefangen von den Radikalen und „Nihilisten“, die durch die Popularisierung biologischer Erkenntnisse eine gegen den Zarismus gerichtete Autorität gewinnen, über die Formalisten, die mit Hilfe biologischer Metaphern die Literaturwissenschaften selber revolutionieren, bis zu den Lysenkoisten, die von populären Wissensdispositiven ausgehend durch eine erzieherische Umgestaltung der genetischen Natur die irdische Evolution revidieren wollen (Bowlt/Matich 1990, Holquist 1984, Todes 1989, Pozefsky 2003, Vucinich 1988).
Methodische Zugänge und Forschung
Fragen nach der Rolle wissenschaftlicher Dispositive für die Gesellschaftsentwicklung, für kulturelle Paradigmenwechsel und neue ästhetische Konzepte in Russland und der Sowjetunion, wie sie hier ganz grob skizziert worden sind, sind in letzter Zeit vor allem von Seiten der Science und Cultural Studies vermehrt gestellt worden. So ist eine Vielzahl an wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen zur Entwicklung einzelner Disziplinen (Psychologie, Physiologie, Medizin, Biologie, Kybernetik u.a.; Frieden 1981, Miller 1994, Gerovitch 2002, Gross/Hutchinson 1990, Graham 1987, 1990, 1993, Kozulin 1984), zu Genese und Geschichte der Institutionen (Akademie der Wissenschaften, wissenschaftliche Zeitschriften, Universitäten usw.; Lazarevic 1984, Bastrakova/Pavlova 2001, Heinemann/Kolcinskij 2002, Strekopytov 2002) sowie zu einzelnen exponierten Wissenschaftlern (Beyrau 2000, Hagemeister 1989, Henning/Petersdorf 1998, Lazarevic 1960, Bailes 1990, Rüting 2002) erschienen. In den Literaturwissenschaften liegen eine Reihe neuerer Arbeiten vor, die Bezüge zwischen naturwissenschaftlichen Diskursen und Literatur oder allgemeiner Ästhetik, wenn auch unter anderem Fokus, in den Blick nehmen (Karpova 2000, Merten 2003, Sirotkina 2002). Auch zur populären Literatur und Kultur des Zarismus und der Sowjetunion gibt es einige grundlegende Studien (Brooks 1985, 2000, Michaels 2003, Kelly/Shepherd 1998, Geldern/Stites 1995, Petrone 2002, Stites 1992, 1995, Venediktova 2003 u.a.). Übergreifende Untersuchungen zur Affizierung der Ästhetik im Spannungsfeld von Produktion, Präsentation und Transformation von Wissen sind für den russischen Kulturraum allerdings noch weitestgehend auf den Zeitraum der Avantgarden begrenzt.
In theoretischer Perspektive bieten sich zunächst jene Paradigmen an, die Transdisziplinarität, wechselseitige diskursive Verschränkungen sowie die rhetorische und metaphorische Verfasstheit von Wissensdispositiven bereits in ihrer Programmatik explizit machen Hier wären sowohl Fragestellungen des New Historicism nach dem energetischen Transfer zwischen kulturtechnischen Inhalten und ästhetischer Aneignung, Studien zur Diskursgeschichte der Disziplinen, metaphorologische Studien, welche die Möglichkeiten sprachlich verfasster Wucherungen zwischen disparaten Diskursen methodologisch fassbar machen und vor allem Potenzen der Politisierung bzw. Entpolitisierung theoretisch beschreiben (z.B. Lakoff/Johnson 1980, Leary 1990), als auch Untersuchungen zu nennen, die anhand westlichen Materials die Popularisierung der Wissenschaften im Referenzzeitraum bearbeiten (Daum 1998, Schwarz 1999).

Felder der Aneignung
Methodisch lassen sich diese divergierenden Zugänge in Hinblick auf die Zielstellung des Workshops mindestens auf drei Ebenen verfolgen, die in erster Linie Fragen nach den Wirkungsmächten kulturtechnologischer Dynamiken stellen.
1.) Diskursive Transpositionen
Auf der Ebene der direkten Transpositionen von Wissenschaften in populäre Diskurse betrifft dies die Frage nach den Wegen und Wechselwirkungen gegenseitiger Aneignungen: Die Wissenschaften fungieren dabei sowohl als Subjekt, jedoch auch als Objekt dieser Entwicklung. Einerseits bedient man sich ihrer, indem sie entsprechende Begriffsinstrumentarien, scheinbar falsifizierbare Untersuchungsmethoden und empirische Beobachtungstechniken liefern, um immer komplexer werdende Gesellschaftszusammenhänge zu erforschen. Dabei ist es gerade die Erkenntnis eines prozessualen, stets vorläufigen Status des Wissens, die zu weiteren Forschungen antreibt und somit den Zwang zur Vermittlung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften in Gang setzt. Andererseits sind es diese gerade selbst, die sich für die Sprengung fixer Erkenntnisgrenzen, die Herausbildung neuer Aufmerksamkeitsstrukturen oder den Auftrieb von Empirismus, „mediatisiertem“ Objektivismus und rationaler „Weltaneignung“ mitverantwortlich zeichnen.
Exemplarisch lässt sich hier die Entwicklung von Ivan Pavlovs Studien zur Physiologie der höheren Nerventätigkeit nennen, die sich unter Aneignungen einer Vielzahl von religiösen, philosophischen, gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Diskursen formiert. So entwickeln sich seine Laborexperimente mit Tieren in der Sowjetunion letztlich zu mustergültigen Laboratorien der experimentellen Disziplinierung des „Neuen Menschen“ (vgl. Rüting 2002).

2.) Metaphorologische Transformationen
Auf der Ebene der rhetorischen, metaphorischen und ästhetischen Transformationen epistemologischer Dispositive geht es um die Frage der Art und Weise solcher Aneignungen: Denn die Wissensexplosion in den spezialisierten Einzeldisziplinen wirft zudem das Problem von Benennungen und Diskursivierung der neuen empirischen Untersuchungen und Entdeckungen auf. Unter radikal konstruktiv gefassten „Wissenschaften“ sind daher immer auch bestimmte diskursive, rhetorische und paradigmatische Zuschreibungen von Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Versuchsanordnungen zu verstehen, die kulturell ausgehandelt werden. Der Wissenschaftspopularisierung kommt hierbei eine zentrale Scharnierfunktion zwischen Laien und Experten auch deshalb zu, da sie nicht nur das Spezialwissen für den Uneingeweihten sprachlich kommunikabel macht, sondern gleichzeitig erst die Sprache für weitere Entwicklungen liefert. So stellen die Naturwissenschaften einerseits das Metaphernreservoir für Publizistik und Literatur bereit, um neue Ästhetiken, Episteme und Kulturtechniken durchzusetzen, gleichzeitig kommt die Naturwissenschaft jedoch gar nicht ohne die Spekulationen und Diskursivierungen aus anderen Feldern aus, die dieser Legitimität und Autorität verleihen. Sirotkina etwa hat solche Wechselwirkungen eindrücklich anhand der Spezifika psychiatrischer Diskurse um 1900 in Russland belegt (bei Ciz , Bazenov u.a.), die ihre Debatten, Rhetoriken und prototypischen Krankheitsbilder und -narrationen geradewegs aus dem literarischen Kanon des 19. Jahrhunderts entnehmen und sich im Spannungsfeld von Klinik, Öffentlichkeit und Literatur legitimieren (Sirotkina 2002).
3.) Imaginäre Transkriptionen
Auf der Ebene imaginärer Überschreitungen und Transkriptionen naturwissenschaftlicher Topoi geht es vor allem um die Frage nach dem produktiven „Überschuss“ solcher Aneignungsstrategien: Ist der epistemische und „mediale“ Eigenwert popularisierender Texterzeugnisse doch keineswegs immer eindeutig oder eindimensional. Die diskursive Übersetzung von Spezialwissen in populäre Formen bedeutet nicht die bloße Vereinfachung oder (politisch, ästhetisch, ökonomisch etc. motivierte) Transformation stabiler Wissensinhalte, sondern beinhaltet schon zugleich die Möglichkeit der Verselbständigung ihrer Qualitäten. Angefangen von der fantastischen Literatur der Romantik bis zur sowjetischen Science Fiction sind es gerade die exakten Wissenschaften, die das größte Imaginationspotenzial freisetzten, die Grenzen des Denkbaren und Wissensmöglichen zu überschreiten, zu kompensieren oder zu hinterfragen. Gleichzeitig bieten auch die genannten politischen Instrumentalisierungen naturwissenschaftlicher „Autoritäten“ für ästhetische Texte eine Fülle an Material für spielerische und/oder subversive Transkriptionen. Diese reichen von einer dezidierten Wissenschaftsfeindlichkeit über parawissenschaftliche Weltentwürfe bis zu dezidiert antiutopischen, technisch-wissenschaftliche Entwicklungen überaffimierenden Textstrategien.
Diesen möglichen Untersuchungsebenen soll in dem Workshop in Hinblick auf die populären Diskurse in Russland zwischen Wissenschaftstransposition und Wissenstransformation nachgegangen werden, wobei angestrebt ist, die unterschiedlichen Forschungsgebiete je nach Interesse der einzelnen Teilnehmenden auf bestimmte Perioden (bspw. 1860er Jahre bis 1917, 1920er Jahre, Stalinzeit bis 1941, sowjetische Nachkriegszeit) und Themenfelder (populäre Diskurse über Krankheit, Disziplinierungs- und Kulturtechniken des Menschen/der Gesellschaft, Wissenschaftspopularisierung in den Künsten u. a.) in interdisziplinärer Perspektive hin zu fokussieren.

Programm

Freitag, 1. Juli

12.00-12.30 Eröffnung

12.30 Riccardo Nicolosi (Konstanz):
Literatur als Experiment. Die Wissenschaftlichkeit des französischen Naturalismus und ihre russische Rezeption

13.10 Olja Slavina (Hamburg):
Traumabbildung im Kreis um Graf Aleksandr Aksakov (1832-1903)

13.50 Julia Kursell (Berlin):
Paramusikologie in der russischen Moderne

14.30-16.00 Pause

16.00 Mirjam Goller (Berlin):
Nikolaj Bugaev und Kotik Letaev. Wenn Mathematik (er)zählt

16.40 Wladimir Velminski (Berlin):
Krieg der Gedanken. Telepathische Kommunikationen zwischen Laboratorien

17.20-17.40 Kaffee-Pause

17.40 Ute Holl (Weimar):
Bechterevs Reflexologie als filmisches Verfahren

18.20 Barbara Wurm (Berlin):
Zur (doppelten) medialen Suggestion des frühen sowjetischen Wissenschaftsfilms

19.00 Diskussion

Samstag, 2. Juli

10.00 Torsten Rüting (Hamburg):
Disziplin in Körper, Laboratorium und Staat. Auf der Suche nach dem Grund für die Karriere Pavlovs in Russland und der Sowjetunion

10.40 Torben Philipp (Berlin):
Zoscenko und Pavlov

11.20-11.40 Kaffee-Pause

11.40 Sven Spieker (Santa Barbara)
Eisensteins Diskussion der „Vierten Dimension“

12.20 Anke Niederbudde (München):
Geometrie als wissenschaftlich-argumentatives Hilfsmittel in den kunsttheoretischen Schriften P. Florenskijs

13.00 Margarete Vöhringer (Weimar):
Wie man mit Apparaten, Räumen und Menschen experimentiert – Nikolai Ladowskijs Psychotechnisches Labor an den WChUTEMAS

13.40-15.00 Mittags-Pause

15.00 Igor J. Polianski (Potsdam):
Die Zwei Naturen: Populärwissenschaftliche Propaganda und Repräsentationen der Natur im geteilten Berlin als „Boundary Work“ der Sowjetunion und USA im Kalten Krieg

15.40 Matthias Schwartz (Berlin):
Wege ins Ungewisse: Transkriptionen populärwissenschaftlicher Dispositive in künstlerischen Texten der Nachkriegszeit

16.20-17.00 Abschlussdiskussion

Kontakt

Wladimir Velminski

Hermann v. Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik
Unter den Linden 6, 10099 Berlin
+49 30 2095 2750

wladimirvelminski@web.de

http://publicus.culture.hu-berlin.de/~wv/lll/
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