Stress und Unbehagen. Glücks- und Erfolgspathologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Stress und Unbehagen. Glücks- und Erfolgspathologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Veranstalter
Dr. Stephanie Kleiner, Dr. Robert Suter (beide wissenschaftliche Mitarbeiter im Konstanzer Exzellenzcluster EXC 16 "Kulturelle Grundlagen von Integration")
Veranstaltungsort
Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2014 - 10.10.2014
Deadline
01.03.2014
Von
Stephanie Kleiner (Universität Konstanz)

Als teleologische Kategorien bei der Gestaltung individueller Lebensläufe und mittelbar bei der Steuerung kollektiven Verhaltens erfüllen Glück und Erfolg die Funktion eines sozialen Regulativs, das immer wieder zur Disposition gestellt wird. Seine Neujustierung erfolgt unter anderem über Glücks- und Erfolgspathologien, welche die Frage nach den Vor- und Nachteilen glücklicher und/oder erfolgreicher Vergesellschaftung aufwerfen. Ziel des geplanten, bewusst interdisziplinär angelegten Workshops sind dabei nicht so sehr modellhafte begriffsgeschichtliche Definitionen und Umdeutungen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Glück und Erfolg mit konkreten Lebens- und Gesellschaftsentwürfen assoziiert sind, die einerseits normative Wirkungen entfalten, weshalb sie gerade nicht als wertfreie Sphäre individueller Autonomie beschrieben werden können, und andererseits mit alltäglichen Praktiken verbunden sind. Die Thematisierung von pathologischen Verhaltensformen dient der Absteckung von Normalitätszonen des glücklichen und/oder erfolgreichen Lebens. Glück und Erfolg stehen dabei im Zentrum unterschiedlicher, immer wieder neu zu regelnder Ökonomien des Begehrens, was ein weites Spektrum von Pathologisierungen eröffnet, die auch Aufschluss geben über die Grenzen und Gründe des Scheiterns von Glücks- und Erfolgsprojekten. Zugleich umkreisen zumindest Glückspathologien aber stets auch Utopien eines anderen, als heil und sinnerfüllt begriffenen Lebens, sie bringen gelingende Gegenentwürfe zu einer vermeintlich maroden und glücksfeindlichen Realität hervor, so dass Defizienzerfahrung und eskapistisch-utopischer Gegenentwurf in einer eigentümlichen Dynamik miteinander verwoben sind.

Der Workshop will insbesondere den gemeinsamen epistemologischen Hintergründen jener spezifischen Glücks- und Erfolgspathologien nachgehen, die die westlichen Leistungs- und Konsumgesellschaften seit 1945 zunehmend umtrieben. Beim Blick in die entsprechenden Diskurse lassen sich bei allen Unterschieden im Detail viele Gemeinsamkeiten, etwa in Gestalt der Psychosomatik von Stress oder der Psychopathologie depressiver Erkrankungen ausmachen. Es lassen sich zudem vergleichbare historische Dynamiken konstatieren: Erfahren Glück und Erfolg zunächst im Nexus sozialer Anpassung eine Problematisierung, wird seit den 1960er Jahren zunehmend das individuelle Begehren (Selbstüberforderung, phantasmatische Anspruchshaltungen) selbst als Krankheitsgrund identifiziert. Zeitlich vorgelagerte Diskurse – etwa um das Phänomen des zwanghaften Lügens oder der Nervosität – sollen im Workshop punktuell zwar aufgegriffen werden; das Hauptaugenmerk aber richtet sich auf die Umbruchphasen zwischen 1950 und 1990, als weite Teile der bürgerlichen Mittelschichten und Wohlstandsgesellschaften gängige Konzepte von Glück und Erfolg zunehmend in Frage gestellt sahen. Galt so etwa bis in die 70er Jahre die Fähigkeit zur sozialen Anpassung als Schlüsselkompetenz zu einem erfüllten Leben, setzten sich seitdem Selbstverwirklichung, Authentizität, Autonomie und Kreativität als Gradmesser eines glücklichen und erfolgreichen Lebens durch. Glück und Erfolg wurden nun radikal privatisiert und an die Leistung und das Vermögen des einzelnen gekoppelt. Soziopolitische Utopien einer guten Gesellschaft, die noch den Diskurs der 1950er, 1960er und 1970er Jahre beherrscht hatten, traten demgegenüber in den Hintergrund. Das Ideal der Selbstverwirklichung und Autonomie, das etwa im Zuge der Frauenbewegung in einen politisch-emanzipativen Diskurs eingebettet war und explizit das Recht auf ein glückliches Leben einforderte, verkehrte sich in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung des ‚flexiblen Kapitalismus’ (Richard Sennett) in den Zwang, permanent risikobereit und flexibel zu sein, sich somit als ein ‚unternehmerisches Selbst’ zu entwerfen (Ulrich Bröckling). Der Workshop will daher nachverfolgen, in welcher Weise die Umkehr von Idealen in Zwänge eine Deformation von Glücks- und Erfolgsvorstellungn bewirkte, die sich in den Massenphänomenen wie Depression oder Burnout, aber auch vielen weiteren, bislang kaum erforschten Glücks- und Erfolgskrankheiten manifestieren.

In einer bewusst grob gehaltenen Schematisierung lassen sich so wenigstens vier ineinander übergreifende Dimensionen von Glücks- und Erfolgspathologisierungen unterscheiden, die auf dem Workshop thematisiert werden sollen:

1) Eine historisch-epistemologische Seite, welche die konkreten Räume, Praktiken und Kommunikationssituationen in den Blick rückt, in denen pathologische Muster wie Erfolgsneurose, Managerkrankheit oder Burnout im Konnex von Selbstwahrnehmung und Fremdbeobachtung entstehen. Es geht also um die Settings, etwa die psychoanalytische Praxis, die Arbeits- und Betriebspsychologie, das Labor (Hormonforschung im Fall von Stress, aber auch von Glück), ferner um autobiographische Selbstbeschreibungen oder sozialwissenschaftliche Erhebungen (etwa Fragebögen, die den Grad individueller Lebenszufriedenheit ermitteln sollen), innerhalb derer sich die Figuration pathologischer Figuren überhaupt erst ereignet.

2) Da Akte erfolgs- oder glücksversprechender Subjektivierung Iterabilität mit sich bringen, betrifft die zweite Dimension alterierende Subjektivierungsformen. So können Selbstbezeichnungen, etwa Burnout, pathologisiert oder aber pathologische Muster, so bspw. der Herzinfarkt, als Auszeichnung für ein leistungsbewusstes Leben adaptiert werden; ebenso ereignen sich auf der Ebene der Subjektivierung mannigfaltige Abweichungen, die auch Ausdrucksformen von Widerstand oder Kritik beinhalten können. Figuren wie Workaholics, Neurotiker, Herzinfarktpatienten, Narzissten, Depressive oder Hochstapler zeugen davon. Der Genealogie solcher Subjektivierungsformen wird nachzugehen sein.

3) Zudem soll als dritter Aspekt die sich im 20. Jahrhundert etappenweise vollziehende „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) berücksichtigt und in ihren Auswirkungen auf die konzeptionelle Ausrichtung von Glück und Erfolg mitbedacht werden: Der Aufstieg der Sozialwissenschaften – etwa der Psychologie und der Soziologie – trieb im 20. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit Glück und Erfolg in eine neuartige Richtung. Nicht nur etablierten sich nun mit den humanwissenschaftlichen Experten neue Autoritäten, deren Ausdeutungen von Glück und Erfolg in politischen Parteien wie in Bürokratien und Verwaltungen zunehmend Gehör fanden. Die Verwissenschaftlichung der Erfolgs- und Glücksdiskurse fand auch Eingang in die Alltags- und Lebenswelten weiter Bevölkerungskreise und wirkte auf diesem Weg – etwa durch die Rezeption des Expertenwissens in Ratgebern – auf die individuellen Befindlichkeiten historischer Akteure zurück. Dieser Prozess eröffnete freilich auch Raum für mögliche Pathologisierungsphänomene, indem die Grenzen des Normalen bzw. des Devianten neu umzirkelt wurden.

4) Schließlich soll der Aspekt des kritischen Zugriffs auf Glück und Erfolg bedacht werden, etwa der für das 20. Jahrhundert in der Nachfolge der Frankfurter Schule zentrale Aspekt der Kulturkritik, der „Pathologien des Sozialen“ offenlegen und ihre Auswirkungen auf die je individuelle Lebensgestaltung transparent machen will (Axel Honneth). So wird etwa die Kritik an den sich etablierenden westlichen Konsumgesellschaften nach 1945 zu einem relevanten Modus kulturkritischer Reflexion. Diese artikuliert ein deutliches „Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor) und richtet sich gegen deren vermeintlich pathologische Aberrationen: Topoi wie die Mechanisierung des Lebens, die emotionale Abstumpfung und Verflachung, die Ausweitung eines um sich greifenden Hedonismus, die Zerstörung intakter Selbst- und Sozialbeziehungen oder die Unterminierung des politischen Raumes spielen in dieser Variante kulturkritischer Reflexion eine bedeutende Rolle und nehmen die je eigene Gegenwart als zutiefst glücksfeindliche Epoche wahr.

Die Motive des Stresses und des Unbehagens bezeichnen somit nicht nur eine zeitkritische Analyse oder eine Haltung subjektiver Selbst- und Weltwahrnehmung, sondern sie liefern eine konzeptionelle Heuristik, mit der nach den Grenzen und Enttäuschungen moderner Erfolgs- und Glückskonzepte gefragt werden kann.

Der Call for Papers richtet sich besonders an interessierte Wissenschaftlerinnen aus den Fächern Literatur- und Medienwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Philosophie. Um die Zusendung von Abstracts von rund 2.000-3.000 Zeichen für jeweils 30-minütige Vorträge wird bis zum 01. März 2014 gebeten.

Programm

Kontakt

Dr. Stephanie Kleiner
Forschungsprojekt Glückswissen 1930-1990
Exzellenzcluster 16 Kulturelle Grundlagen von Integration
Universität Konstanz
Fach 213
Universitätsstrasse //78457 Konstanz
Tel.: 07531-88-5601

http://www.exc16.de/