Jahrestagung der DGEJ 2015: Erzählende und erzählte Aufklärung – Narrating Enlightenment and Enlightenment Narrative

Jahrestagung der DGEJ 2015: Erzählende und erzählte Aufklärung – Narrating Enlightenment and Enlightenment Narrative

Veranstalter
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA); in Kooperation mit den Franckeschen Stiftungen; Leitung: Frauke Berndt (Tübingen), Daniel Fulda (Halle)
Veranstaltungsort
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2015 - 30.09.2015
Deadline
30.11.2014
Von
Berndt, Frauke

Zu erzählen heißt, amorphes Geschehen zu einer nachvollziehbaren Geschichte mit einem ‚Ereignis‘ zu konfigurieren und eine spezifische Perspektive darauf anzubieten. Diese Operation ist keine objektive Wiedergabe, sondern eine Form, die Welt zu ordnen und zu deuten. Das gilt auch für das Erzählen der Aufklärung, und zwar für das Erzählen der Aufklärer ebenso wie für das Erzählen von der Aufklärung. Im 18. Jahrhundert wird auf bestimmte Weisen erzählt – und zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Zeit. Erzählen zeigt sich hier als lokalisiertes Faktum, das freilich sehr weitreichende Ansprüche erheben kann, wenn es bis zu geschichtsphilosophischen Entwürfen ausgreift: Indem die Aufklärer (oder ihre Gegner) von der Aufklärung erzählen, bildet sich das Narrativ ‚Die Aufklärung‘. Zwischen Erzählungen, von denen die Identitätsbildung einzelner Individuen abhängt, und den ‚Großen Erzählungen‘, welche die intersubjektive Kommunikation und gesellschaftliche Sinnbildung steuern, bildet insbesondere der Begriff des Ereignisses das Relais, das die Zustandsveränderung, von der erzählt wird, als springenden Punkt der Erzählung markiert (vgl. W. Schmid: Elemente der Narratologie, 2008). Denn gerade durch die Erzählung solcher Ereignisse entstehen „kulturprägende Narrative“, die „als Institutionen im Reich der Semantik aufgefasst werden“ können (A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2012, 293).

Im europäischen Erzählschatz spielt das Metanarrativ der Aufklärung eine zentrale Rolle. Auf der einen Seite verbindet es bis heute nicht nur Europa mit Amerika, sondern auch alle Kulturen miteinander, die sich dem Projekt der Aufklärung verpflichten, z.B. der Freiheit der und des Einzelnen, der Trennung von Staat und Kirche oder dem Prinzip der Gewaltenteilung. Auf der anderen Seite haben sowohl das Metanarrativ der Aufklärung als auch die wichtigsten Erzählformen der Moderne ihren Ursprung im Zeitalter der Aufklärung. Dort werden sie in verschiedenen Medien, insbesondere in der Literatur, eingeübt und reflektiert. Ist die Aufklärung also als genuine Epoche des Erzählens zu begreifen? Stellt die Aufklärungsbewegung womöglich gar ein genuin narratives Unternehmen dar, weil sie sich durch die Absetzung von einer (schlechteren) Vergangenheit definiert? Muss Aufklärung erzählt werden? Und wenn heute die ‚Großen Erzählungen‘ (angeblich) an ihr Ende gekommen sind: lässt sich dann allenfalls in vielen kleinen Geschichten von Aufklärungen reden? Diese Probleme wollen wir aus internationaler und interdisziplinärer Perspektive beleuchten.

I Narration und Narrative der Aufklärung

Sektion 1: ‚Die Aufklärung‘: Historische Erzählungen (Leitung: Iwan-M. d’Aprile)

‚Die Aufklärung‘ ist, gleich ob als Bewegung oder als Epoche verstanden, immer schon das Produkt einer historischen Erzählung, in der sie als Subjekt auftritt. Solche Erzählungen bilden sich bereits im späten 18. Jahrhundert heraus und werden seitdem – nicht immer kritisch reflektiert – fortgeschrieben. Die Sektion geht insbesondere den Zusammenhängen zwischen der Selbst- oder Fremd-Beschreibung der Aufklärer durch Geschichtserzählungen und späteren Aufklärungsnarrativen bis zur Gegenwart nach.

Sektion 2: Stimme(n) der Vernunft: Philosophische Erzählungen (Leitung: Heiner Klemme)

Immer wieder erzählen die aufgeklärten Philosophen. Auf der einen Seite wählen sie dabei bestimmte Formate, z.B. verschiedene Spielarten des narrativen Exempels, die Fabel oder die allegorische Erzählung. Auf der anderen Seite bevorzugen sie bestimmte Erzählsituationen. Nicht ausschließlich im Dienst philosophischer Systeme stehend, generieren solche narrativen stand-ins epistemisches Wissen auf eigene, nämlich narratologische Rechnung. Diesen Stimme(n) der Vernunft, wie sie nicht zuletzt in der zeitgenössischen Romanpoetik reflektiert werden, gilt die Aufmerksamkeit der Sektion.

Sektion 3: Aber/Glauben: Religiöse Erzählungen (Leitung: Sabine Volk-Birke)

Religiöses Wissen besteht zum erheblichen Teil aus Erzählungen: vom Handeln Gottes, vom Leben des Religionsstifters und seiner Anhänger, von den Möglichkeiten guten und schlechten Handelns im religiösen Sinne. Die zunehmende Geringschätzung der Dogmen im Zuge der Aufklärung verstärkt diesen Aspekt noch. Aber auch die aufklärerische Religionskritik arbeitet gerne mit Erzählungen, etwa von der historischen Bedingtheit der Glaubensformen oder vom Aberglauben. Welche erzählerischen Muster sich in den unterschiedlichen Verwendungen beobachten lassen und welche Eigendynamik sie möglicherweise haben, die über religiöse Funktionalität hinausschießt, ist das Thema dieser Sektion.

Sektion 4: Überlieferung: Von Anderem und Anderen erzählen (Leitung: Birgit Neumann)

Wenn die Aufklärer mit geographisch oder zeitlich entfernten Kulturen in Dialog treten, dann müssen sie nolens volens von der Begegnung des Eigenen mit dem Fremden erzählen. Denn kulturelle Wert-, Norm- und Bedeutungszusammenhänge sind auf die narrative Vermittlung angewiesen. Die Sektion beobachtet daher insbesondere die Forschungs- und Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts sowie Erzählungen über die Kunst der Antike. Welche Rolle spielen europäische Aufklärungskonzepte für die Narrativierung des Anderen und welche neuen Konzepte von Aufklärung bringt die Begegnung mit Anderen ihrerseits hervor? Wo stoßen bestehende Erzählmuster an ihre Grenzen? Von Interesse sind vor allem neuartige Formen und Verfahren des Erzählens, die die Begegnung mit Anderem und Anderen erfordert. Dabei steht zum einen die Kontiguität von ‚faktischen‘ und fiktiven Erzählungen zur Diskussion, die ein gemeinsames Ensemble narrativer Topoi teilen. Zum anderen diskutiert die Sektion die Rolle von Anderem und Anderen für die Entwicklung des Romans im 18. Jahrhunderts.

Sektion 5: ‚Die Aufklärung‘ in der Gegenwart (Leitung: Stephan Kammer)

Von der Aufklärung zu erzählen, von ihren Ursprüngen, ihren Gegnern und Helden, ihren Erfolgen und Kämpfen, Aporien und Verpflichtungen, ist trotz aller Kritik und Historisierung ›der Aufklärung‹ ein gern genutztes Muster zur gesellschaftlichen Selbstverständigung, ja Mobilisierung geblieben. Postulate für das ‚Projekt‘ der Aufklärung, für eine ‚zweite‘, ja ‚dritte Aufklärung‘ mögen symptomatisch für den Aktualitätswert eines Narrativs stehen, das oft genug politisch instrumentalisiert wird – man denke an die Diskussionen um die Veranstaltungsreihe Aufklärung im Dialog der Mercator-Stiftung in Peking (2011/12) –, dessen Tragweite indes auch in anderen Zusammenhängen zur Debatte gestellt werden kann: Was leisten diese Erzählungen für die historische Aufklärungsforschung? Was ist von literarischen, künstlerischen, kulturtheoretischen Varianten dieser Erzählungen zu erwarten? Welche Legitimation verleiht die Aktualisierung der Aufklärung diesen Erzählungen – und welche Perspektiven auf die Aufklärung eröffnen sie?

II Narratologie des 18. Jahrhunderts

Sektion 6: Theorien und Modelle un/möglicher Welten (Leitung: Martin Mulsow)

Mit der Ausdifferenzierung narrativer Formen geht im 18. Jahrhundert die Reflexion auf mögliche, erfundene und erdichtete Welten einher. Denn jede Erzählung stellt eine Form der Realitätsverdoppelung dar, die nicht anders als nicht-textuelle Formen der Fiktion, wie z.B. die Wahrscheinlichkeitsrechnung, im Dienst der Kontingenzbewältigung steht. Die Sektion beschäftigt sich mit der spezifischen Wahrheit der Fiktion, ihrer Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit, die einerseits von den epistemologischen Rahmenbedingungen des Erzählens – Lügner lügen, Schwärmer schwärmen, Kritiker kritisieren –, andererseits von der logischen Struktur der Verdoppelung abhängt.

Sektion 7: Medien des Erzählens: Inter- und Transmedialität (Leitung: Jörg Robert)

Erzählungen des 18. Jahrhunderts bedienen sich verschiedener Medien: Neben die Text-Text-Beziehungen, die durch Zitate, Anspielungen, Übersetzungen, gattungsabhängige Bearbeitungen ganzer Texte sowie andere intertextuelle Verfahren entstehen, beobachtet die Sektion die zahlreichen Medienwechsel und Medienkombinationen, die nicht zuletzt die technische Entwicklung in den populären (Print)Medien ermöglicht. In diesem Zusammenhang nimmt auch der Anteil an transmedialen und seriellen Formen zu.

Sektion 8: Narration, Perspektive, Ambivalenz: Szenen und Rollen des Erzählens (Leitung: Fritz Breithaupt)

In der Aufklärung wird nicht mit einer Stimme erzählt, sondern mit vielen. Der scheinbar gleiche Sachverhalt kann aus mehreren Perspektiven unterschiedlich dargestellt werden. Und die eine Erzählung kann von den Rezipienten unterschiedlich aufgenommen werden. Zweifel, Witz und Moral sind nur einige der Elemente der neuen Narrativik. Dazu kommen die verschiedenen Rollen wie z.B. der ‚Aufklärer‘, der ‚(Seelen)Arzt‘, der ‚Moralist‘ oder die ‚Mutter’, die die Ereignisse mit je verschiedenen Motivationen in Szene setzen. Diese Perspektivierungen etablieren einerseits klare Erzählziele, die sie andererseits unterlaufen, eben da sie zugleich auch Raum für andere Perspektiven schaffen. Die Sektion beobachtet in historischer Hinsicht, wie Pluralität und Ambivalenz von Narration entdeckt und verarbeitet werden. Narration wird abgekoppelt von klaren Instrumentalisierungen. Doch welche Funktionen erhält sie damit? Und wie gehen die Zeitgenossen mit dieser neuen Freiheit oder auch Unklarheit um?

Sektion 9: Narration, Kognition und Affekt: Fühlen, Empfinden, Erkennen (Leitung: Yvonne Wübben)

Mit der Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen sowie der Entdeckung der Sinnlichkeit, mit der Etablierung der modernen Ästhetik sowie der Entwicklung der Poetik zur Literaturtheorie entstehen gleichzeitig auch neue Techniken des Erzählens. Sowohl Figuren als auch Erzähler werden als Erkennende, Empfindende oder Fühlende dargestellt; die ihnen zugeschriebenen psychologischen Vorgänge konstituieren sich dabei im Wechselverhältnis mit Erzähltechniken wie Fokalisierungen (Selbstgespräche, erlebte Rede und autonome direkte Rede). Diese neuen, sich in der Literatur ausbildenden Erzählverfahren und ihre epistemologischen Voraussetzungen sind Gegenstand der Sektion.

Sektion 10: Erzählen in den Wissenschaften – wissenschaftliches Erzählen (Leitung: Anita Traninger)

Keine der in der Aufklärung emergierenden oder sich ausdifferenzierenden Wissenschaften – naturwissenschaftliche Empirie, Ökonomie, Ökologie, Psychologie, Pädagogik, etc. – kommt ohne Erzählen aus. Dabei wird die Hierarchie der Textsorten neu sortiert, und die Zuständigkeiten werden neu distribuiert: In literarischen Texten wird Wissen von den Menschen und den Dingen erzählt; narrative Formen werden in gelehrten Texten neu funktionalisiert: Die Encyclopédie oder schon Bayles Dictionnaire machen ganz neuen Gebrauch vom Erzählen, umgekehrt werden Erzählungen und Romane zum Vehikel aufklärerischer Ideen. In der Sektion soll mit Blick auf Texte unterschiedlichster generischer Provenienz danach gefragt werden, wie sich die Ordnung des Erzählens mit Blick auf die Wissenschaften der Aufklärung neu konstituiert.

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Bitte senden Sie uns den Titel Ihres Vortrags verbunden mit einem kurzen Abstract (max. 4.000 Zeichen inkl. Leerzeichen) und einer bio-bibliographischen Notiz bis zum 30.11.2014 an folgende Mailadresse:
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