Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert

Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert

Veranstalter
Prof. Dr. Stefan Haas (Georg-August-Universität Göttingen); Prof. Dr. Michael C. Schneider (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf); Nicolas Bilo, MA (Georg-August-Universität Göttingen); in Kooperation mit dem Zentrum für Theorie und Methoden der Kulturwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
Veranstaltungsort
Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.09.2015 - 18.09.2015
Deadline
31.05.2014
Website
Von
Prof. Dr. Stefan Haas

Statistiken gehören zu den wirkmächtigsten Steuerungsinstrumenten in der modernen Welt. Sie bieten dem politisch-administrativen System wie der Wirtschaft eine vermeintlich verlässliche Datenbasis zur Beobachtung von Wirklichkeit und zur Generierung von Entscheidungen. So bedeutend ihre Funktion ist, so breit gestreut ist die Kritik, die ihnen entgegenschlägt. Zum einen gelten Statistiken als Ultima Ratio der Argumentation: Ob über Arbeitsmarktpolitik, Sinnhaftigkeit wirtschaftlicher Unternehmen oder gesellschaftliche Tendenzen berichtet wird – stets wird die Richtigkeit von Schlussfolgerungen mit Zahlen belegt. Zum anderen wird wenigen Aspekten moderner Vernunft derart skeptisch begegnet wie einer statistischen Beweisführung, gelten sie doch als manipulierbar, schwer zu durchschauen und abstrakt.

Bisher sind Statistiken im Wesentlichen als sozialpolitisches oder sozioökonomisches Phänomen, in historischer Perspektive als Datengrundlage der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte thematisiert worden. Die Tagung möchte diesen Blick um eine kulturhistorische Perspektive erweitern. Statistiken bilden eine (historische) Wirklichkeit nicht nur rational ab, sie tragen vielmehr durch Kategorisierung und Taxonomie von Daten zu einer spezifischen Konstruktion von Realität bei, ja mehr noch: Die Erhebung der Daten selbst basiert bereits auf vorgängigen Entscheidungen über die Realitätskonstruktion, die nicht immer offengelegt werden.

Die Tagung verfolgt zwei Ziele: Erstens will sie ein Forum schaffen, Statistiken als Medium moderner Politik und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu historisieren. Durch die Verortung im Kontext der Erfindung der Nationalstaaten und im transnationalen Vergleich soll gefragt werden, welche historischen Bedingungen für die Entwicklung und den Einsatz von Statistik Bedeutung hatten. Zweitens soll gefragt werden, wie Statistiken Realität repräsentieren und wie sie dadurch eine kulturelle Wirklichkeit erzeugen, die dann geschichtswirksam wird. Dazu möchte die Tagung einen Zeitraum von der Einführung von Statistiken im 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Kalten Krieges umfassen. Räumlich und kulturell will sie sich nicht auf eine westliche Binnenperspektive verengen, sondern auch Platz für transkulturelle und transnationale Vergleiche bieten. Schließlich fragt die Tagung nach dem wachsenden Einfluss der Mathematisierung auf die verschiedenen Agenturen der Datenerhebung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und das Verschmelzen mathematisch-probabilistischer Methoden mit den herkömmlichen Praktiken der Datenauswertung.

Die Tagung nähert sich den genannten Zielen in 4 Schwerpunkten:
(1) Statistik als Verwaltungsdispositiv
(2) Öffentliche Aushandlungsprozesse und Statistik
(3) Konstitution von Wirklichkeit über Statistik
(4) Statistik als kulturelle Praxis

(1) Seit der Aufklärung verdichtete sich Verwaltung in Westeuropa und Nordamerika. Statistiken wurden zum unabdingbaren Werkzeug für den modernen Staat, dessen Effizienz von einer möglichst genauen Erfassung seiner Elemente abhing. Diese Tendenz lässt sich im Besonderen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Entstehung der Nationalstaaten, nachweisen. Inwiefern diese Entwicklung auch im außereuropäischen Kontext eine Rolle spielte, wurde bisher kaum erforscht, ebenso wie die tatsächliche Rezeption der rasch wachsenden Datensammlungen durch die verschiedenen Verwaltungszweige noch ein Desiderat darstellt. Beiträge innerhalb dieser Sektion können sich mit der Bedeutung der Statistik für Staatlichkeit auseinandersetzen, nach Aspekten der Verwaltungsrationalität und –logik fragen und moderne Staatlichkeit mit den statistischen Instrumentarien der Demographie und Nationalökonomie in Verbindung bringen, die Fragestellung auf den nichteuropäischen Raum erweitern oder nach regionalen und kulturellen Spezifika in der Entwicklung von Statistiken fragen.

(2) Aber nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch in einer bürgerlichen Öffentlichkeit wurden gesellschaftspolitische Debatten zunehmend in statistischen Bahnen gedacht. Die Bedeutung, die die Statistik für die bürgerliche Gesellschaft hatte zeigt sich nicht nur in der Entstehung von Vereinen seit Mitte des 19. Jahrhundert; sondern auch in der öffentlichen Aushandlung politisierter Felder wie beispielsweise Tarifkonflikten oder Maßnahmen zur Gesundheitspolitik; dies lässt sich auch für das 20. Jahrhundert zeigen. Innerhalb dieser Sektion liegt der Fokus auf Fragen der Bedeutung von Statistik als Medium öffentlicher Aushandlungsprozesse.

(3) Der Einfluss der Statistik reicht über die Aushandlung von Politikfeldern hinaus. Statistik hat stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter. „Arbeitslosigkeit“ etwa ist eine soziale Kategorie, die erst durch die Einführung der Arbeitslosenstatistik als solche entstanden ist. Während es den Zustand des Nicht-Arbeitens natürlich bereits vorher gab, zeichnet sich „Arbeitslosigkeit“ als statistisches Konstrukt z.B. zusätzlich durch eine Bestimmung der „Arbeitsfähigkeit“ aus und prägt damit sozialpolitische Debatten bis heute. Ein weiteres Beispiel wäre die parallele Erfassung von Berufen und Konfessionen, die überhaupt erst die Vorstellung von einer Über- oder Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen in bestimmten Berufen weckte und handlungsrelevant werden ließ. Die Beiträge dieser Sektion untersuchen, inwiefern statistische Erhebungen wirklichkeitskonstituierenden Charakter haben.

(4) Der Erfolg, den Statistik als Denkweise hat, lässt sich nur im Kontext eines Erfolges der rationalen Logik verstehen. Seit der Aufklärung hat sich die Vorstellung durchgesetzt, die Wirklichkeit sei in Statistiken vollständig abbildbar. Dieser Glaube geht zuweilen so weit, Statistik nicht nur als Abbild der Wirklichkeit, an sich schon eine starke Vermutung, sondern als Schlüssel zur Erfassung einer Wahrheit zu begreifen. Statistik ist damit mehr als eine Ausdrucksform, sie ist eine kulturelle Praxis, deren Bedeutung sich ideengeschichtlich und philosophisch untersuchen lässt.

Programm

Kontakt

Stefan Haas

Universität Göttingen, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte,
Heinrich-Düker-Weg 14, 37073 Göttingen

stefan.haas@phil.uni-goettingen.de