Auf dem Weg zu einer Geschichte der Sensibilität: Empfindsamkeit und Sorge für Katastrophenopfer (13.-18. Jahrhundert)

Auf dem Weg zu einer Geschichte der Sensibilität: Empfindsamkeit und Sorge für Katastrophenopfer (13.-18. Jahrhundert)

Veranstalter
Gerrit J. Schenk / Thomas Labbé, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt
Veranstaltungsort
Ort
Lorsch
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.12.2014 - 13.12.2014
Deadline
30.04.2014
Website
Von
Thomas Labbé

Die historische Analyse des Themenkomplexes «Katastrophe» hat unter dem Einfluss der historischen Anthropologie, der Kulturgeschichte und in letzter Zeit auch der Umweltgeschichte und Geschichte der visuellen Kultur stets deutlich die ‚Natur‘katastrophe bevorzugt. Auf diesen unterschiedlichen Forschungsfeldern wurden die Historiker dazu angeregt, Katastrophen in ihre Untersuchungen aufzunehmen, um in erster Linie das Verhältnis Mensch-Ökosystem bzw. Natur-Kultur zu erforschen. Die Untersuchungen gingen vor allem in die Richtung einer Analyse der Perzeption von Naturereignissen, der Ängste vor und des Umgangs mit Naturgefahren sowie der Integration von Naturereignissen in gesellschaftliche Strukturen oder der Entwicklung von Konzepten, die mit Naturkatastrophen zusammenhängen. Die Erforschung der Entwicklung einer spezifischen Sensibilität und die Erforschung von Emotionen in Zusammenhang mit Naturereignissen sowie die Ängste der Gesellschaft haben das Interesse der Historiker, auch wenn diese Bereiche in der Vergangenheit nicht gänzlich vernachlässigt wurden, nur in geringerem Maße geweckt. Ein Perspektivenwandel weg von der ‚gesellschaftlichen Konstruktion der Katastrophe‘ hin zu einer ‚Anthropologie der Katastrophe‘ ist also erst ein jüngerer Trend.

Dank dieses historiografischen Befundes einerseits und der neuesten sozialanthropologischen Forschungsergebnisse andererseits strebt die Lorscher Tagung an, die Katastrophe von einem anderen Blickwinkel aus zu untersuchen, nämlich im Übergang von einer Sozialgeschichte zur Geschichte der Sensibilität in der longue durée, um neue historiografische Sichtweisen zu entwickeln. Bei der Untersuchung der Katastrophe als Ritual laden die von der jungen Disziplin „Katastrophensoziologie“ erzielten Forschungsergebnisse tatsächlich dazu ein, sich von der typologischen Einteilung der Katastrophen zu trennen (unterschieden nach Natur-, Technologiekatastrophen, humanitären Katastrophen etc. ), um sich in erster Linie auf die Wirklichkeit der Wahrnehmung zu konzentrieren, die einen „Standpunkt von der Katastrophe her“ nahelegt.

Mit Blick auf die Gegenwart laden diese Studien dazu ein, die Katastrophe als einen soziologischen Prozess zu betrachten, der dadurch determiniert wird, dass sich die Lösung des Problems für die betroffene Gesellschaft nicht auf die Feststellung und die Regelung der soziopolitischen Fragen in Verbindung mit einer eindeutigen Ereignis-Verwundbarkeit-Problematik beschränkt. Der von der Katastrophe erzeugte Prozess stellt vor allem die Bewältigung eines Dramas dar, „isoliert und unveränderbar“, wie Gaelle Clavandier es ausdrückt (La mort collective. Pour une sociologie des catastrophes, Paris, Éd. Du CNRS, 2004). Die Soziologin definiert die Katastrophe einerseits als starkes Paradigma und andererseits als eine Art Ritualisierung des Realen, die zur Bewältigung eines Ereignisses beiträgt, weil sie Sinn produziert, indem die Katastrophe im Prinzip als „Massensterben“ definiert wird. Mithin sollten das Imaginaire und die Affekte (und hauptsächlich diejenigen, die mit der Furcht vor dem Tod und dem Leid verbunden sind) im Vordergrund stehen, um einer katastrophischen Lesart der Wirklichkeit Rechnung zu tragen, die in dieser Analyse zu einem transversalen Raster unterschiedlicher Typen von Ereignissen wird wie z.B. Naturkatastrophen, Zugunglücke, Attentate, technologische Katastrophen. Eingangs als Drama definiert, bietet sich das Thema ‚Katastrophe‘ an, aus der Sensibilität gegenüber dem Ereignis und den gesellschaftlichen Ängsten ein Hauptforschungsfeld zu machen. Außerdem zeigen die Forschungsergebnisse von Didier Fassin und Richard Rechtman (L’empire du traumatisme. Enquête sur la condition de victimes, Paris, Flammarion, 2007) auf beeindruckende Weise die Historizität und moderne Spezifizität der Begriffe Drama, Trauma und Mitgefühl was das Interesse von Historikern an diesen semantischen Feldern verstärken könnte. Sie sind der Ansicht, dass diese Begriffe erst seit wenigen Jahrzehnten das Herz der moralischen Ökonomie der westlichen Gegenwart darstellen. Sie hätten sich zu emotionalen Ausdrücken entwickelt, die eine moderne Sichtweise der Wirklichkeit darstellten, die als „tragisch“ eingestuft werden könne und in der das universale Mitgefühl als soziale Bindung diene und den Hintergrund für politische Diskurse darstelle. Die Berücksichtigung dieser modernen Begriffsschattierungen gestattet eine theoretische Erklärung derjenigen Arten von ‚governance‘ (im Sinn einer gouvernementalité nach Foucault), die seit dem 19. Jahrhundert in den meisten Katastrophensituationen anzutreffen sind, wie z.B. eine Politik des „Mitgefühls“ und neuerdings (seit Ende des 20. Jahrhunderts) die „humanitäre Politik“, die häufig mit Katastrophen verbunden ist. Diese Studien legen somit nahe, dass das Leid einer Gesellschaft, das man als eine Form von «Massensterben» ansehen kann, als Objekt einer gesellschaftlichen und intellektuellen Furcht unterschiedliche Formen annimmt und zwar je nach Gesellschaft und Epoche spezifische. Diese Einsichten laden Historiker dazu ein, sich mit den historisch unterschiedlichen Rahmungen zu beschäftigen, innerhalb derer sich das traumatische Schicksal des Menschen abspielen kann. Im katastrophale Ereignis entfaltet sich somit eine gesellschaftliche Reflexion über eine spezielle Todesart: der kollektive Tod des Massensterbens, der gesellschaftlich nicht in die gleiche Kategorie gehört wie der ordinäre Tod und bei dem die Historizität der damit verbundenen Sensibilität zu hinterfragen ist.

Aber wenn wir zu einer Analyse der historischen Tatsachen zurückkehren, so stellen wir fest, dass die Begriffe «Tragik» und «Tragödie», die seit dem 16. Jahrhundert florierten, hauptsächlich durch die Entwicklung eines neuen literarischen Genres, nämlich den tragischen Geschichten, vor allem von Literaturwissenschaftlern untersucht wurden und zwar einerseits auf stilistische und andererseits auf funktionalistische Kriterien hin. Die Konjunktur der Begriffe wird gemeinhin als eine Art Widerspiegelung des Traumas der Religionskriege erklärt. Könnte man dank der neuen Forschungsergebnisse aber nicht noch viel weiter gehen, die Kritik der literarischen Fakten hinter sich lassen, die sozialen Tatsachen untersuchen und in dieser Art des Tragischen nicht nur die literarische Entfaltung einer sozialen Malaise sehen, sondern auch und vor allem die Entstehung einer neuen Form der Sensibilität gegenüber der Welt und den Ereignissen? Vor diesem Hintergrund wäre beispielsweise die Explosion des «tragischen» Genres in der Literatur des 16. Jahrhunderts als eine Variante von vielen innerhalb einer Bewegung zu untersuchen, die einen Wesenskern hat, nämlich das generelle Zu Tage treten des «Tragischen» innerhalb einer allgemeinen «Sensibilität». Man kann zum Beispiel feststellen, dass die Nöte des Hundertjährigen Krieges nicht zum selben Typus einer literarischen Entwicklung geführt haben, zumindest nicht in derselben Verbreitung, und somit auch nicht zu einer identischen Behandlung der Ereignisse.

Zuerst wäre also die Hypothese zu diskutieren, inwieweit in der Renaissance die Entwicklung hin zu einer neuen Empfindlichkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Unglück, gegenüber dem kollektiven Leid stattgefunden hat, wobei die Entwicklung des Tragischen in der Literatur nicht mehr als ein Epiphänomen und eine Darstellung wäre. Verbunden mit den ebenfalls zugehörigen Begriffen Humanität, Opfer, Schicksal, Mitleid, Mitgefühl, Sensibilität gegenüber dem Tod etc. sind die Einzelelemente dieser Entwicklung potentiell vielfältig. Die Liste ist lang, man denke beispielsweise an praktische Aspekte (Erfindung des Drucks, der die Kommunikation erleichtert und somit die Perzeption dramatischer Ereignisse näherbringt), philosophische Aspekte (neue Überlegungen der Humanisten über die Natur des Menschen) und religiöse Aspekte (Auswirkung der Reformation und Konkurrenz des religiösen Diskurses auf die Menschheit und ihr Schicksal).

Möchte man die Existenz einer neuen Form von Sensibilität unter historischem Blickwinkel untersuchen, ist es ratsam, das Forschungsinteresse auf das Problem der Opfer zu fokussieren, das eine zentrale Rolle bei der Definition von Sensibilität bei katastrophalen Ereignissen spielt. Wie entwickeln sich die Einstellungen den Opfern gegenüber? Inwieweit verändert sich die gouvernementalité in diesem Zusammenhang? Inwieweit wird die von Katastrophen ausgelöste Massenarmut berücksichtigt? Inwieweit fühlen sich die Opfer in den Diskurs der Welt integriert? Inwieweit bildet sich ein Verständnis für das Ereignis? Derartige Fragen möchten wir vertiefen, basierend auf dem Studium unterschiedlicher Arten von Katastrophen (Naturkatastrophen, aber auch Epidemien, Massaker, Überschwemmungen, Unfälle etc.), die auf die eine oder andere Weise kollektives Leid mit sich bringen. Zu diskutieren wird die Hypothese sein, dass der Begriff «Opfer» in der modernen Bedeutung des Wortes und als zentraler Kern der Analyse irgendwann im Lauf des 16. Jahrhunderts in Zusammenhang mit einer emotionalen Wahrnehmung und gesellschaftlichen Verarbeitung der todbringenden Ereignisse entstanden ist.

Auch über die genaue Chronologie der Begriffsgeschichte muss gestritten werden. Der Begriff «Opfer» ist in der historiografischen vormodernen Perspektive ziemlich neu. Von Soziologen als eine wichtige gesellschaftliche Tatsache definiert, fordert die jüngere Fokussierung der Forschung auf die Figur des «Opfers» den Historiker gleichwohl dazu auf, sich mit diesem Problemfeld auseinander zu setzen. Der moderne Begriff erfordert tatsächlich ein passives Verständnis der Akteure im Drama (Opfer eines Ereignisses sein), was die Lexikographen des Mittelalters wohl nicht so sahen. Sie verstanden den Begriff «Opfer» in einem aktiven Sinne, d.h. als aufopfernd (Opfer sein für), dessen bestes Beispiel Christus‘ Leidensgeschichte ist. Dieser Übergang von einem aktiven zu einem passiven Muster wäre zu untersuchen.

Folgende Perspektiven und Forschungsfelder können prinzipiell als Ausgangspunkt für die Fragestellung dienen:

- 1) die intellektuelle Beschäftigung mit dem Konzept des Opfers und des Unfalltodes
- in patristischen, scholastischen, humanistischen, philosophischen Quellen der Aufklärung, etc. (gute/ schlechte Gedanken angesichts des Unfalltodes, Rechtfertigung des ‚Dramas‘, Mitgefühl, Mitleid, Wohltätigkeit etc.)
- Rhetorik, Vokabular und Lexikografie (Semantik) des Todes, des Unglücks, der Opfer und aller dazu gehörender Begriffe

- 2) Diskurs über die Opfer in Erlebnisberichten (Chroniken, Zeitungen, Flugblätter, Tagebücher)
- Analyse der Formalisierung des Massensterbens, seine Ausprägungen und seine Entwicklung (mathematische Erfassung – Bilanzierung, Weglassen, Metaphorisierung, etc.)
- Analyse der expliziten Sensibilität gegenüber dem Drama in Erlebnisberichten mit tödlichem Ausgang, im verwendeten Vokabular zur Beschreibung von Verlusten etc.
- Analyse des den Opfern zugewiesenen Raumes in diesen Erzählungen
- Analyse der Deutung, die den Opfern im Geschehen gegeben wird, religiöse, philosophische, politische Interpretation etc.
- Analyse der Position der Opfer in Erinnerungsdokumenten
(Abwesenheit/Anwesenheit, Wahl der Opfer etc.)

- 3) Berücksichtigung der Opfer als soziales Objekt der Regierung (gouvernementalité)
- Entwicklung von Formen der gouvernementalen Berücksichtigung (Akteure, Mittel, Unterstützung etc.)
- Formen und Entwicklung wohltätiger Handlungen (Anwesenheit/ Abwesenheit, Akteure, geografische Dimensionen von Wohltätigkeitsbewegungen, Mittel der Informationsverbreitung, Entwicklung privater und/ oder institutionalisierter Hilfssysteme etc.)
- Beziehungen zwischen der Welt der Opfer und der theoretischen Entwicklung von Begriffen wie « bonne police » (Frankreich), polizey (Deutschland), buon governo (Italien), Fürsorge und Vorsorge, Sicherheit etc.
- der Platz der Opfer und der Hilfe bei der Formulierung politischer Theorien (Abwesenheit/Anwesenheit und Ausprägungen des Themas hinsichtlich der Pflichten des Prinzen, im idealisierten Bild des Staates, etc.)

- 4) ‚Materialität‘ der Opfer
- die Lebensbedingungen der überlebenden Opfer (primäre und sekundäre Reaktionen nach dem Schock, Niveau und Umfang der Resilienz etc.)
- Migration der betroffenen Bevölkerung
- Umgang mit den Leichen
- Ikonographie der Opfer

Die Fragestellung ist breit angelegt, so dass ein erster Zugang zum Thema der Historizität von Opfern ermöglicht wird. Daher freuen wir uns auf alle eingereichten Vorschläge, die sich mit der langfristigen Geschichte des Begriffs und der Sache vom Mittelalter bis zur Moderne beschäftigen. Auch wenn wir von einem ersten Auftreten des Begriffs im 16. Jahrhundert ausgehen, wird die Frage der Chronologie eines der zentralen Themen sein, so dass die komparative Methode unter Berücksichtigung mehrerer Epochen (ca. 13.-18. Jahrhundert) unverzichtbar ist.

Die Tagung findet im UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Lorsch statt (http://www.lorsch.de/de/kultur/weltkulturerbe.php)(https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Lorsch) und steht in Zusammenhang mit der von Gerrit Jasper Schenk co-kuratierte Ausstellung „Von Atlantis bis heute. Mensch.Natur.Katastrophe“ (Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim) (http://www.rem-mannheim.de/ausstellungen/vorschau/atlantis.html). Sie hat den menschlichen Umgang mit der Erfahrung von Katastrophen zum Thema und beleuchtet so auch Fragestellungen der Tagung.

Die Veranstalter werden alle Reise- und Übernachtungskosten im üblichen Umfang erstatten (in der Regel Bahnfahrt 2. Klasse, bei Flügen wird um vorherige Rücksprache gebeten).

Informationen zur Einreichung der Vorträge:

Neben einer Zusammenfassung des Vortrags im Umfang von maximal 15 – 20 Zeilen sind der Titel, eine Liste mit 5 Stichworten sowie die Kontaktdaten des Autors und seiner Institution einzureichen. Für die Vorträge ist eine Dauer von 20 Minuten vorgesehen.

Die Vorschläge sind bis 30. April 2014 einzusenden an Herrn Thomas Labbé: labbe@pg.tu-darmstadt.de

Die Autoren der eingesandten Vorschläge erhalten im Laufe des Mai 2014 eine Antwort.

Programm

Kontakt

Thomas Labbé

Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

labbe@pg.tu-darmstadt.de