Materielle Kulturen der Psychiatrie

Materielle Kulturen der Psychiatrie

Veranstalter
Dr. Monika Ankele, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, und Prof. Benoît Majerus, Centre for Contemporary and Digital History, Universität Luxemburg
Veranstaltungsort
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.05.2018 - 04.05.2018
Deadline
15.12.2017
Von
Dr. Monika Ankele, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Hamburg

Objekte wie Zwangsjacken, Gitterbetten und Fixiergurte prägen bis heute unsere Vorstellungen von psychiatrischen Einrichtungen und ihrer Geschichte. Es sind wirkmächtige Objekte, die oft stellvertretend für den historischen Ort der Psychiatrie und den Umgang mit Menschen an diesem Ort stehen. Doch was wissen wir tatsächlich über das soziale Leben (vgl. Majerus 2011) dieser und auch weniger herausragender Objekte im Alltag psychiatrischer Institutionen sowie allgemein über die materiellen Kulturen der Psychiatrie?

Der Begriff der „materiellen Kulturen“ wird im Rahmen des Workshops weit gefasst und im Plural gesetzt. Er bezieht sich nicht ausschließlich auf medizinische Objekte, Objekte der Pflege oder therapeutische Objekte, sondern er umfasst auch alltagskulturelle Dinge und Materialien, die am Ort der Psychiatrie eine Transformation erfahren und Teil ihrer spezifischen kulturellen Praxis werden: Nicht nur ein Bett ändert am Ort der Psychiatrie seine Bedeutung, sondern auch Blumen, ein Spiegel oder eine Decke. Darüber hinaus schließt der Begriff der „materiellen Kulturen“ auch Phänomene mit ein, die materielle Dimensionen entfalten, wie Luft, Licht, Farbe oder Klang (vgl. Kalthoff u.a. 2016). Die Verwendung des Begriffs im Plural soll Aufmerksamkeit für die verschiedenen, oft konkurrierenden kulturellen Praktiken schaffen, die sich am Ort der Psychiatrie über die jeweils spezifische Aneignung und Funktionalisierung von Objekten oder Materialien durch die PatientInnen, Pflegenden und ÄrztInnen ausbilden. Das beinhaltet auch Fragen, inwieweit die materiellen Kulturen sowohl Einfluss auf therapeutisches Handeln, als auch auf die Produktion von Wissen nahmen.

Objekte als Akteure
Indem Objekte sowohl stabilisierend, als auch destabilisierend und transformierend auf die Praxis einwirken können, indem sie soziale Beziehungen organisieren, Praktiken (ihrer Nutzung) vorgeben oder nahelegen, auf Machtverhältnisse einwirken und spezifische Selbst- und Fremdverhältnisse ausbilden, können sie als Akteure beschrieben und sollen als solche an konkreten Beispielen aus der Geschichte der Psychiatrie untersucht werden.

Formen der Aneignung und Enteignung
Werke von PatientInnen in historischen Sammlungen wie der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg oder der Sammlung Morgenthaler in Bern legen ein eindrückliches Zeugnis davon ab, wie sich PatientInnen die Materialien, die sie in der Psychiatrie vorfanden, aneigneten: seien es Stoffreste, Zeitungsausschnitte, Bettfedern u.v.m. Diese Werke sind Teil einer materiellen Kultur der Psychiatrie, deren Spuren sie tragen. Aber auch therapeutische Objekte oder Objekte der Pflege unterlagen Prozessen der Aneignung, nicht nur auf Seiten der PatientInnen, sondern auch der Pflegenden und ÄrztInnen. Parallel dazu unterlagen sowohl die von PatientInnen gestalteten Werke, aber auch persönliche Gegenstände einer Enteignung, wurden als Symptome einer Krankheit gedeutet und für die Ausbildung neuer (Macht-)Beziehungen funktionalisiert.

Szenographie der Dinge
Im Theater ist mit dem Begriff der Szenographie die Gestaltung des Bühnenbildes gemeint. Im Rahmen des Workshops lenkt der Begriff die Aufmerksamkeit auf die Anordnung von Menschen und Dingen in Räumen sowie auf die Handlungsscripts, die dem Objekt eingeschrieben und die es durch die szenographische Orchestrierung des Raumes (sei es ein Krankensaal, ein Tagesraum oder ein Flur) zur Aufführung bringen soll. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, wie Objekte durch ihr spezifisches im Raum Sein Wahrnehmung, Kommunikation und Bewegungen der AkteurInnen strukturieren und auf die Ausgestaltung von Beziehungen und damit auch auf Machtverhältnisse im Raum einwirken.

Transformationen
Wodurch erhielten Objekte der Therapie, der Pflege sowie alltagskulturelle Objekte, Materialien und materielle Phänomene am Ort der Psychiatrie ihre spezifischen Bedeutungen für die jeweiligen AkteurInnen? Welche Transformationsprozesse durchliefen sie? Und welchen Wandel erfuhren Objekte durch die Erfahrungen, die in der Praxis im Zuge ihrer Anwendung gewonnen wurden? Darüber hinaus sollen ausgewählte Objekte als Schnittstellen untersucht werden, an denen sich Denk- und Handlungsweisen kreuzten, verdichteten, verschoben, materialisierten.

Ökonomien
Eine Analyse der materiellen Kulturen der Psychiatrie muss auch Bezug auf Fragen der Ökonomie nehmen, wobei der Begriff der Ökonomie auf unterschiedliche Bereiche Anwendung finden kann: er umfasst sowohl die Anstaltsökonomie, als auch personale Ökonomien, wie Austauschprozesse mit anderen Personen, das sparsame Umgehen mit vorhandenen Materialien etc. Wie beeinflussten ökonomische Verhältnisse die materiellen Kulturen der Psychiatrie und wie wirkten diese wiederum auf die Anstaltsökonomie zurück?

Wir suchen Beiträge, die Objekte der Psychiatrie in ihrer sozialen und kulturellen Gemachtheit, ihrer Relationalität und Bedeutungsvielfalt, ihren „Aktionsmöglichkeiten“ (Frank u.a. 2007: 8) und ihrem Eingebundensein in Handlungsabläufe, ihren ökonomischen Abhängigkeiten, ihrem Gestaltungspotenzial sozialer und räumlicher Beziehungen, ihrem Bezug zu spezifischen (Wissens-)Praktiken und Diskursen sowie ihrem Verhältnis zu Machtstrukturen analysieren.

Gleichwohl wissenschaftliche Ansätze, die das Objekt als Akteur beschreiben, im Zuge des „material turn“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften eine Konjunktur erleben und auch von der Medizingeschichte aufgegriffen werden, bleibt ihr erkenntnistheoretisches Potenzial für den Bereich der Psychiatriegeschichte noch weitgehend ungenutzt. Materielle Aspekte der Psychiatrie werden bislang vor allem dann thematisiert, wenn es beispielsweise um schriftliche Quellen (Engstrom 2006; Ledebur 2011), experimentalpsychologische Apparate (Schäfer 2006) oder architektonische Konzepte (Topp 2017) geht. Eine umfassende Analyse des Materialen psychiatrischer Kulturen steht noch aus.

Wir freuen uns über Beiträge, die von konkreten Objekten, Materialien oder materiellen Phänomenen ausgehen und innovative Perspektiven und Fragestellungen für das Forschungsfeld der materiellen Kulturen der Psychiatrie entwickeln.

Als mögliche Untersuchungsgegenstände bieten sich unter anderem folgende Objekte und materielle Phänomene an: Betten, Bäder, Türen, Flure, Wände, Wandschirme, Tische, Stühle, Nachttische, Badewannen; Werkzeuge, (Blech-)Geschirr, Besteck; Mauern, Gitter, Zäune, Fenster; eine Kegelbahn; Schlüssel und Schlösser; Bilder, Bücher, Pflanzen, Blumen, Spiegel; Licht, Dunkelheit, Wasser, Elektrizität, Gerüche, Geräusche, die Farbe Weiß; Spritzen, Nadeln, Schlaf- und Beruhigungsmittel, Pillen, Zwangsjacken, Fixiergurte, Tablettenpresse; Decken, Kissen, Leintücher, Kleidung, Stoffe; Stroh, Seegras, Papier, Rosshaar, Verpackungsmaterialien; Telefon, Uhr, Stechuhr, Schreibmaschine, Kittel; Essen etc.

Von den einzelnen Beiträgen des Workshops ausgehend, wollen wir auch Fragen nach der Bedeutung und dem möglichen Mehrwert des „material turn“ für die Psychiatriegeschichte diskutieren: Welches erkenntnistheoretische Potenzial birgt eine Analyse des Materialen für die Psychiatriegeschichte? Welche Ergänzungen, Verschiebungen, vielleicht auch Korrekturen bisheriger Forschungen wären durch eine entsprechende Perspektive von den Objekten aus möglich? Welche bislang unbeachtet gebliebenen AkteurInnen, Praktiken und Interaktionen rücken durch die Bezugnahme auf die materiellen Dimensionen psychiatrischer Praxis in den Vordergrund? Und welche neuen Perspektiven auf die Psychiatrie als Institution eröffnen sich dadurch?

Unkonventionelle Zugänge sowie Präsentationen abseits des klassischen Vortrags oder auch künstlerische Arbeiten sind durchaus willkommen. Ihren Abstract (max. 2.000 Zeichen mit Leerzeichen) richten Sie bitte bis zum 15. Dezember 2017 mit einem kurzen CV an m.ankele@uke.de.

Der Workshop findet im Rahmen des DFG-Projektes „Bett und Bad: Objekte und Räume therapeutischen Handelns in der Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts“ (Projektleitung Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach) statt. Die Übernahme der Reise- und Übernachtungskosten kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht definitiv zugesichert werden.

Darüber hinaus ist eine Publikation der Workshopbeiträge geplant. Um eine rasche Veröffentlichung gewährleisten zu können, ist die Abgabe der fertigen Beiträge im Umfang von 15 bis 20 Seiten für den 10. Juli 2018 vorgesehen.

Literatur:
Frank, Michael C./Gockel, Bettina/Hauschild, Thomas/Kimmich, Dorothee/Malke, Kirsten: Fremde Dinge – zur Einführung. In: Dieselben (Hg.): Fremde Dinge. (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1) Bielefeld 2007, S. 9-16.
Ledebur, Sophie: Schreiben und Beschreiben. Zur epistemischen Funktion von psychiatrischen Krankenakten, ihrer Archivierung und deren Übersetzung in Fallgeschichten. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), S. 102‐124.
Schäfer, Armin: Lebendes Dispositiv. Hand beim Schreiben. In: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien. Zürich, Berlin 2006, S. 241-265.
Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias: Einleitung. Materialität in Kultur und Gesellschaft, in: Dieselben (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2016.
Majerus, Benoît: La baignore, le lit et la porte. La vie sociale des objets de la psychiatrie, in: Genèses 2011/1 (82), S. 95-119.
Topp, Leslie: Freedom and the Cage: Modern Architecture and Society in Central Europe 1890-1914, Penn State University Press 2017.

Dr. Monika Ankele
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (Geb. N30b)
Martinistraße 52
20246 Hamburg
m.ankele@uke.de

Prof. Benoît Majerus
Université du Luxembourg  
Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History
Maison des Sciences Humaines
11, Porte des Sciences
L-4366 Esch-sur-Alzette
benoit.majerus@uni.lu

Programm

Kontakt

Dr. Monika Ankele
m.ankele@uke.de

https://www.uke.de/kliniken-institute/institute/geschichte-und-ethik-der-medizin/index.html