Verboten! Filmzensur in Europa. 26. Internationaler Filmhistorischer Kongress

Verboten! Filmzensur in Europa. 26. Internationaler Filmhistorischer Kongress

Veranstalter
CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung; Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin
Veranstaltungsort
Gästehaus der Universität, Rothenbaumchaussee 34, 20148 Hamburg / Metropolis-Kino, Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2013 - 23.11.2013
Von
Johannes Roschlau

Überwachen, beschneiden, verbieten: Seit es das Kino gibt, sahen sich staatliche Behörden, Kirchenvertreter, Pädagogen und Interessenverbände genötigt, dem einflussreichen Massenmedium inhaltliche und ästhetische Grenzen zu setzen. Die Suggestivkraft des Films barg in ihren Augen ein breit gefächertes Gefahrenpotential für Publikum, Gesellschaft und Staat. Als gefährdet galten im Lauf der Zeit nicht nur die seelische und moralische Verfassung der Zuschauer sondern auch die »öffentliche Ordnung«, die außenpolitischen Beziehungen, der »Wehrwille der Volksgemeinschaft«, die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« und der »Aufbau des Sozialismus«. Die erforderlichen Präventionsmaßnahmen reglementierten die Arbeit von Filmproduzenten, Verleihern und Kinobesitzern. Die Praxis entwickelte sich von der Visitation der Wanderkinos durch den Ortspolizisten über die Erteilung von Zensurkarten durch zentrale Prüfstellen bis zu ausgefeilten Systemen staatlicher Produktionsüberwachung und »freiwilliger Selbstkontrolle« der Filmwirtschaft.

Doch die Arbeit der Zensurbehörden stieß auch regelmäßig auf Kritik, weil ihre gesetzlichen Grundlagen meist große Interpretationsspielräume boten und die von ihnen unterstellten Filmwirkungen letztlich auf Spekulation beruhten. Die internen oder öffentlichen Auseinandersetzungen darum, in welcher Form Schattenseiten der sozialen Realität oder heikle Themen wie Erotik, Gewalt und Religion auf der Leinwand erscheinen durften, spiegelten und beeinflussten zugleich die gesellschaftlichen und politischen Diskurse der Zeit. Die offizielle Festlegung des Nicht-Darstellbaren hatte nicht zuletzt entscheidende Auswirkungen auf Erzählstrategien und Bildsprache deutscher und europäischer Regisseure, die sich in diesen Grenzen einrichteten oder sie zu überschreiten versuchten.

Cinefest 2013, das von CineGraph (Hamburg) und Bundesarchiv-Filmarchiv (Berlin) veranstaltete X. Internationale Festival des deutschen Film-Erbes und der 26. Internationale Filmhistorische Kongress verfolgen die Entwicklung der Filmzensur in Europa im 20. Jahrhundert anhand ausgewählter Aspekte der deutschen, österreichischen, tschechoslowakischen und britischen Filmgeschichte. Im Fokus stehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Funktion, Struktur und ideologischer Ausrichtung der Filmkontrolle in verschiedenen politischen Systemen. Da Zensurvorgänge meist Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Interessen waren, sind die Motive und Strategien der daran Beteiligten von besonderem Interesse. Dabei beschränken Cinefest und Kongress ihre Perspektive nicht auf den Bereich der »klassischen« Zensur, sondern nehmen auch andere Formen der Einflussnahme auf Filmproduktion, -distribution und -aufführung wie Einfuhrverbote und die Bearbeitung von Synchronfassungen durch Verleiher in den Blick.

Ein einführendes Panel skizziert exemplarisch Geschichte und Funktionsweise unterschiedlicher Zensurmodelle: Die Freiwillige Selbstkontrolle der bundesdeutschen Filmwirtschaft (FSK) und ihre durch das »Dritte Reich« gebrochene Traditionslinie zur Filmzensur der Weimarer Republik, das britische BBFC und den Wandel seiner Prüfpraxis von »Censorship« zu »Classification« sowie die umfassende Kontrolle der DEFA-Produktion durch Partei und Staat.

Die Verhältnisse in der Stummfilmzeit beleuchten zwei Panels zum deutschsprachigen Kino. Einblicke in die österreichische Zensurpraxis geben Vorträge zum Umgang der Polizeibehörden mit den erotischen »Herrenabend-Films« der Wiener Saturn-Film (1906–11) sowie zur Kontrolle von öffentlich aufgeführten Amateurfilmen (1927–38). Die Umsetzung des Reichslichtspielgesetzes von 1920 in der Weimarer Republik durch die Filmprüfstellen wird anhand von neu entdeckten Zensurausschnitten in ihrer »sittlich-moralischen« Argumentation und anhand von Partei- und Wahlwerbefilmen in ihrer politischen Ausprägung untersucht.

Zwei Panels zum Kino in der Bundesrepublik veranschaulichen die erstaunliche Bandbreite der möglichen Eingriffe und Gegenmaßnahmen, denen Filme im Laufe ihrer Herstellung und Verwertung ausgesetzt sei konnten. Ein eher unbekanntes Kapitel ist die Rolle der Verleihfirmen als »Zensoren« ausländischer Filme, die durch Schnitte und Dialogverfälschungen in der Synchronisation auf den vermuteten Publikumsgeschmack und den Kriterienkatalog der FSK zugerichtet wurden. Ein Extrembeispiel ist der Umgang mit Michael Curtiz’ CASABLANCA, dessen Verstümmelung zum »nazifreien« Abenteuerfilm in der Synchronfassung von 1952 im Vergleich mit der 1947 für das italienische Kino erfolgten Umarbeitung analysiert wird. Ein Überblick über die bundesdeutschen Fassungen der Filme von Luchino Visconti verdeutlicht dagegen besonders die unterschiedlichen Beweggründe für die durch Verleiher und FSK vorgenommenen Änderungen. Den Augen der Öffentlichkeit noch stärker entzogen war lange Zeit der Bonner »Interministerielle Ausschuss für Ost-West-Filmfragen«, der sich präventiv mit ausländischen Filmen beschäftigte: Seine – vom Grundgesetz nicht gedeckte – Arbeit bestand in der Verhinderung des Imports von »verfassungsgefährdenden« Produktionen aus den Ländern des Ostblocks. Auch drastisch dargestellte Religionskritik in Filmen wie DAS GESPENST war noch in den 1980er Jahren nicht nur für die FSK problematisch, sondern provozierte sogar Demonstrationen, Strafanzeigen, Gerichtsverhandlungen und das Einfrieren von Fördergeldern durch den Bundesinnenminister.

Ein Panel zur Filmproduktion in der DDR und der Tschechoslowakei konzentriert sich auf historische Situationen, in denen die Machthaber die Notwendigkeit eines filmpolitischen Kahlschlags sahen. Drei Vorträge analysieren vergleichend Ausgangslage, Mechanismen und Folgen der Filmkonferenz in Banská Bystrica 1959, des 11. Plenums des ZK der SED im Dezember 1965 und der Zensurwelle nach der Niederschlagung des Prager Frühlings.

Der 26. Internationale Filmhistorische Kongress ist integraler Bestandteil des X. Cinefest – Internationales Festival des deutschen Film-Erbes (16.–24.11.). Er wird am Abend des 20.11.2013 im Metropolis-Kino eröffnet. Während der Veranstaltung werden auch die Willy Haas-Preise für eine bedeutende internationale Publikation (Buch und DVD) verliehen.

Die Vorträge des Kongresses finden vom 21.–23.11., jeweils von 9.30–16.00 Uhr, im Gästehaus der Universität statt. Referenten und Teilnehmer aus dem In- und Ausland vertiefen in Vorträgen und Diskussionen (Kongress-Sprachen: Deutsch und Englisch) das Thema des Festivals in sechs thematisch abgestimmten Panels. Ab 17.00 Uhr laufen im Metropolis-Kino die Filmvorführungen, die die Vorträge ergänzen.

Die Vorträge des Kongresses werden in überarbeiteter Form anschließend in einem CineGraph Buch veröffentlicht.

Weitere Infomationen auch unter: http://www.cinegraph.de

Programm

MITTWOCH, 20. November 2013

Metropolis-Kino (Kleine Theaterstr. 10)

17:00 TŘI PŘÁNÍ (DREI WÜNSCHE) (CS 1958, Ján Kadár, Elmar Klos), 96 Min, OmU

19:30 Eröffnung: Johannes Roschlau
Verleihung der Willy Haas-Preise
Eröffnungsfilm: DIE TAUBE AUF DEM DACH (DDR 1972/73, Iris Gusner), 82 Min
Gast: Iris Gusner

Im Anschluss laden wir zu einem Umtrunk im Foyer des Kinos.

DONNERSTAG, 21. November 2013

Gästehaus der Universität (Rothenbaumchausee 34)

09:30 Begrüßung

09:45 – 12:45 Panel 1: ZENSUR IN EUROPA: MODELLE UND STRUKTUREN

- Martin Loiperdinger, Trier: Von Preußens Polizeizensur zur Freiwilligen Selbstkontrolle. Kontinuitäten und Brüche der deutsche Zensurgeschichte

-Günter Jordan, Kleinmachnow: Seine Hoheit Genosse Staat. Filmzensur in der DDR

-Julian Petley, London: Classifier or Censor? The BBFC at Work

14:00 – 16:00 Panel 2: ÖSTERREICH: VOYEURE UND AMATEURFILMER

- Michael Achenbach/Thomas Ballhausen, Wien: »Wiener Sujets«. Zur Erfolgs- und Zensurgeschichte der Saturn-Film

- Paolo Caneppele, Wien: Schmalfilme, schmal zensuriert? Die Zensurpraxis der Amateur- und Schmalfilme 1928-1938

Metropolis-Kino

17:00 VERBOTENE DEFA-TRICKFILME, 90 min
Einführung: Ralf Schenk, Berlin

19:00 JADUP UND BOEL (DDR 1979-81, Rainer Simon), 103 min
Gast: Rainer Simon

21:15 CASABLANCA (US 1942, Michael Curtiz, Deutsche Synchronfassung 1952), 81 min
Einführung: Joseph Garncarz, Köln

FREITAG, 22. November 2013

Gästehaus der Universität

09:30 – 11:30 Panel 3: WEIMARER REPUBLIK: MORAL UND POLITIK

- Anna Bohn, Berlin: Entsittlichend – verrohend – anstößig. Auf der Spur deutscher Zensurdokumente in russischen Archiven

- Georg Eckes, Frankfurt/Main: Politische Filme – Politische Zensur? Die SPD als Filmproduzentin und Zensurgesetzgeberin

13:00 – 16:00 Panel 4: KAHLSCHLÄGE: ZENSURWELLEN IM OSTBLOCK

- Ivan Klimeš, Prag: Die Leistungsschau als Tribunal. Das Festival des tschechoslowakischen Films in Banská Bystrica 1959

- Ralf Schenk, Berlin: Die Falken und die Tauben. Fünf Fehler beim Nachdenken über das SED-Verbotsplenum 1965

- Milan Klepikov, Prag: Eine Galgenfrist. Die aufgeschobene, aber unvermeidbare Wiedereinführung der tschechoslowakischen Filmzensur nach 1968.

Metropolis-Kino

17:00 MONOLOG FÜR EINEN TAXIFAHRER (DDR 1962, Günter Stahnke), 37 min
Gäste: Günter Stahnke, Günter Kunert
Einführung: Günter Agde, Berlin

18:30 ANDERS ALS DU UND ICH (§175) (BRD 1957, Veit Harlan), 91 min
Gast: Christian Wolff

21:15 PŘÍPAD PRO ZAČÍNAJÍCÍHO KATA (CS 1969, Pavel Juráček), 106 min

SAMSTAG, 23. November 2013

Gästehaus der Universität

09:30 – 12:30 Panel 5: FILMIMPORT: VERLEIHER ALS »ZENSOREN«

- Carla Mereu Keating, Reading: »You Must Not Remember This.« Burying the past in the italian post-war edition of Casablanca

- Joseph Garncarz, Köln: »nicht zur Vorführung in Deutschland geeignet.« Signifikante Filmvariationen durch bundesdeutschen Verleiher in den 1950er Jahren

- Francesco Bono, Rom: »Wer den Film in der Bundesrepublik gesehen hat, hat ihn nicht gesehen.« Zu den (west-)deutschen Fassungen der Filme Viscontis.

13:30 – 15:30 Panel 6: BUNDESREPUBLIK: OST-PROGANDA UND RELIGIONSKRITIK

- Andreas Kötzing, Leipzig: »Der Bundeskanzler wünscht einen harten Kurs«. Filmzensur durch den Interministeriellen Ausschuss für Ost/West-Filmfragen

- Ursula von Keitz, Konstanz: Zwischen Himmel und Hölle. Zum Provokationspotential des Religiösen in Filmen der 1970er und 1980er Jahre

15:30 – 16:00 Abschlussdiskussion

Metropolis-Kino

17:00 KARLA (DDR 1965, Herrmann Zschoche), 133 min.
Gast: Jutta Hoffmann

20:00 DAS MÄDCHEN AUS DER ACKERSTRASSE (D 1919/20, Reinhold Schünzel), 90 min
Einführung: Evelyn Hampicke, Berlin
Musik: Marie-Luise Bolte

22:00 A CLOCKWORK ORANGE (UHRWERK ORANGE) (GB 1970/71, Stanley Kubrick), 137 min
Einführung: Olaf Brill, Bremen

Sonntag, 24. November 2013

CineGraph-Büro (Schillerstr. 43): 11:00 Get together

Metropolis-Kino

14:30 THE DEVILS (GB 1970, Ken Russell), 111 min,
In Kooperation mit Bizarre Cinema
Einführung: Jan Minck, Hamburg

17:00 DIE SÜNDERIN (BRD 1950, Willi Forst), 87 min

19:00 EKSTASE (CS/AT 1932, Gustav Machatý), 90 min

21:15 DAS BEIL VON WANDSBEK (DDR 1950/51, Falk Harnack), 110 min

Kontakt

Johannes Roschlau Erika Wottrich

CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V.
Schillerstr. 43, 22767 Hamburg
040-352194 / 040-18884566
040-345864
kongress@cinegraph.de; roschlau@cinegraph.de

http://www.cinefest.de
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