Der Kulturbegriff und dessen Gegenbegriff, Natur, ist im 20. Jahrhundert zu einer „key foundation of modernist epistemology“ (Descola) aufgestiegen. Die „Epistemologie der Natur-Kultur-Grenze“ (Koschorke) und die mit ihr verbundenen europäischen Mythen und Narrative stehen jedoch zunehmend in Frage. Insbesondere die Umweltanthropologie hat grundsätzliche Bedenken gegenüber ihrer Universalisierung angemeldet und auf die junge europäische Geschichte dieser Unterscheidung verwiesen. Wo und wann beginnt die Mythen-, Herkunfts-, Wissens- und Ideengeschichte der begrifflichen Entgegensetzung von Natur und Kultur? Auf den mythischen Charakter der Naturzustandskonstruktionen und Gründungsakte (Koschorke, Balke, Manow) der politischen Philosophie der Neuzeit ist schon häufig hingewiesen worden. In den einschlägigen Erzählungen Thomas Hobbes‘, John Lockes, Jean-Jacques Rousseaus und Immanuel Kants steht die Notwendigkeit der Grenzziehung zwischen Natur und Kultur und die Überschreitung dieser Grenze auf dem Spiel. Dabei handelt es sich jedoch nicht um genuine Mythenerfindungen, sondern vielmehr um Transformationen antiker (hesiodscher, protagoräischer, atomistischer, peripatetischer, epikureischer, kynischer, stoischer) Kulturentstehungsmythen und Kulturentstehungslehren.
Ein erster Schwerpunkt des Workshops bildet die Untersuchung der verschiedenen Transformationsbeziehungen und Transformationstypen zwischen neuzeitlichen und antiken Kulturentstehungsmythen. Dabei soll insbesondere die Frage im Mittelpunkt stehen, inwieweit die Kontraktualisten mit dem Rekurs auf das mythische Reservoir antiker Kulturentstehungslehren zeitgenössischen Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen Legitimation und Kritik begegnen: Herausforderungen wie die Religions- und Bürgerkriege, die Kolonisierung Amerikas vor allem mit Rindern im Kampf gegen wilde Tiere und indianische Ureinwohner, den transatlantischen Sklavenhandel, globale Handelsbeziehungen und nicht zuletzt die Entdeckung außereuropäischer Gesellschaften und deren spezifische Natur-Kultur- sowie Tier-Mensch-Konstellationen.
Einen weiteren Schwerpunkt des Workshops bildet die Untersuchung der Transformationen der neuzeitlichen Naturzustands- und Gründungsmythen in der Moderne, nicht zuletzt unter dem Eindruck der ethnologischen Forschungen in den Kulturanalysen Sigmund Freuds, der strukturalistischen Ethnologie Claude Lévi-Strauss‘ und der Untersuchungen der École de Paris. Was motiviert vor allem in Totem und Tabu Freuds Rückgriff auf die darwinistische Variante des Hobbesschen Kriegszustandes? Warum beruft sich Lévi-Strauss in seiner Transformationsanalyse der 813 Mythen indianischer Gesellschaften und auch außerhalb der Mythologiques beständig auf Rousseau als seinen „Lehrer“ und „Bruder“? Damit dehnt sich die Transformationsgeschichte der begrifflichen Konstellation von Natur und Kultur nicht nur zwischen Antike, Neuzeit und Gegenwart aus. Das Problem der Grenzziehung, des Grenzübergangs, der Formen der Reprise, der Verkreuzungen und Austauschbeziehungen zwischen Natur und Kultur muss vielmehr neu verhandelt und im Lichte indianischer Wildbeuterliteratur (Schüttpelz), indianischer Mythologien und nicht-europäischer modes of thought auf ihre Geltung und Reichweite befragt werden.