Der Atem in der Kunst. Ästhetische, existentielle und politische Dimensionen, 1900-heute

Der Atem in der Kunst. Ästhetische, existentielle und politische Dimensionen, 1900-heute

Veranstalter
Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin, Dr. des. Linn Burchert (Berlin), Dr. Dorothea Rebecca Schönsee (Wien)
Veranstaltungsort
Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.09.2019 - 14.09.2019
Deadline
15.10.2018
Website
Von
Burchert, Linn

Die Atmung als Prozess der systolisch-diastolischen Füllung und Leerung, Ausdehnung und Zusammenziehung der Lunge dient u.a. der Versorgung des Blutes mit Sauerstoff und so der Aufrechterhaltung des Lebens. Diese wechselweise Verinnerlichung und Entäußerung und somit ständige Grenzüberschreitung zwischen Organismus und Umwelt ist zugleich kultur- und medizinhistorisch mit komplexen sozialen und politischen Implikationen verbunden. Nicht erst seitdem lebendige Körper zu Inhalt und Material von Performances und Installationen wurden, gehört der Atem zum zentralen, aber bislang nur punktuell untersuchten Element in der Kunst. Das Desiderat überrascht insbesondere ob der Berührungspunkte der Atem-Thematik mit dem prominenten Pygmalion-Mythos und dessen zahlreichen Adaptionen.
Ziel der geplanten Tagung ist es, das große Spektrum ästhetischer, ethischer, existentieller und politischer Dimensionen aufzuzeigen, die in künstlerische Auseinandersetzungen mit der Atmung seit 1900 einfließen. Der Atem soll dabei als Motiv, substantielles Phänomen in Produktion und Rezeption, aber auch als Metapher und Ausgangspunkt kunsttheoretischer Überlegungen unter Einbezug einer großen Vielfalt von künstlerischen Medien und Praktiken untersucht werden.
Der historische Rahmen ist bewusst breit angelegt und reicht von Symbolismus, Jugendstil und Lebensreform um 1900 über den Expressionismus, die malerische Abstraktion bis hin zur Performance- und Installationskunst seit den 1960er Jahren. Dadurch werden Kontinuitäten und Differenzen sichtbar, die bislang im Fokus auf die Kunst seit 1960 keine Beachtung fanden. Ein verbindender Schwerpunkt soll auf dem Komplex ‚Atem, Biopolitik und Macht‘ liegen.
Die Beiträge können sich den folgenden, aber auch anderen, im Abstract klar zu definierenden Themenbereichen widmen:

1. DER ATEM ALS MOTIV UND KOMPOSITIONSMERKMAL IN BILDMEDIEN
Im Bereich von figurativen Bildmedien (Malerei, Photographie, Film) stellen Motive der Systole und Diastole sowie betonte Formen des Ausatmens ein vielfältiges Untersuchungsfeld dar. Der Atem avanciert im Kontext von Lebensreform, Rhythmusbewegung und Körperkultur zum zentralen Thema (z.B. Ferdinand Hodler, Arthur B. Davies). Nicht nur in der Hinwendung zu ‚Natur‘ und ‚Kosmos‘, auch über das Motiv des Rauchens wird Atem in Szene gesetzt. Dabei gewinnen soziologische und anthropologische, aber auch synästhetisch-olfaktorische Implikationen des Atemmotivs Bedeutung. Das Rauchen als betonte Form der Atmung erscheint unter Genderaspekten mit Blick etwa auf Intimität und Erotik (z.B. Otto Dix) und Geschlechterkonstruktionen (z.B. Cindy Shermann) ebenso interessant wie in dessen Kodierung als Geste kritischer Denkarbeit im Porträt.
Weiterhin können Szenen des Aufblasens von Materialien und somit verschiedene produktive, kreative und spielerische Formen des Atmens in den Blick genommen werden (z.B. Amy B. Atkinson, Ernest Townsend). Der Atmung als lebensbejahendem oder produktivem Vorgang steht andererseits der Entzug der Atmung, im Staunen und Erschrecken etwa, oder auch in der Darstellung des ‚letzten Ausatmens‘ gegenüber. So will sich die Tagung auch Aspekten von Atemlosigkeit, Schmerz, Krankheit und Tod widmen (z.B. Edvard Munch, Nikos Navridis).
Neben der konnotativen Ebene sollen Methoden der Sichtbarmachung des Unsichtbaren in Bildern in den Fokus gerückt werden: Welche Rolle spielen hier etwa Volumina und Leere, Farbauftrag und Rhythmik? Solche formalästhetischen Fragen werden gerade mit Blick auf abstrakte und ungegenständliche Bilder interessant. Hier verbindet sich die Figur des Atems in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ästhetischen Kategorien der Lebendigkeit und der Rhythmik. Das Kunstwerk als atmender Organismus wird insbesondere im 20. Jahrhundert (z.B. Paul Klee, Gotthard Graubner, Mark Rothko, Marco Gastini) zur Ausdrucksform der Modellierung und Intensivierung von Klang, Volumen und Energie. Die Atmung im Bild wird so zum fluiden, dematerialisierten Körper und zur Artikulationsform.

2. DER ATEM ALS SUBSTANZ IN DER PRODUKTION VON KUNST: BILDER, OBJEKTE UND KÖRPER
Auf der Ebene der Produktion von Kunst spielt der Atem nicht nur metaphorisch, sondern auch substantiell sowie intermodal eine zentrale Rolle. Die betonte Form der Ausatmung hat gerade für den Einsatz des Körpers in der Kunst weitreichende Implikationen. Atmung selbst wird körperlich, erzeugt Körper oder bildet ihre Abwesenheit ab (z.B. Piero Manzoni, Marcel Duchamps, Giuseppe Penone, Anselmo Fox). Mithin treten dabei biochemische und hygienische Aspekte in den Vordergrund (z.B. Sabrina Raaf).
Als spezifische Form des Körpereinsatzes und/oder als Index für den Körper gewinnt die Atmung in der Performancekunst besondere Bedeutung (z.B. Bruce Nauman, Marina Abramovic und Ulay, Vito Acconci). Eine zentrale Rolle spielt dabei der Atem als kommunikativer Akt und Stimmgeber: Wie wird der Atem in der Performancekunst eingeführt und in den Vordergrund gerückt? Wo wird Atmung etwa als Kommunikation von Gefühlen in Installationen und Performances eingesetzt (z.B. Valie Export)? Dabei werden die verschiedenen Ausdrucksformen des Atmens – zwischen Hauchen und Keuchen – durch Lautstärke, Länge, Rhythmik usw. bedeutungstragend.

3. DER ATEM IN DER REZEPTION VON KUNST: GEGENWÄRTIGKEIT UND GRENZÜBERSCHREITUNG
Zentral für die rezeptionsästhetische Reflexion von Atmung als interaktivem Prozess erscheinen eine spezifische Erfahrung von Gegenwart sowie die grenzüberschreitende Begegnung von Innerkörperlichem und Umwelt. Die Figur des Atems verbindet sich mit Dimensionen der Einfühlung, der Immersion und dem Emanativen. Das wirft die Frage nach dem Einbezug der Betrachtenden bzw. Teilnehmenden von Kunst als atmende Organismen auf: Inwiefern werden diese als Rezipierende rhythmisiert – etwa idealiter und wahrnehmungstheoretisch als Betrachtende von Malerei oder Zeichnung (z.B. Gotthard Graubner), oder aber substantiell im Zuge von partizipatorischen Anordnungen und Erfahrungsräumen, die das Einatmen spezifischer Luft forcieren (z.B. Lygia Clark, Teresa Margolles, Sissel Tolaas)? Daraus ergeben sich Fragen nach den Grenzen von Selbstbestimmung und nach der Ausübung von Zwang (cf. 4. ‚Atem, Biopolitik und Macht‘). Inwiefern zielt die Rezeption auf eine Manipulation oder aber Erweiterung bzw. Stärkung von Bewusstsein und/oder Unterbewusstsein, ab? Von besonderem Interesse ist dabei der Aspekt der Selbsterfahrung im Raum: Welche Sinne werden aktiviert oder auch: Wie wird Raum erschlossen, wahrgenommen oder durch Atmung und Kunstwerk erst kreiert?

4. QUERSCHNITTSTHEMA: ATEM, BIOPOLITIK UND MACHT
Ein wesentlicher Fokus der Tagung liegt auf dem Zusammenhang von Atem, Biopolitik und Macht. So werden über die Atmung in der Kunst Diskurse der Lebensmacht (Michel Foucault) verhandelt (z.B. Lygia Clark): Der Atem wird zum Mittel der Überwachung und zur Kontrolle der Zirkulation von Luft. In der Respiration wird Leben ‚geordnet‘, in ihrem Entzug ausgelöscht. Die Kontrolle des Atems kann der gewaltsamen Bemächtigung über das Leben Anderer oder einem utopischen Neuentwurf des eigenen Lebens dienen.
Gerade in den theoretischen Ansätzen des Posthumanismus erhalten biopolitische Diskurse eine neue Relevanz: Fügt sich die Atmung in der Kunst in eine ‚Ökonomie der Körper‘ ein oder unterläuft sie diese sogar? Werden Gegenentwürfe zu einer technizistischen Gegenwart geschaffen oder geht die künstlerische Praxis durch die Nutzung von bio-feedback-Technologien Allianzen mit diesem ein (z.B. George Khut)?
Dimensionen von Gesundheit und Identität, die in Verbindung mit dem Atem als Träger von Krankheit sowie mit dem Geruch als sozialem Marker stehen, sind dabei gleichermaßen zentral (z. B. Sissel Tolaas). Im Kontext vitalistischer Diskurse der Jahrhundertwende wurden diese bioethischen Komponenten der Atem-Thematik virulent. Die Tagung fragt daher, wo sich die untersuchten Arbeiten in diese Traditionen einschreiben, bzw. sich davon entfernen oder dieselben kommentieren (z.B. Teresa Margolles).
Die Frage nach Macht stellt sich weiterhin mit Blick auf die spirituellen und religiösen Dimensionen des Atems (z.B. Tapies, Yves Klein): Atmung in der Kunst als Vehikel für Charisma und Aura wird potentiell zum Moment der Einbindung und Immersion der Rezipierenden in ein exklusives und autoritäres Ereignis (z.B. Bill Viola). Im Atem verschränken sich nicht selten Utopie und Macht. Die Atmung formiert mithin einen Möglichkeitsraum, in dem sich Wünsche, Erfahrungen, Gefühle und Sprache begegnen können (z.B. Theda Schiphorst). Mal erscheint sie als Refugium vor Krise, Destruktion und Gewalt, mal wird sie selbst als gewaltsamer Prozess verstanden (z.B. Mark Rothko, Lygia Clark).

Bitte senden Sie Ihr Abstract (ca. 300 Wörter) bis zum 15.10.2018 an Dr. des. Linn Burchert (linn.burchert@hu-berlin.de) und Dr. Dorothea Rebecca Schönsee (dorothea.rebecca.schoensee@univie.ac.at). Die Vorträge sollen eine Länge von 25-30 Minuten nicht überschreiten. Die Tagungssprache ist Deutsch, es können aber auch Beiträge in englischer Sprache vorgeschlagen werden.
Die Übernahme der Reisekosten für die Referierenden wird beantragt, kann aber zum aktuellen Zeitpunkt nicht zugesagt werden. Eine Buchpublikation der Beiträge wird angestrebt.

Programm

Kontakt

Linn Burchert: linn.burchert@hu-berlin.de
Dorothea Rebecca Schönsee: dorothea.rebecca.schoensee@univie.ac.at


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