Die „Volksgemeinschaft“ war ein Leitbegriff des „Dritten Reiches“. Dahinter verbarg sich auch das Ziel der NSDAP, den „deutschen Arbeiter“ unter vorgeblicher Überwindung der Klassengegensätze in eine neue Gesellschaftsordnung einzubinden. Daher musste der Nationalsozialismus, insbesondere in der industriellen Arbeitswelt und dort konkret im Betrieb, seine gesellschaftspolitische Gestaltungskraft unter Beweis stellen, seine sozialen Versprechungen realisieren und seiner „Volksgemeinschafts“-Vision Taten folgen lassen – immer mit Blick auf eine Bevölkerungsgruppe, in der die NSDAP vor 1933 unterdurchschnittliche Zustimmungswerte aufgewiesen hatte.
Ausgehend von diesen Überlegungen wird im Herbst 2017 in Gelsenkirchen eine Tagung unter dem Titel „Industrielle Arbeitswelt und Nationalsozialismus“ stattfinden, in deren Mittelpunkt der Zusammenhang zwischen „Betriebsgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“ steht. Ziel ist es, klassische Forschungsperspektiven auf die Geschichte der NS-Gesellschaft mit den neueren Ansätzen der Debatte um die NS-„Volksgemeinschaft“ zu verbinden und neue Fragestellungen zur nationalsozialistischen Arbeiter- und Industriepolitik zu entwickeln. Insbesondere sollen dabei überdies Kontinuitäten im Zeitraum zwischen 1920 und 1960 Berücksichtigung finden. Es sollten also beispielsweise die Interessenlage der Ruhrindustrie in den 1920er Jahren und deren Experimente mit neuen Formen der Betriebsführung ebenso zur Sprache kommen wie die Konsequenzen, die die „Volksgemeinschafts“-Ideologie und die mit ihr verbundenen Visionen für die Industriepolitik in den Jahren des „Wirtschaftswunders“ zeitigten.
Der Fragehorizont der Tagung orientiert sich gleichzeitig an der „neuen Geschichte der Arbeit“, die sich seit der Jahrtausendwende als Forschungsparadigma etabliert hat. Die „neue Geschichte der Arbeit“ fragt nach der Rolle von Deutungen und Diskursen, Wissen und Wissenschaft für den Arbeitsprozess; gleichzeitig geht es um symbolische Handlungen, Artefakte und (soziale) Räume. Diese Perspektiven sollen mit der Geschichte der Betriebspolitik und Arbeitsgestaltung im Nationalsozialismus gleichsam in einen Dialog eintreten. Konkret auf die nationalsozialistischen Konzepte bezogen soll es darum gehen, eine Erfahrungsgeschichte und eine Geschichte der Wahrnehmungsmuster der industriellen Arbeitswelt zu rekonstruieren sowie die praktischen Rahmungen in den Blick zu nehmen, die unterschiedliche Akteure dem Betrieb bzw. der „Betriebsgemeinschaft“ verliehen. Dabei soll nach dem Wandel von Orientierungsmustern, insbesondere des Leistungsbegriffs, der Bedeutung materieller und nicht-materieller Anreizstrukturen sowie der markanten Ausweitung betrieblicher Interessenfelder gefragt werden, auch und gerade im Bereich der Reproduktionssphäre (z. B. Körperpolitik, Konsum und Freizeit, Wohnungs- und Siedlungsbau). Ebenso können die Rolle bestimmter Gruppen innerhalb der Belegschaft (u.a. Facharbeiter, Frauen, Alte oder Jugendliche), Inklusions- und Exklusionsmechanismen der „Betriebsgemeinschaft“ und die Bedeutung von „NS-Musterbetrieben“ und industriellen Musterstädten bzw. -siedlungen thematisiert werden.
Reise- und Unterbringungskosten für Referentinnen und Referenten werden übernommen. Interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind aufgerufen, bis zum 30. April 2017 eine kurze Ideenskizze (max. 400 Wörter) einzureichen.