Neue soziale Bewegungen in der ‚Provinz‘ (1970-1990)

Neue soziale Bewegungen in der ‚Provinz‘ (1970-1990)

Veranstalter
Dr. Julia Paulus, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
Veranstaltungsort
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.12.2014 - 17.12.2014
Deadline
30.05.2014
Von
Korbinian Böck, LWL-Institut für Westfälische Regionalgeschichte

Ausgehend von der Frage, in welcher Weise sich (groß-)städtische und ‚ländliche‘ Emanzipationsbewegungen wechselseitig wahrnahmen und beeinflussten, verfolgt diese Tagung das Ziel, der Entstehung, den Einflüssen, den ‚Verhinderungen‘ sowie den Erfolgen der aufkommenden Neuen sozialen Bewegungen in ländlichen Räumen nachzugehen. Hierbei sollen (auch im inter- und intraregionalen Vergleich) die politischen sowie ‚mentalen‘ Kontroversen in den Blick genommen werden, denen sich die Protagonist_innen ‚vor Ort‘ zu stellen hatten; ferner die wechselseitigen Einflüsse zwischen (Groß-)Stadt/‘Metropole‘ und ‚Provinz‘.

Der hier verwandte Terminus ‚Provinz‘ soll dazu dienen, sowohl den physischen Raum wie auch den Diskurskontext, in dem Bewegungskulturen in ländlichen Gesellschaften verhandelt wurden, von dem in der Forschung vorherrschenden ‚metropolen‘ Deutungsfeld abzugrenzen. Dies scheint vor allem aus zwei Gründen sinnvoll: Zum einen mündeten Überlegungen zur Durchsetzung demokratisch-emanzipatorischer Teilhabestrukturen nicht selten in einen Diskurs, der die metropole Gegenwelt der kleinstädtischen oder ländlichen Gesellschaft despektierlich als ‚Provinz‘ charakterisierte. Zum anderen ergibt sich aus der Tatsache, dass die Bewegungsforschung kaum über die großen Zentren wie Frankfurt, Berlin oder München hinausgekommen ist, eine prominente Rolle des Diskursfaktors ‚Raum‘, dessen Stellenwert für die Herausbildung und Handlungsweise von Emanzipationsbewegungen bislang nur selten untersucht wurde.

Auch die kulturwissenschaftliche und -geschichtliche Stadt-Land-Forschung hat sich noch nicht systematisch für die „Provinzbewegung“ interessiert. Stattdessen war sie lange Zeit ausschließlich von einer starken perspektivischen Engführung und ‚Hierarchisierung’ geprägt. Ihr galt insbesondere die „zentralörtliche“ (Groß-)Stadt als Ort und Motor „moderner“ Entwicklungen und Bewegungen, kleinere Einheiten wie Dörfer, Kleinstädte und sogar Mittelstädte galten dagegen als (eher) rückständig. Die komplexe Beziehungsstruktur zwischen beiden Polen wurde primär von der Stadt aus gesehen und beurteilt, und die historisch-kulturellen (Eigen-)Leistungen der Menschen auf dem Land, im Dorf, in der klein- und mittelstädtischen „Provinz“ jenseits der Metropolen, wurden nicht hinreichend bzw. gleichberechtigt in den Blick genommen. Schließlich blieb auch die Rolle des ‚subjektiven Faktors’ in der Beziehungsstruktur unterbelichtet.

Eine besondere aktuelle methodische Herausforderung auf diesem Untersuchungsfeld besteht mithin auch in dem systematischen wechselseitigen Zugriff sowohl vom Land/Kleinstädtischen als auch von der Großstadt aus sowie in der kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Akzentuierung dieser Perspektive: Wie haben die Menschen auf dem „Land“ und in der „Stadt“ jeweils für sich, aber eben auch im interreferentiellen Bezug die seit den 1960er Jahren spürbar beschleunigte Entgrenzung ihrer Lebenswelt(en) erfahren, wahrgenommen und gestaltet? Wie wurde das „Gegenüber“, das „Andere“ erfahren? Wie schrieb sich die gegenseitige Wahrnehmung in beide Lebenswelten ein (Selbst- und Fremdbilder oder -zuschreibungen)? Welche Mittler und Multiplikatoren prägten und tradierten diese urbanen und ruralen Bilder? Schließlich ist auch zu fragen, inwieweit die Selbst- und Fremdwahrnehmungen jeweils der Realität entsprachen und/oder auch selbst wiederum Wirklichkeit schufen.

Angeregt durch die Perspektiven des vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte initiierten und in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes in Saarbrücken (Prof. Dr. Clemens Zimmermann) entwickelten Forschungsverbundes „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“ sowie durch erste produktive Ansätze insbesondere in den Arbeiten des Historikers Detlef Siegfried zur „Kulturrevolution um 1968“ möchte die Tagung diesen Fragen im Lichte der westdeutschen „Provinzbewegungen“ der 1970er Jahre am Schnittpunkt von zeithistorischer Stadt-Land-, Bewegungs- und Bundesrepublikforschung nachgehen.

Leitende Fragestellungen der Beiträge könnten hierzu sein:
- Wie wird die ‚Provinz‘ (das Kleinstädtische, Dörfliche, der Raum ‚fernab‘ der metropolen Bewegungszentren) von Seiten der Akteur_innen figuriert (soziokulturell, politisch, geographisch)?
- Welche Konnotationen transportiert die Vorstellung eines ‚Fernab‘? Werden hiermit eher pejorative Vorstellungen eines ‚Abseits‘ oder ‚Fremden‘, i.S.v. Rückwärtsgewandtem (ländlich vs städtisch / konservativ vs liberal) assoziiert oder – im Gegensatz hierzu – schafft diese Distanz erst den notwendigen Experimentierraum für das ‚Neue‘?
- In welcher Weise waren Entstehung, Programmatik, Sozialprofil und Praxis der Neuen sozialen Bewegungen in der ‚Provinz‘ (noch) von dem alten überkommenen Gegensatz bzw. der „Kulturdifferenz“ (Hermann Lübbe) zwischen Stadt und Land geprägt? Trugen sie mit dazu bei, dass spezifisch ländliche Selbst- und Fremdbilder erhalten blieben – etwa durch Projekte einer alternativen Dorf-, Heimat- und Provinzgeschichte „von unten“ oder durch die bewusste, zivilisations- und urbanitätskritische Entscheidung für ein „einfaches“, aber „authentisches“ und weniger „entfremdetes“ Leben auf dem Land?
- Inwiefern war das Phänomen gleichzeitig selbst ein Motor und Spiegelbild jenes langfristigen, von der Agrar-, Verkehrs-, Kommunikations-, Bildungs- und Lebensstilrevolution sowie der beschleunigten Suburbanisierung seit den 1950er Jahren angestoßenen Nivellierungsprozesses, für den Begriffe wie „Stille Revolution“ auf dem Land, „Entbäuerlichung“ oder gar „Untergang des Dorfes“, „Urbanisierung des Landes“ und „Entgrenzung des Städtischen“ geläufig sind?
- Welche Bedeutung wird dem Raum ‚Provinz‘ für die Herausbildung spezifischer Bewegungskulturen zugemessen? Gingen vom Land Impulse aus für neue Themen, neue Aktionsformen? Welche Bedeutung besaßen die jeweiligen (traditionellen) Netzwerkkulturen für die Mobilisierung der Neuen sozialen Bewegungen in der ‚Provinz‘? Welche Formen der Öffentlichkeit wurden gewählt?
- Gab es spezifische Aneignungsformen des ‚Urbanen‘? Auf welche Weise beeinflussten die spezifischen Raumstrukturen die jeweiligen Handlungsstrukturen?
- Wie wird das Beziehungsgefüge zwischen ‚Provinz‘ und ‚Metropole(n)‘ beschrieben (Lokalität – Translokalität)? Beeinflussten sich soziale Bewegungen in ‚Metropole‘ und ‚Provinz‘ wechselseitig (Selbst- und Fremdwahrnehmung)?

Mögliche Beispiele, an denen das Verhältnis zwischen ‚Bewegungskultur‘ und ‚Raum‘ analysiert werden könnte:
- Neue Frauenbewegung
- Hausbesetzerbewegung
- Jugendzentrumsbewegung
- Antirassismusbewegung, Antifabewegung
- Alternative Lebens- und Wirtschaftsformen
- Lesben- und Schwulenbewegung
- Behindertenbewegung
- Ökologiebewegung / Anti-Atomkraft-Bewegung
- Neue Friedensbewegung
-Bürgerinitiativbewegung (für soziale, kulturelle, verkehrspolitische Projekte)
- Dritte Welt- / Eine-Welt-Initiativen und -Solidaritätsgruppen

Vorschläge für 30-minütige Vorträge in Form eines Abstracts sollten 500 Wörter nicht überschreiten. Bitte richten Sie Ihr Beitragsangebot bis zum 30. Mai 2014 an folgende Adresse:

Dr. Julia Paulus
julia.paulus[at]lwl.org

LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
Karlstrasse 33
D-48147 Münster
Tel.: 0251 591-5880
Fax: 0251 591-3282
http://www.lwl.org/LWL/Kultur/WIR/Institut/Mitarbeiter/Julia-Paulus/

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julia.paulus@lwl.org
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