Gesellschaftswandel und Modernisierung, 1800–2000. Autoren-Workshop des Archivs für Sozialgeschichte

Gesellschaftswandel und Modernisierung, 1800–2000. Autoren-Workshop des Archivs für Sozialgeschichte

Veranstalter
Friedrich-Ebert-Stiftung, Archiv für Sozialgeschichte
Veranstaltungsort
Konferenzsaal 4
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2016 - 28.10.2016
Deadline
21.10.2016
Website
Von
Philipp Kufferath

Die Unterschiede zwischen den Gesellschaften im Jahr 2000 und um 1800 sind kaum zu ignorieren. Eine vornehmlich agrarische Produktionsweise wandelte sich zu einer industriellen, seit etwa 1970 gewinnen post-industrielle, wissensbasierte Erwerbsformen an Bedeutung. Dominante Institutionen um 1800 waren multifunktionale Körperschaften wie Gilden, Zünfte, Landbesitzer, Kirchen und Monarchien, die den Einsatz von Arbeit und Kapital regulierten, Gerichte erschlossen und in der Erziehung tätig waren. Sie wurden durch Vereine und formale Organisationen ersetzt, die als Unternehmen, Gewerkschaften oder Schulen speziellen Zwecken nachgehen. In der Politik wurden ständisch privilegierte Körperschaften wie Höfe, Gutsherrschaften und städtische Räte durch inklusive, horizontal integrierte politische Institutionen wie gewählte Parlamente und fachlich vorgebildete Verwaltungen ersetzt. Der Nationalstaat wurde zur wichtigsten Basis politischen Handelns. Generell haben sich die Muster sozialer Differenzierung in Richtung größerer Komplexität und weiterer funktionaler Differenzierung entwickelt. Zugleich herrscht das Verständnis vor, dass nationale Gesellschaften durch Elemente einer gemeinsamen Kultur geprägt sind, und in zwar in einer Weise, die in einer durch Privilegien geprägten Gesellschaft nicht möglich war.
Die Sozialgeschichte hat zwischen 1960 und 1990 große Fortschritte im Verständnis wichtiger Elemente dieses Wandels gemacht, oft im Dialog mit Soziologen und Politikwissenschaftlern. Dabei gab es nur wenige Historiker, die ganz explizit von einer Sozialgeschichte einzelner Gruppen oder Klassen oder spezifischer sozialer Felder wie dem sozialen Konflikt zu einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte vordringen wollten, welche die Verbindungen zwischen sozialen Handlungsfeldern analysiert und diese im Zusammenhang sieht. Wichtig in diesem Zusammenhang waren die Bücher von Eric Hobsbawm und Hans-Ulrich Wehler. Nach 1990 wurden diese Versuche durch den Boom der Kulturgeschichte überholt. Viele ihrer Protagonisten sehen die Analyse sozialen Wandels als nutzlos oder gar unmöglich an, weil dieses Vorhaben angeblich separate Phänomene in eine begriffliche Zwangsjacke presse oder weil es auf der Illusion basiere, es gebe so etwas wie eine »Gesellschaft«, die Historiker analysieren könnten.
Die Modernisierungstheorie – sowohl Versuche einer Gesellschaftsgeschichte als auch marxistische Interpretationen der Modernisierung – ist aus der Mode gekommen. »Modernisierung« wird mit Vorstellungen wie dem »Aufstieg des Westens« oder dem optimistischen Glauben daran assoziiert, dass der in den Gesellschaften des Westens verkörperte »Fortschritt« im Rest der Welt praktisch werden könne. Nach der Ernüchterung durch das massenhafte Sterben zwischen 1914 und 1945 erhielten solche Vorstellungen neue Attraktivität mit dem globalen Wettbewerb zwischen den USA und der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg. Theorien der Modernisierung – im Unterschied zu speziellen Deutungen der Liberalisierung, Demokratisierung oder Industrialisierung – wurden in den USA als eine Gegenfolie zum sowjetischen Modell entwickelt, das den Einparteienstaat und die Kommandowirtschaft als Weg sah, um die »Dritte Welt« aus der Rückständigkeit herauszubringen. Diese konkurrierenden Modelle haben ihre Spuren in der Arbeit der Historiker hinterlassen.
Die Fehler beider Modernisierungsprojekte waren nach 1970 deutlich sichtbar, und auch die Defizite der Modernisierungstheorie. Verschiedene Stränge der Kritik wurden entwickelt. Relativ begrenzt war das Modell der »multiple modernities«, das an der Perspektive der Modernisierung festhielt, aber eine größere Zahl von Wegen postulierte, auf dem sie erreicht werden konnte. Verbreiteter war der kulturelle Pessimismus, der die Moderne stets begleitet hat. Schließlich gab es eine Kritik, die über eine Problematisierung der Wertladung der Moderne oder ihrer möglichen globalen Diffusion hinausging. Sie verneinte, dass es einen Prozess der Modernisierung gibt.
Jede historische Forschung, die mehr als antiquarisch sein will, arbeitet mit Annahmen, die in Begriffen und Theorien begründet sind, die es dem Historiker erst möglich machen, Fragen zu stellen, Evidenzen auszuwählen und zu organisieren und Darstellungen zu verfassen. Die Diskreditierung der Modernisierungstheorie hat die Historiker einer wichtigen Spannbreite von Konzepten beraubt, mit denen sich sozialer Wandel verstehen lässt. Es ist deshalb angezeigt, eine Diskussion darüber zu führen, welche dieser Konzepte sich sinnvoll in die Praxis der Geschichtsschreibung zur Zeit ab 1800 wieder einfügen lassen, und wie das Konzept der Gesellschaftsgeschichte in einem Dialog zwischen Befürwortern und Kritikern der Modernisierungstheorie fortentwickelt werden kann.
Der geplante Band 57 (2017) des Archivs für Sozialgeschichte wird der Frage nachgehen, wie die weitgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seit 1800 in historischer Perspektive begriffen werden können, und zwar als eine Abfolge distinkter, analytisch und empirisch nachvollziehbarer Prozesse und damit ohne den normativen Ballast von Vorstellungen wie der eines »Fortschritts«.

Programm

PROGRAMM

27. Oktober 2016

10.30 Uhr
Tagungsanmeldung

11.00 Uhr
Begrüßung und Einführung
Philipp Kufferath, Berlin; Benjamin Ziemann, Sheffield

11.15 Uhr
Soziale Ungleichheit und Gesellschaftlicher Wandel
Christoph Weischer, Münster

Kriegerische Gewalt und Dynamik der Bürgerkriege in den Peripherien. Über den Mythos der Globalen Moderne
Markus Holzinger, Göttingen

Saving Social History from Itself. Moving on from Modernization
Peter van Dam, Amsterdam

Moderation: Friedrich Lenger, Gießen

13.00 Uhr
Mittagessen

14.00 Uhr
*Funktionale Differenzierung im Horizont religiöser Milieus. Zur Verortung älterer katholischer und jüngerer migrantischer
Milieus in der Struktur der Gesellschaft*
Marc Breuer, Paderborn

Differenzen und Diskontinuitäten. Innereuropäische Migration und gesellschaftliche Modernisierung 1815–1871
Levke Harders, Bielefeld

Politisierung als heterogener Prozess. Die Transformation der Politik im ländlichen Raum zwischen Gouvernementalisierung, Habitualisierung und Kontingenzerfahrung (ca. 1850–1950)
Anette Schlimm, München

Moderation: Anja Kruke, Bonn

15.45 Uhr
Kaffeepause

16.15 Uhr
Towards a Weltgesellschaftsgeschichte? Functional Differentiation and Legal System in the Chilean Frontier, 1818–1890
Manuel Bastias-Saavedra, Frankfurt am Main

Modernisierung durch Territorialität? Das Habsburgerreich als moderner Staat 1848–1910
Wolfgang Göderle, Graz

Moderation: Beatrix Bouvier, Bonn

18.00 Uhr
Kaffeepause

18.30 Uhr
*Öffentlicher Abendvortrag:
Ordnungssysteme und Basisprozesse in der Moderne. Konzepte für eine Sozialgeschichte langfristiger Trends und struktureller Brüche seit 1800*
Lutz Raphael, Trier

Moderation: Benjamin Ziemann, Sheffield

28. Oktober 2016

9.00 Uhr
Körper, Materialität und Nation. Geschlecht und Moderne im 19. Jahrhundert
Hedwig Richter, Hamburg

(Un-)Ordnungen in der mobilen Moderne. Grenzüberschreitungen von Paaren als nationalstaatliche Herausforderung (1900–1930)
Christoph Lorke, Münster

Die Rückkehr des Staates in das Private am Beispiel der häuslichen Gewalt in der Bundesrepublik und den USA 1950–2000
Michael Mayer, Tutzing

Moderation: Ute Planert, Köln

10.45 Uhr
Kaffeepause

11.15 Uhr
Organisation der Gesellschaft oder Ökonomisierung des Sozialen? Administrative Modernisierung und Finanzwirtschaft in Deutschland und Frankreich seit den 1930er-Jahren
Stefanie Middendorf, Halle (Saale)

Die Modernisierung der menschlichen Psyche durch forcierten sozialen Wandel. Entwicklungskonzeptionen westdeutscher Unternehmer in der Phase der Modernisierungseuphorie (1950–1970)
Stefan Dörre, Berlin

Vom Nutzen des Neo-Tribalismus als interpretativer Zugang zu Gesellschaftswandel und Modernisierung seit den 1980er-Jahren
Massimiliano Livi, Münster

Moderation: Dietmar Süß, Augsburg

13.00 Uhr
Abschlussdiskussion

13.30 Uhr
Ende des Workshops
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Weitere geplante Beiträge für den Band:

Nationalism and Modernisation Theory
John Breuilly, London

Modernisierungstheorie revised. Das Theorem der funktionalen Differenzierung als Kernelement modernisierungstheoretischer Ansätze
Detlef Pollack, Münster

Ireland: A Crucible of Modernity
Enda Delaney, Edinburgh

Kontakt

Friedrich-Ebert-Stiftung
Archiv für Sozialgeschichte
Philipp Kufferath/Eva Váry
Godesberger Allee 149
53175 Bonn

afs@fes.de

fes.de/afs