„Abnorme Persönlichkeiten“ im Netz der Institutionen. Die Beurteilung von abweichendem Verhalten in Ost- und Westdeutschland 1960-1980

„Abnorme Persönlichkeiten“ im Netz der Institutionen. Die Beurteilung von abweichendem Verhalten in Ost- und Westdeutschland 1960-1980

Veranstalter
Dr. Alexa Geisthövel / Prof. Dr. Volker Hess, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Berlin
Veranstaltungsort
Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.06.2019 - 15.06.2019
Deadline
15.11.2018
Website
Von
Alexa Geisthövel

Ob man die Jahre um 1970 als progressive „Fundamentalliberalisierung“ (Ulrich Herbert) beschreibt oder liberalismuskritisch als Durchbruch zum „flexiblen Normalismus“ (Jürgen Link): Es besteht ein gewisser Konsens, dass sich zwischen 1960 und 1980 jene Maßstäbe merklich verschoben, nach denen menschliches Verhalten als „normal“ oder „abnorm“, als gesellschaftlich wünschenswert, tolerabel oder aber als sanktions- und veränderungsbedürftig bewertet wurde. Man braucht sich die zeitgenössische Rede vom Wertewandel nicht zu eigen zu machen, um zu konstatieren, dass in der Bundesrepublik wie in der DDR Moral- und Ordnungsvorstellungen, Lebensweisen und Orientierungsmuster im Umbruch waren.
Dies äußerte sich auf der normativen Ebene nicht zuletzt in Strafrechtsreformen, die in beiden deutschen Staaten in dieser Zeit diskutiert, verabschiedet und in Kraft gesetzt wurden, etwa auf dem Gebiet der so genannten Sittlichkeitsdelikte oder mit der Verankerung des Resozialisierungsgedankens. Befragt man das breite Spektrum gesellschaftspolitischer Debatten in dieser Zeit, scheint hier eine über Jahrzehnte vorbereitete Verschiebung zu kulminieren, weg von einem reglementierenden und repressiven hin zu einem verstehenden, helfenden und therapeutischen Umgang mit Devianz, von Disziplinierung und Strafe hin zu Selbstbestimmung bzw. Selbststeuerung. Doch wie manifestierte sich dieser Wandel? Welche Effekte zeitigte er in jenen Praxisfeldern, die im konkreten Einzelfall für die Beurteilung und Bewältigung „abweichenden“ Verhaltens zuständig waren – in Schulen, Jugendfürsorge und Sozialämtern, in Beratungsstellen und vor Konfliktkommissionen, in Krankenhäusern, Gerichten und Gefängnissen? Dies wollen wir in einem Workshop explorieren, in dem die Praxen der Begutachtung devianten Verhaltens im Mittelpunkt stehen.

Die historische Dynamik von Normen und Normalität ist auf der alltäglichen praktischen Ebene weitaus schwieriger zu erfassen als im Diskurs der Reformer. Dies nicht zuletzt deshalb, weil solche Prozesse häufig gleichsam interdisziplinär verliefen, wenn sich Akteur_innen unterschiedlicher Institutionen qua Amtshilfe wechselseitig berichteten und einander ihre „Fälle“ zuleiteten. Auffällige Individuen – „schwererziehbar“, „unterentwickelt“, „krank“, „straffällig“ usw. – gerieten auf ihrem mehr oder weniger unfreiwilligen Marsch durch die Institutionen in die Hände und die Akten einer Vielzahl professioneller Akteure aus unterschiedlichen Fachgebieten mit je eigenen Entscheidungskriterien. Doch wegen gemeinsamer und geteilter Zuständigkeiten mussten diese Expert_innen immer wieder zusammenarbeiten und sich dabei – zumindest teilweise – auf die Rationalitäten der anderen einlassen. Wie weit reichte die Deutungshoheit fachspezifischer Erklärungsmodelle bei der Bewältigung eines Einzelfalls? Wie wirkmächtig waren kriminologische Theoreme, psychiatrische Krankheitslehren, pädagogische Konzepte und viele andere in der Praxis?

Um uns diesem verzweigten Feld angemessen komplex zu nähern, wollen wir die Frage auf ein Stichwort zuspitzen, das für zahlreiche Menschenführungspraktiken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zentral gewesen zu sein scheint: die Persönlichkeit. Verstanden als typische Erlebnisweisen und Reaktionsmuster einer Person, verhieß das Wissen um „die Persönlichkeit“ einen Zugang zu unterschiedlichsten Schwierigkeiten der Lebensbewältigung zu bieten, ob gestörte soziale Beziehungen, ob aggressives oder selbstzerstörerisches Verhalten, ob psychische und somatische Erkrankungen, Schulversagen, Sucht oder Kriminalität. Davon zeugen nicht zuletzt die Expansion der Psy-Disziplinen mit der Verbreitung entsprechender Therapieangebote oder der Aufschwung diagnostischer Techniken wie Persönlichkeitstests seit den 1960er Jahren. Als produktiv erwies sich das Deutungsmuster „Persönlichkeit“ aber nicht nur vor dem Hintergrund einer zunehmenden Psychologisierung von Krankheit und Verhalten. Im Sinne eines klassischen „boundary concept“ war es offen genug, um bei Bedarf in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Biologie, Psyche und soziale Umwelt bzw. Angeborenes, Anerzogenes oder durch Erfahrungen Erworbenes integrieren zu können.

Ziel des Workshops ist eine Bestandsaufnahme, die Befunde aus verschiedenen zeithistorischen Forschungsfeldern von Kinderheimen bis zur Bewährungshilfe zusammenträgt. Wie und mit welchen Folgen trat das Wissen um die „abnorme“ Persönlichkeit in pädagogischen, sozialarbeiterischen, juristischen oder therapeutischen Kontexten in Erscheinung?

Wir möchten insbesondere Beiträge eingeladen, die sich in historischer Perspektive mit der Beurteilung der „Persönlichkeit“ in den genannten Praxisfeldern befassen. Mögliche Aspekte können sein:

- Welches Gewicht hatte „Persönlichkeit“ im Vergleich zu anderen Kategorien, um abweichendes Verhalten zu erklären, Sanktionen einzuleiten, Hilfestellungen anzubieten und Prognosen abzugeben? Welche Begrifflichkeiten standen zur Verfügung („abnorm“, „asozial“, „antisozial“, „dissozial“, „fehlentwickelt“, „gestört“, „hirngeschädigt“, „milieugeschädigt“, „neurotisch“, „psychopathisch“, „retardiert“, „verwahrlost“ etc.)? Welche semantischen Verschiebungen ergaben sich in den beiden Jahrzehnten um 1970 aus der Einzelfallpraxis heraus und in sie hinein?

- Welche Bedeutung hatten fachspezifische Diagnoseverfahren für die praktische Beurteilung der Persönlichkeit? Wurde „Abweichung“ typologisch oder statistisch gedeutet? Wie vertrugen sich diagnostische Techniken mit professioneller Urteilskraft? Wie verhielten sich fachspezifische (medizinische, psychologische, pädagogische etc.) Zuschreibungen jeweils zueinander? Handelte es sich dabei um handlungsleitende Konzepte, bahnten diagnostische Neuschöpfungen den Weg für einen veränderten Umgang mit abweichendem Verhalten oder fielen sie bei konkreten Entscheidungen relativ wenig ins Gewicht?

- Wie verschoben sich in diesem Zusammenhang die Zurechnungsmuster der „Persönlichkeit“ von schicksalhafter Anlage zu einer beeinflussbaren Umweltprägung? Wie wurden ältere charakterologische oder psychopathologische Konzepte durch psychodynamische und psychosoziale Ansätze entwertet? Oder hielten und transformierten sich im Fahrwasser des „Psychobooms“ biologische Konzepte von abweichendem Verhalten?

- Wie wurde das Wissen über die Persönlichkeit zwischen den involvierten Handlungsfeldern transferiert? Auf welchen Ebenen arbeiten Profis aus verschiedenen Sachbereichen sowie Laien zusammen, wo herrschte Konkurrenz und Beharren auf den eigenen Kompetenzen?

- Mit welchen gesellschaftlichen Aufbruchshoffnungen oder Umbruchsbefürchtungen verband sich eine persönlichkeitsbezogene Beurteilung von Devianz? Welche Effekte hatte beispielsweise das Ideal einer „sozialistischen Persönlichkeit“, die in der DDR Antrieb und Produkt einer alternativen Gesellschaftsform sein sollte? Welche Formen der Abweichung schienen in der Konjunktur von Unangepasstheit und jugendlichem Aufbegehren geradezu als normal und wünschenswert? Wie wurde gegen den wahrgenommenen Gesellschaftswandel mobilisiert?

Die Veranstaltung soll Werkstatt-Charakter haben. Um schnell in eine gemeinsame Diskussion einsteigen zu können, ist geplant, ausführlichere Thesenpapiere oder kurze Texte (5-10 Seiten ohne Literatur) vorab zirkulieren zu lassen, die beim Treffen erläutert werden können. Gerne können Fragestellungen und Probleme an exemplarischen Quellen vorgestellt werden. Zudem sind knappe Kommentare vorgesehen. Eine spätere Veröffentlichung ist anvisiert, ihre Form hängt vom Verlauf des Workshops und dem Potenzial der präsentierten Papiere ab.
Kosten für Reise und Übernachtung werden von den Veranstaltern übernommen.
Aussagekräftige Themenvorschläge bitte bis 15. November 2018 an Alexa Geisthövel (alexandra.geisthoevel@charite.de) und Volker Hess (volker.hess@charite.de).

Programm

Kontakt

Alexa Geisthövel

Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin
Thielallee 71, 14195 Berlin

alexandra.geisthoevel@charite.de


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