RÄUME DER HERKUNFT. Fallstudien zu einer historischen Narratologie
Tagung an der Universität Würzburg vom 21. bis 23. Juni 2013
In vielen Erzähltexten der abendländischen Tradition spielt der Raum, aus dem der Held stammt, eine besondere Rolle. Schon Odysseus hat von Anfang an nur das Ziel, nach Ithaka zurückzukehren, das zu Beginn des Epos nahe scheint, dann aber wieder in weite Ferne rückt, bevor er schließlich nach dem Aufenthalt am Phaiakenhof dorthin zurückkehrt. In zahlreichen Erzähltexten, vom sogenannten antiken Roman über den mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman, das arthurische Erzählen, den galanten Roman und den höfisch-historischen Roman des Barock bis hin zu modernen Epen und Romanen ist der Raum, aus dem die Hauptfigur stammt, Ausgangs- und Endpunkt der ‚histoire’. Das Muster von Auszug, (Abenteuer-)Reise und Rückkehr kann dabei verdoppelt oder vervielfacht werden. In einigen Texten kommt der Held ohne sein Wissen dorthin zurück, wo er geboren wurde, und gerät so in schlimmste Verstrickungen. Der Raum der Herkunft kann aber auch ein bloßer Ausgangspunkt sein, den die Hauptfigur zurücklassen will oder muss (Migrationsliteratur), um z. B. seine eigentliche Heimat zu finden. Gelegentlich wird der Raum der Herkunft als Raum der Heimkunft perspektiviert, in dem sich die Figur aber nicht mehr zurechtfindet.
Trotz seiner Präsenz in der europäischen Literatur von der Antike bis heute und trotz seiner inhaltlich-strukturellen Wichtigkeit ist der Zusammenhang von Raum und Herkunft bislang nicht zum Gegenstand einer breiter vergleichenden, narratologisch interessierten Arbeit geworden. Deshalb fragen wir danach,
- wie die Räume der Herkunft als konkrete Räume der erzählten Welt unterschiedlich dargestellt und mit normativen Aspekten verknüpft werden sowie
- welche Funktion sie für die Erzählung vor allem der Geschichte der Hauptfigur übernehmen.
Gegenstand sind Erzähltexte und Gattungen der europäischen Literatur von der Antike bis heute, in denen der Raum der Herkunft ein wichtiger Teil der erzählten Welt ist, ohne jedoch Haupthandlungsschauplatz zu sein. Die Beiträge der Tagung analysieren diesen Raum sowohl mit Blick auf einzelne Erzähltexte, aber auch übergreifend anhand von Gattungen. In erster Linie geht es dabei nicht um Heimatliteratur oder Heimatdichtung. Es werden aber selbstverständlich auch Erzählungen untersucht, in denen die Räume der Herkunft als Heimat apostrophiert und dadurch für die Handlung bedeutsam werden.
Als Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge haben wir das in jüngster Zeit innovierte erzähltheoretische Beschreibungsinstrumentarium für Räume vorgeschlagen. Mit einer genuin narratologischen Ausrichtung will die Tagung einen Beitrag zur historischen Narratologie leisten. Ausgehend von der narratologischen Beschreibung soll auch die Frage nach der Bedeutung der Räume der Herkunft, insbesondere nach ihrer werthaften Besetzung, gestellt werden. Es ist zu ermitteln, mit welchen Bedeutungen auf wörtlicher und übertragener Ebene die Räume der Herkunft im je konkreten Fall aufgeladen werden, welche Rolle semantische Oppositionen, Raummodelle und phänomenologische Konzepte hier spielen.
Die Veranstaltung ist öffentlich. Die einzelnen Beiträge werden den Teilnehmern vorab zur Verfügung gestellt. Es wird daher um Anmeldung per E-Mail gebeten.
Die Tagung wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.