Der Große Krieg veränderte die europäische Landkarte – und dabei gerade die Welt Ost(mittel)europas – entscheidend und bis in die Gegenwart nachhaltig. Die multi-nationalen Imperien sind an dessen Ende zerfallen, neue Staaten sind an ihre Stelle getreten, Grenzen wurden verändert und dadurch die komplexen Beziehungen von ethnischen Mehr- und Minderheiten neu gestaltet. Die Vorkriegszeit wurde damit schnell und endgültig zur „Welt von gestern“ (Stefan Zweig). Und doch lohnt es sich, in vergleichender und interdisziplinärer Perspektive die Zeit des Kriegsbeginns – genauer: den Herbst 1914 – ins Visier einer eigenen Tagung zu nehmen.
Dass dabei der ost(mittel)europäische Raum ins Zentrum gerückt wird, hat zum einen mit einem weiterhin dominanten Interesse am westeuropäischen Kriegsschauplatz, zum anderen aber mit dem originären Forschungsfeld des HFR zu tun, der die „Erforschung des östlichen Europa in europäischen Bezügen unter historischen, sozialwissenschaftlichen und kulturellen Fragestellungen“ zur Aufgabe hat. Darin weiß er sich mit den beiden Kooperationspartnern bei dieser Tagung, dem IdGL und dem LUI verbunden.
Ziel dieser Tagung ist es daher, die ost(mittel und südost)europäischen Gesellschaften 1914 selbst näher ins Visier zu nehmen: Wie war ihr Weg in den Krieg, welche Ängste und Sorgen verbanden sie mit diesem, welchen Hoffnungen und Visionen knüpften sie an ihn? Kurz: Welche Zukunft erträumten bzw. befürchteten die Menschen im Angesicht eines schnell „total“ werdenden und alle Erfahrungen dramatisch sprengenden Krieges? Dabei stellte der „Herbst“ 1914 – so die Ausgangsthese – einen wichtigen „Kippmoment“ dar. Denn aus der quer über die Kriegsfronten geteilten Erwartung eines schnellen Sieges wurde ein langandauernder Krieg, der die Menschen – nicht zuletzt durch das Kriegsgeschehen bzw. den jeweiligen Kriegseintritt – aber ganz unterschiedlich betreffen sollte.
Die politische, soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt in Ost(mittel)europa lässt diesen „Kippmoment“ jedenfalls höchst unterschiedlich und widersprüchlich erscheinen. Er wird in der Tagung besonders mit dem Blick „von unten“ – mit der Perspektive veränderter Alltage – ins Visier genommen. Dabei werden Antworten auf folgende Fragen zu geben sein:
Als erste Fragerichtung bietet sich an, den sich schnell verändernden Alltag der Menschen in Ost(mittel)europa näher zu betrachten. Wie veränderte sich die Arbeitswelt, das Zusammenleben in Stadt und Land, aber auch: Wie wurden aus jungen Männern Soldaten? Wie veränderte sich somit die Alltagswelt in Richtung einer omnipräsenten „Kriegskultur“?
Eine zweite Fragerichtung führt direkt in die Diversität ost(mittel)europäischer Gesellschaften. Wie verstanden nationale Mehr- und Minderheiten den Krieg? Wie reagierten spezifische religiöse Gruppen (etwa Juden, Muslime, andere Minderheiten) auf den Kriegsbeginn? Wem galten Loyalitäten? Wie wirkten Feindbilder?
Wie reagierten schließlich – als dritte Fragerichtung – die gesellschaftlichen und ökonomischen Eliten? Wie reflektierten Künstler und Schriftsteller den Krieg? Welchen Beitrag leisteten Wissenschaftler zum Krieg? Wie verstanden und legitimierten sie diesen? Verbanden sie mit dem Krieg sogar eigene Forschungsprojekte?
Die Tagung zielt daher bewusst auf die dichte Beschreibung von ganz unterschiedlichen Alltagen, ist bewusst interdisziplinär angelegt und lädt Kolleginnen und Kollegen aus der Geschichte, der Wirtschaftswissenschaft, der Geographie, der Literaturwissenschaft, der Judaistik und der Volkskunde zur Teilnahme ein.