Angst und Regression: gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven

Angst und Regression: gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven

Veranstalter
Institut für Soziologie der JLU Gießen
Veranstaltungsort
Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2018 - 07.12.2018
Deadline
15.08.2018
Website
Von
Susanne Martin & Thomas Linpinsel

In der jüngeren Vergangenheit rückt Angst wieder verstärkt in den Fokus der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Ob im Kontext allgemeiner Zeitdiagnose (Bude 2014), als Erklärung für den Aufstieg des deutschen Rechtspopulismus (Amann 2017), als Triebfeder der neuen staatlichen Sicherheitsmaßnahmen und Überwachungsstrategien (Strasser 2013), als zentrales Element der medialen Inszenierung von Terror und Amok (Kahr/Robertz 2016) oder in den Debatten um neue Biotechnologien, Bioökonomie und Nachhaltigkeit (Gottwald/Krätzer 2014) – stets wird der Angst eine neue gesellschaftliche Funktion und Relevanz zugeschrieben. In der Auseinandersetzung mit neuen spätmodernen Gefahren hat sich in den 1980er Jahren zunächst der Begriff „Risiko“ durchgesetzt und als Zeitdiagnose eine erstaunliche Karriere gemacht. Damit war stets eine offengehaltene Ambivalenz zwischen neuen Gefahren und gesellschaftlichen, politischen und technologischen Entwicklungschancen verbunden. Gerade die Einsicht in und Beherrschbarkeit von genuin modernen Gefahren verspreche einen weiteren gesellschaftlichen Modernisierungsschub. Inzwischen dominiert in den öffentlichen Diskussionen ebenso wie in den gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Fachdebatten der Begriff der Angst. Vollzieht sich damit ein Deutungswandel, der neue Gefahren mit Angst (statt mit Risiko) und daher weit eher mit gesellschaftlicher Regression denn mit Entwicklungs- und Handlungschancen verbindet? Oder bedeutet der Konnex Angst/Regression bereits eine Vereinseitigung, die nicht-regressive Potenziale von Ängsten vernachlässigt?
Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt unseres Workshops, in dem wir in unterschiedlichen thematischen Blöcken fragen, wie diese begriffliche Verschiebung hin zur Angst gesellschafts- und kulturtheoretisch zu deuten ist. Dabei verfolgen wir die Spur der Angst in drei Themengebieten:

1. Kulturelle und mediale Repräsentationen/Inszenierungen von Angst
Kulturhistorische Studien legen mitunter den Schluss nahe, dass Angst ein wesentlicher Antrieb kultureller Entwicklungen und Leistungen sei. Dies bezeugen nicht zuletzt Literatur, Film, Kunst und Musik, in denen Angst ein wiederkehrendes Motiv darstellt. Aber auch und besonders die (Massen-)Medien greifen das Phänomen der Angst in den letzten Jahren wieder verstärkt auf und initiieren mal mehr, mal weniger explizit Angstdebatten. Jüngstes Beispiel ist die Berichterstattung über Terror und Amok, die sich immer deutlicher zu einer medialen Inszenierung der Angst entwickelt. Auch die massenhafte Verbreitung und Thematisierung von „Fake-News“ hat Angst im Journalismus zu einem allgegenwärtigen Phänomen gemacht. Und ebenso deutlich lebt der nach wie vor expandierende Markt der Ratgeberliteratur von der Thematisierung und Inszenierung spätmoderner Alltagsängste. Für diesen Themenbereich sind wir an theoretischen und empirischen Arbeiten zum Phänomen der Angst in der kulturellen und medialen Öffentlichkeit interessiert. Besonders willkommen sind Beiträge, die einen Anschluss an die kulturtheoretische Diagnose einer Rückkehr der Angst in die spätmoderne Gesellschaft erlauben.

2. Angst im Kontext von Staat und Politik der Gegenwart
Dass Angst zu einem politischen Phänomen ersten Ranges geworden ist, spiegelt sich nicht nur in den politischen Auseinandersetzungen um Freiheit und Sicherheit, sondern auch in der gegenwärtigen Wiederkehr des Staates. War lange Konsens, dass zumindest der klassische Nationalstaat an sein historisches Ende gekommen sei, erleben wir nun in Form von Rettungsschirmen, Grenzkontrollen und neuen staatlichen Polizeistrategien eine unübersehbare Renaissance (national-)staatlichen Handelns. In der Regel wird diese Form staatlichen Handelns über Angst – vor dem Marktversagen, dem Verlust des eigenen Vermögens, den Fremden oder der persönlichen Unversehrtheit – legitimiert. Aber auch der gegenwärtige europäische Rechtspopulismus ist in vielfältiger Weise ein Produkt neuer Angst-Politik. Dass sich hier eine bis dato politisch nicht vernommene Angst ausdrücke, ist sowohl Teil der Selbstbeschreibung populistischer Parteien und Akteur*innen als auch zentraler Topos der sozialwissenschaftlichen Erklärungen des Aufstiegs rechtspopulistischer Bewegungen in Europa. Zu diesem Themenbereich sind insbesondere Beiträge aus der Politischen Theorie, der Gesellschaftstheorie und Staatstheorie erwünscht, die sich mit der Bedeutung und Funktion von Angst in Staat und Politik der Gegenwart befassen.

3. Angst im Kontext von Biotechnologie, Bioökonomie und Nachhaltigkeit
Am Anfang der Risikogesellschaft stand die ökologische Frage – in diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit neuen gesellschaftlichen Gefahren stark auf die Natur bezogen. Nachdem lange die Grenzen der industriellen Lebensweise im Mittelpunkt dieser Debatten standen, beziehen sich die Angstszenarien im semantischen Horizont des Naturbegriffs aktuell stärker auf die biotechnologische Verfügbarkeit über das Leben. Vor allem aber haben sich die Diskurse, ob im Zusammenhang mit Klimawandel oder Bioökonomie, von klassischen Risiko- zu Angstdiskursen gewandelt. Zeichneten sich die Risikotheorien noch durch ihre Ambivalenz gegenüber spätmodernen Gefahren aus, die zwischen Modernisierungshoffnung und ängstlicher Verweigerung changierte, scheinen sich die gegenwärtigen Debatten nur noch auf eine der beiden Positionen – und dann in Vehemenz – zu beziehen. Für diesen Themenbereich sind Beiträge willkommen, die die Transformation von Risiko zu Angst am Beispiel gesellschaftlicher Naturverhältnisse empirisch und/oder theoretisch deuten und analysieren.

Wir freuen uns über Abstracts von max. 1 Seite bis zum 15.08.2018 an:
Susanne.Martin@sowi.uni-giessen.de & Thomas.Linpinsel@sowi.uni-giessen.de

Literatur:
Amann, Melanie (2017), Angst für Deutschland. Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert, München
Bude, Heinz (2014), Gesellschaft der Angst, Hamburg
Gottwald, Franz-Theo/Krätzer, Anita (2014), Irrweg Bioökonomie. Kritik an einem totalitären Ansatz, Berlin
Kahr, Robert/Robertz, Frank J. (Hg) (2016), Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus. Zur medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt, Wiesbaden
Strasser, Johano (2013), Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit, Gütersloh

Programm

Kontakt

Thomas Linpinsel

Karl-Glöckner-Str. 21E
35394 Gießen
+49 641 99-23226

thomas.linpinsel@sowi.uni-giessen.de