Literatur - Avantgarde der Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa?

Literatur - Avantgarde der Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa?

Veranstalter
Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Berlin Geisteswissenschaftliches Zentrum Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, Leipzig
Veranstaltungsort
ZVGE, Koserstraße 20, 14195 Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.03.2005 - 13.03.2005
Deadline
30.05.2004
Von
Martina Winkler

Die grundlegende Frage der Tagung zielt auf eine Überprüfung der weitgehend als Prämisse, mitunter sogar als Axiom für die Betrachtung der Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas akzeptierte These von der besonderen Affinität ostmitteleuropäischer Nationen zu „ihren“ Dichtern und „ihrer“ Literatur. Im Zentrum steht davon ausgehend die Problematik der sozialhistorischen Bedeutung und politischen Funktion von Literatur in diesem Raum – eine Frage, die transdisziplinär und zumindest im Ansatz vergleichend behandelt werden soll.

Zeitabschnitte:
- die Nationsbildung im 19. Jahrhundert
- die Diktaturen des 20. Jahrhunderts
- die Wende um 1989 und postkommunistische Gesellschaften

Geographischer Raum:
- Konzentration auf den ostmitteleuropäischen Raum
- punktuelle/ausblickhafte Vergleiche zu Westeuropa als Referenzpunkt
- Hinzuziehung Russlands als Vergleichspunkt

Es sollen insbesondere folgende Kontrastbereiche und Problemfelder betrachtet werden:

1. Zum Verhältnis von Politik und Kultur:
Literatur wird für den osteuropäischen Raum gern als Ersatzdiskurs für einen nicht-vorhandenen oder unterdrückten politischen Raum gesehen. Zu fragen ist, inwiefern ein solcher Gegensatz haltbar ist.
Übernimmt die ostmitteleuropäische Literatur als „Gewissen der Nation“ Aufgaben des politischen Diskurses? Wenn ja, wo liegen die Impulse für ein solches Vorgehen bzw. für eine bewusste Absetzung von dieser Prämisse? Wie konkret prägt die Literatur politisches Handeln? Hierzu gehören z.B. die Analyse von Eliten-Debatten, soziologische Erhebungen zum Leseverhalten, rezeptionsgeschichtliche Forschungen und vor allem die Frage, inwieweit Literatur Identität und Macht konstruiert bzw. dekonstruiert. Die öffentliche Wahrnehmung von Schriftstellern in politischen Umbruchszeiten (Sturz der Diktatur) bildet an dieser Stelle einen weiteren Fragekomplex.
Ist dieser „Gegensatz“ von Literatur und Politik womöglich auf einen zu engen Begriff des Politischen zurückzuführen, d.h. ist Literatur vielleicht kein Ersatzdiskurs der Politik, sondern ein tatsächlich politischer Diskurs? Wie wird dies beispielsweise bei Diskursüberschneidungen deutlich, insbesondere bei Personen, die sowohl Schriftsteller als auch Politiker sind?

2. Zum Verhältnis von Individualität und Gesellschaft/Kollektiv:
Lesen und Schreiben sind individuelle Prozesse, die dennoch Kohärenz fördernd wirken und eine gesellschaftsgenerierende Funktion haben können. Von dieser Grundthese ausgehend, können folgende Fragen formuliert werden:
Weist dieser Zusammenhang in Ostmitteleuropa in der Tat besondere Züge auf? In welchem Kontext steht eine derart wahrgenommene Affinität zur Literatur, d.h. wie sehr wirken hier traditionelle Vorstellungen von „kleinen Nationen“, Opferidentitäten und/oder Kulturnationen? Welche Strukturen und Entwicklungen könnten für eine mögliche Besonderheit Ostmitteleuropas in dieser Hinsicht verantwortlich sein? In dieses Spektrum gehört z.B. das „Verspätungssyndrom“ (Nationswerdung) ebenso wie die Multiethnizität und Multikonfessionalität dieser Region.
Wie funktioniert gerade im 19. und 20. Jahrhundert die Konstruktion von Nation über die Idealisierung von Individuen, d.h. von empirischen Dichtern oder den von ihnen literarisch konstruierten Figuren? Hierzu zählt die Selbstdarstellung von Dichtern im Verhältnis zu ihrer öffentlichen Wahrnehmung. An dieser Stelle sollten aber auch Einblicke in die Rezeptions¬geschichte ausgewählter literarischer Protagonisten bzw. literarisierter Mythenfiguren gegeben werden.
Wie, d.h. nicht zuletzt mit welchen narrativen Mitteln, schafft ein Text Öffentlichkeit(en) und „Gesellschaft“? Wie gelingt es ihm, den Einzelnen ebenso anzusprechen wie ganze Gruppen zu konstituieren bzw. „Nichteingeweihte“ auszuschließen? Zu fragen ist hier beispielsweise nach dem Umgang mit Zensur (Doppeldeutigkeit), Ironie etc.

Die Beiträge zu den hier aufgeführten Aspekten sollen neue Impulse zum Verständnis der Entwicklung und der Grenzen von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa bieten. Indem die Literatur und die Literaten in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden, kann (und möglicherweise muss) das traditionelle Konzept des Politischen ebenso hinterfragt werden wie dasjenige der Zivilgesellschaft.

Programm

Kontakt

Martina Winkler
winkler@zedat.fu-berlin.de

www.fu-berlin.de/zvge