Produktive Körper. Aktuelle Forschungen zur Körpergeschichte des Ökonomischen

Produktive Körper. Aktuelle Forschungen zur Körpergeschichte des Ökonomischen

Veranstalter
Dr. Peter-Paul Bänziger, Columbia University, Department of History, New York; Marcel Streng, M.A., Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, für den Arbeitskreis für Körpergeschichte
Veranstaltungsort
Ort
Basel
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.06.2014 - 07.06.2014
Deadline
30.06.2013
Website
Von
Peter-Paul Bänziger / Marcel Streng

Die geplante Tagung geht vom doppelten Befund aus, dass einerseits körpergeschichtliche Perspektiven und Fragestellungen im aktuellen Boom der (sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten) Wirtschaftsgeschichtsschreibung kaum eine Rolle spielen (1), dass sich aber andererseits auch die Körpergeschichte der Wirtschaft bzw. dem Ökonomischen und dessen Herstellung bisher eher zögernd genähert hat – trotz vielversprechender Anfänge in den 1990er Jahren (2).

(1) Die aktuelle Renaissance heterodoxer Ansätze in der Wirtschaftsgeschichte wird zum großen Teil von kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven getragen und richtet den Blick auf Phänomene, die zur klassischen Auffassung der Arbeitsteilung – Produktion, Distribution, Konsum – ebenso quer liegen wie zur Aufteilung der ökonomischen Sphäre in Dienstleistungen, Industrie und Landwirtschaft. 1 Produktgeschichtliche Untersuchungen der letzten Jahre etwa fokussierten in diesem Sinn verschiedene Rohstoffe und Industrieprodukte wie Salz, Schokolade, Farben, Kaffee, Papier, Schuhe, Baumwolle, Soja u.a. und zeigten das Potential dieser Perspektiven auf.2 In Anlehnung an differenzierte institutionenökonomische Ansätze3 wurde untersucht, welche Nomenklaturen, ökonomischen und politischen Prozesse, sozialen und kulturellen Erwartungen usw. in den oft große Räume überspannenden Produktions-, Kommerzialisierungs- und Konsumtionsnetzwerken dieser Dinge eine Rolle spielten. Heuristische Konzepte wie „Qualität“ und innovative Ansätze aus den Science and Technology Studies haben zwar dazu geführt, dass der Materialität der untersuchten Hervorbringungen, Umwandlungen und Übersetzungen ein größeres Gewicht beigemessen wurde,4 genuin körpergeschichtliche Aspekte auf das moderne Ökonomische kennzeichnende Produktionen aller Art sowie insbesondere auf die Herstellung einer als „ökonomisch“ bezeichneten Form sozialer und dinglicher Beziehungen selbst blieben aber meistens ausgeblendet.

(2) Im Feld der potentiell körpergeschichtlich relevanten Forschung ist dagegen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Ökonomischen offensichtlich, obwohl gerade in Bereichen wie der Produktion und des Konsums für unterschiedliche Perioden an bereits seit längerer Zeit vorliegende Studien angeknüpft werden kann,5 bzw. derzeit auch neue Perspektiven entwickelt werden, die körpergeschichtliche Aspekte in wirtschaftshistorische Fragestellungen einbeziehen.6 Immerhin gibt es mittlerweile verschiedene Untersuchungen zu historischen Subjektivitätsregimen, die sich auf Möglichkeitsbedingungen des Ökonomischen beziehen und etwa nach der (Hetero-)Genese des Homo Oeconomicus oder der Selbstbeschreibung ökonomischer Subjekte fragen.7 Oft beziehen sich diese Untersuchungen auf Regierungstechnologien, programmatische Formate von Machttechniken und/oder Techniken des Selbst, etwa im Zusammenhang mit der Erziehung zu Geldsubjekten, dem Schuldenmachen oder der Produktion unternehmerischer Selbste.8 Interessanterweise ist aber auch in diesen Arbeiten die Dimension der Körperlichkeit/Materialität wenig ausgeprägt. Körper wie die des rechnenden Subjekts – etwa von BankerInnen, Handelsreisenden, ManagerInnen, VerkäuferInnen – sind noch kaum historisiert worden,9 auch wenn hier jüngst kulturwissenschaftliche Impulse etwa zur Untersuchung eines „dienenden Subjekts“ gesetzt wurden.10 Zudem fehlen bisher weitgehend Forschungen zur Körpergeschichte jener Subjekte, die nach der Epochenschwelle der biopolitischen Moderne um 1900 im Zentrum des industriellen Produktivismus platziert wurden.11 Über die Körper der Arbeitenden in der landwirtschaftlichen Produktion ist generell vergleichsweise wenig bekannt. Aber auch das Arbeitssubjekt des „Postmaterialismus“ ist bisher merkwürdig körperlos geblieben12 – auch wenn freilich viel darüber bekannt ist, wie der Körper für die (Selbst-)Optimierung und Regeneration der „inneren Ressourcen“ dieser Arbeitssubjekte eingesetzt wird. Stichworte sind hier „Körpertherapien“, „Wellness“, „Selbstheilung“ und ähnliches.13

Die geplante Tagung setzt an diesem doppelten Befund an, indem sie den Körperbezug des Ökonomischen in den Vordergrund stellt. Gefragt wird mithin nach der körperlichen/materiellen Dimension der Herstellung des Ökonomischen durch die und in der Produktion ökonomischer Subjekte. Denkbar sind insbesondere – aber nicht ausschließlich – Beiträge zu den folgenden drei thematischen Bereichen:

a) Das thermodynamische Modell des menschlichen Motors war für die Konstitutionsprozesse produktiver Körpersubjekte am Ende des 19. Jahrhunderts zentral, scheint aber gemäß neueren Forschungen in aktuellen Produktionsregimen und Subjektkulturen kaum noch Relevanz zu besitzen.14 Es ist aber fraglich, ob es einfach aufgegeben wurde. Vielmehr ist zu erwarten, dass der Mensch des „Karbonzeitalters“ nicht einfach linear von dem Subjekt des „Silikonzeitalters“ abgelöst wurde (Deleuze).15 Hier werden Beiträge gesucht, die sich den Übergängen, dem Neben- oder Gegeneinander unterschiedlicher Entwürfe des produktiven Subjekts und seines Körpers widmen. Insbesondere interessieren uns Arbeiten, welche auch im weitesten Sinne konsumgeschichtliche Fragestellungen einbeziehen, sowie Forschungen mit Fokus auf Formen der Herstellung produktiver Körper, die jenen des menschlichen Motors vorangingen.

b) Bisher fehlen Studien, die nicht nur die Herstellung produktiver Körper untersuchen, sondern auch die materielle/körperliche Produktion „des Ökonomischen“ selbst, die also danach fragen, wie bestimmte Körper – und andere nicht – als „ökonomisch relevante“ thematisiert und hergestellt wurden.16 Wie schon im Zusammenhang mit der Forderung nach konsum- und produktgeschichtlichen Perspektiven geht es auch hier darum, die für die Geschichtswissenschaft nach wie vor zentrale klassisch-nationalökonomische Unterscheidung von Produktion, Distribution und Konsumption zu überwinden. Gesucht sind also insbesondere Beiträge, die – etwa aus der Perspektive der Dis/ability, Gender, Post Colonial und Queer Studies, aber auch von Themen wie der Geschichte der Zwangsarbeit – nach den Verschränkungen und Ausschlüssen fragen, über welche die Körper des Ökonomischen hergestellt werden.

c) Fraglich ist des Weiteren, inwiefern lediglich menschliche Körper als produktive Körper subjektiviert werden bzw. wurden oder ob die Fragestellung hier nicht durch dinggeschichtliche Perspektiven erweitert werden muss. Historisch sind Arbeitssubjekte jedenfalls ohne Produktionsmittel – vom einfachen Hammer bis zum Großraumbüro – nicht denkbar. Inwiefern Produktivität eine Eigenschaft ist, die vor allem menschliche Subjekte und ihre Körper aufweisen, ist eine Frage, die sich besonders durch die Analyse von produktiven Dingen und Bio-Assemblagen untersuchen und kontrastiv klären lässt. Vor diesem Hintergrund suchen wir Beiträge, die durch eine heuristische Symmetrisierung von Handlungsmacht bzw. ihrer Übertragung auf Dinge – Stoffe, Pflanzen, Tiere, Apparaturen, Technologien oder Produktionsstätten, Traktoren, Fließbänder, Roboter, Computer, Bleistifte, Schreibtische, Prothesen u.ä. – die Konstitution von spezifisch menschlichen Arbeitskörpersubjekten untersuchen.

Wir bitten um Vorschläge (Deutsch oder Englisch) im Umfang von ca. 1 Seite (A4) bis zum 30. Juni 2013 an Marcel Streng (marcel.streng@googlemail.com) und Peter-Paul Bänziger (ppb2114@columbia.edu). Die Tagung wird vom 5. bis 7. Juni 2014 in Basel stattfinden. Eine Finanzierung wird angestrebt, kann aber derzeit nicht garantiert werden. Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch, ausgewählte Beiträge sollen in einem englischsprachigen Sammelband publiziert werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu jüngst Jan-Otmar Hesse, Ökonomischer Strukturwandel. Zur Wiederbelebung einer wirtschaftshistorischen Leitsemantik, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), 86-114.
2 Vgl. etwa Jakob Vogel, Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln 2007; Roman Rossfeld, Schweizer Schokolade. Industrielle Produktion und kulturelle Konstruktion eines nationalen Symbols 1860-1920, Baden 2007; Angelika Epple, Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt/M. 2010; Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500-1900, Frankfurt/M. 2010; Laura Rischbieter, Mikro-Ökonomie der Globalisierung: Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870-1914, Köln 2011; Matthias Mutz, Umwelt als Ressource: Die sächsische Papierindustrie 1850-1930, Göttingen 2012; Anne Sudrow, Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen 2010; Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln 2013; Ines Prodöhl, 'A miracle bean': How Soy conquered the West, 1909-1950, in: Bulletin of the German Historical Institute, Washington DC, 46 (2010), S. 111-129.
3 Rainer Diaz-Bone/Laurent Thévenot (Hrsg.), Sociologie des conventions/Soziologie der Konventionen. Themenheft der Online-Zeitschrift Trivium Nr. 5 (2010), URL: http://trivium.revues.org/index3540.html; Clemens Wischermann/Anne Nieberding, Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004.
4 Frank Trentmann, Materiality in the future of history: things, practices, and politics, in: Journal of British Studies 48 (2009): 2, S. 283-307.
5 Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990; Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1998.
6 Maren Möhring, Fremdes Essen: Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012.
7 Urs Stäheli, Spektakuläre Spekulationen. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt/M. 2007.
8 Vgl. etwa Sandra Maß, Formulare des Ökonomischen in der Geldpädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Werkstatt Geschichte 58 (2011), S. 9-28; Mischa Suter, Jenseits des „cash nexus“. Sozialgeschichte des Kredits zwischen kulturanthropologischen und informationsökonomischen Zugängen, in: WerkstattGeschichte 53 (2009), 89-99; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007.
9 Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hg.), Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit, Berlin 2007.
10 Markus Krajewski, Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt/M. 2010.
11 Vgl. Peter-Paul Bänziger (Hg.), Themenheft „Fordismus“, Body Politics 1 (2013), http://www.bodypolitics.de.
12 Therese Kaufmann, Materialität des Wissens, in: transversal 1, http://eipcp.net/transversal/0112/kaufmann/de.
13 Stefanie Duttweiler, Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz 2007; Sabine Maasen/Jens Elberfeld/Pascal Eitler/Maik Tändler (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011.
14 Brigitta Bernet/David Gugerli, Sputniks Resonanzen. Der Aufstieg der Humankapitaltheorie im Kalten Krieg – eine Argumentationsskizze, in: Historische Anthropologie 19 (2011): 3, S. 433-446; Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt a.M./New York 2012.
15 Peter-Paul Bänziger, Der betriebsame Mensch – ein Bericht (nicht nur) aus der Werkstatt, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012): 2, S. 219-233.
16 Vgl. dazu, allerdings ohne körpergeschichtliche Perspektivierung, das Projekt „The Production of Work. Welfare, Labour-market and the Disputed Boundaries of Labour (1880-1938)“ an der Universität Wien (demnächst: Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (Hg.), History of Labour Intermediation. Institutions and Individual Ways of Finding Employment, New York 2013) sowie Nicole Colin/Franziska Schößler (Hg.), Das nennen Sie Arbeit! Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse, Heidelberg 2013 (i.E.).

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