Geschichte von Taubheit im deutschsprachigen Raum: Transnationale Perspektiven

Geschichte von Taubheit im deutschsprachigen Raum: Transnationale Perspektiven

Veranstalter
Anja Werner, Marion Schmidt
Veranstaltungsort
Ort
Halle an der Saale / Freiburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.12.2016 -
Website
Von
Marion Schmidt

In der hörenden deutschen Öffentlichkeit sind Gehörlosenkultur, Gehörlosengeschichte und Gebärdensprache noch immer Randthemen. Viele hörende Menschen reagieren mit Unverständnis oder Erstaunen darüber, dass sich die Gehörlosengemeinde nicht als behinderte, sondern als kulturelle Minderheit versteht. Ein Grund dafür ist die in Deutschland lange besonders stark verwurzelte orale Tradition, d.h. die Vermittlung von Lautsprache und Lippenlesen. Dieser in der Vergangenheit auch als „deutsche Methode“ bezeichnete Ansatz setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als international richtungsweisend in der Gehörlosenbildung gegenüber der „französischen Gebärdenmethode“ durch. Im frühen 20. Jahrhundert beeinflussten eugenische Ideen die fachlichen Diskurse und Publikationen in Deutschland ein, wodurch Gehörlosigkeit verstärkt pathologisiert und Gebärdenkultur abgewertet wurden. Zwischen 1933 und 1945 wurden ca. 17.000 hörgeschädigte Menschen unter dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zwangssterilisiert. Zwar wurde diese Geschichte nach 1945 in Anfängen aufgearbeitet, doch gibt es bis heute noch immer nur sehr wenige Studien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven auf die Geschichte von Gehörlosigkeit insbesondere im deutschsprachigen Raum. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen bisher praktisch keine Studien vor. Gerade in diesem Zeitraum ist in der Forschung zu Sprachtheorie und Spracherwerb, der Gehörlosenpädagogik und der Wahrnehmung von Gehörlosigkeit aber viel in Bewegung geraten, nicht zuletzt durch die Einflüsse der amerikanischen Gehörlosenbewegung. Letztere hat in den vergangen 30 Jahren große Fortschritte dabei gemacht, Gehörlosenkultur und amerikanischer Gebärdensprache (ASL – American Sign Language) eine größere gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen.

Das Ziel unseres geplanten Sammelbands ist es, die „orale Tradition“ in Deutschland und im deutschsprachigen Raum seit Gründung der ersten deutschen Gehörlosenschule 1778 in Leipzig kritisch zu hinterfragen, bisher vernachlässigte Ansätze der Gebärdensprachnutzung und -forschung aufzuzeigen und verschiedene Formen von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven bis zur Gegenwart darzustellen. Dabei sind uns vergleichende Ansätze zu früheren Epochen oder aus anderen Ländern ebenfalls sehr willkommen. Welche historischen und sozialen Faktoren beeinflussten im Laufe der vergangenen Jahrhunderte die Wahrnehmung von gehörlosen Menschen, Taubheit und Gebärdensprachen in Gesellschaft, Wissenschaft und Medizin? Hier ist zum Beispiel zu denken an die langen Folgen der nationalsozialistischen Politik der Ausrottung von Behinderung, aber auch allgemeiner an das Verständnis nationaler Leitkultur und die Rolle von Minderheiten und Minderheitenbewegungen, Migranten oder Behinderten, und, nicht zuletzt, die Einflüsse medizinisch-technologischer Neuerungen wie z. B. Cochlea-Implantate. Damit stellt sich auch die Frage, wie sich das Verhältnis von hörenden Experten (z.B. Pädagogen, Medizinern, Genetikern) und Institutionen wie Gehörlosenschulen auf der einen und Gehörlosen und Gehörlosengemeinde(n) auf der anderen Seite im Lauf der Zeit veränderte. Solche „Innen-“ und „Außenperspektiven“ zusammenzubringen, und den Austausch und Konflikt zwischen „Laien-“ und „Expertenwissen“ zu analysieren ist ein explizites Ziel unseres Sammelbandes.

Von besonderem Interesse ist für uns die Frage, inwiefern die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum mit denen in anderen Ländern korrespondieren. Welchen Einfluss hatten und haben z. B. die Gehörlosenbewegungen anderer Länder auf die Lage in Deutschland? Hier ist vor allem der internationale Austausch zwischen US-amerikanischen und internationalen Gehörlosenaktivisten von großem Interesse, insbesondere auch Beiträge über die Rolle des Internets zur internationalen Vernetzung gehörloser Menschen. Besondere Räume für Gehörlosenkultur und Gebärdensprache wie die Gallaudet University als ein internationales Zentrum der Gehörlosenkultur und deren Einfluss auf gehörlose Wissenschaftler und Aktivisten sollen ebenfalls Eingang in unseren Sammelband finden.
Beiträge gehörloser Wissenschaftler und von Experten, die der gebärdensprachlichen Gehörlosenkultur nahestehen, sind ausdrücklich erwünscht, ebenso wie Beiträge, die sich mit oralen und medizinischen Traditionen und Perspektiven auseinandersetzen. Auch für vergleichende Perspektiven auf Schwerhörigkeit sind wir offen. Die Herausgeber selbst sind hörend. Mit einem historisch-komparativem Ansatz möchte der geplante Sammelband die vielfältige Geschichte von Taubheit bzw. Hörschädigung aus unterschiedlichen Perspektiven vorstellen und diskutieren. Damit möchten wir interessierten Laien und Experten Einblicke geben in die Gehörlosengeschichte als Geschichte einer bisher wenig beachteten Minderheit, deren Kultur und Sprache zu einer diverseren Kulturgeschichte Europas beitragen.

Beiträge von max. 12.000 Wörtern Länge sollte bis zum Sommer 2017 fertiggestellt werden. Der Sammelband soll in deutscher Sprache erscheinen; Übersetzungen einzelner Beiträge aus dem Englischen ins Deutsche sind möglich.
Vorschläge für mögliche Beiträge von nicht mehr als 500 Wörtern Länge inklusive Titel in englischer oder deutscher Sprache sollten bis 30. Dezember 2016 an die Herausgeberinnen geschickt werden:

Dr. Marion Schmidt (mschmi34@jhmi.edu)
Dr. Anja Werner (anja.werner@medizin.uni-halle.de)

Programm

Kontakt

Dr. Marion Schmidt (mschmi34@jhmi.edu)

Dr. Anja Werner (anja.werner@medizin.uni-halle.de)


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