Praktiken von Gesundheit und Krankheit. Stuttgarter Fortbildungsseminar am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Praktiken von Gesundheit und Krankheit. Stuttgarter Fortbildungsseminar am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Veranstalter
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Veranstaltungsort
Straußweg 17, 70184 Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.04.2013 - 05.04.2013
Deadline
31.01.2013
Von
Jens Gründler, Melanie Ruff, Maximilian Schochow, Christof Beyer

Kamillentee zu trinken und sich Wadenwickel durch die Mutter anlegen zu lassen, einen Arztes oder Heilpraktiker in seiner Sprechstunde aufzusuchen oder sich sportlich zu betätigen, sind typische Praktiken von Krankheit und Gesundheit in der Moderne. Erstere sind die üblichen Umgangsmethoden mit Erkrankungen – man greift auf familiäre Wissensbestände und Selbstmedikation zurück. Der Besuch beim Arzt ist in der Regel die Reaktion auf Erkrankungen, bei denen die zuvor genannten Praktiken an ihre Grenzen stoßen. Die Praktik der sportlichen Betätigung repräsentiert eher Techniken des präventiven Selbst (Bröckling 2007), eines gesunden Lebensstils, mit dem Gesundheit erhalten werden soll. Neben medizinischen Diskursen der Krankheitsprävention fließen in die letztgenannte Praktik aber auch spezifische Identitätsvorstellungen ein: bspw. Geschlechterrollen oder Schönheitsideale.

In diesen Praktiken wird das Spannungsfeld zwischen Wiederholung und Innovation (Reichardt 2007) sichtbar. Dabei können immanente, inkorporierte Wissensbestände als praktisches ‚Know-How‘ herausgearbeitet werden, welches nicht zwangsläufig rational eingesetzt oder intentional verwendet wird. Vielfach sind die Handlungsweisen in habituelles oder ritualisiertes Verhalten übergegangen und werden unhinterfragt durchgeführt. Das zeigt sich in den Alltagspraktiken des präventiven und erhaltenden Gesundheitsverhaltens, wenn Menschen beispielsweise Margarine der vermeintlich ungesünderen Butter vorziehen, wenn sie abstinent leben und sich fit halten. Oder wenn sie bei Erkältungszeichen nicht den Arzt aufsuchen, sondern sich bei Verwandten und Freunden Rat holen sowie auf Hausmittel zurückgreifen. Ähnliche Automatismen finden sich in der therapeutischen Sprechstunde. So misst die Medizinerin/der Mediziner Fieber oder nutzt ein Stethoskop, ohne erlerntes Wissen bewusst abzufragen.

Derartige Praktiken beeinflussen den Therapeuten/die Therapeutin, den Patienten/die Patientin oder aber auch den Menschen, der sich wohl oder unwohl fühlt. Diese Handlungsweisen sind nahezu immer durch Kommunikation oder Interaktion zwischen Personen gekennzeichnet, wobei die Rollen zwar festgefügt sind, aber einem historischen Wandel unterliegen – so befand sich der Arzt in der Frühen Neuzeit gegenüber ökonomisch potenten Klienten häufig in einem untergeordneten Dienstleistungsverhältnis, während die Medizinerinnen/Mediziner der Moderne aufgrund ihrer Stellung und ihres Wissensvorsprungs bzw. ihrer akademisch erlernten Fähigkeiten in einer eher überlegenen Position gegenüber ihren Patientinnen und Patienten stehen. Innerhalb dieser Rollenzuschreibungen veränder(te)n sich zwangsläufig auch die Praktiken der Behandlung. Ebenso, wie neue Geräte und das zugehörige Gerätewissen das Selbstverständnis und das Handeln von Ärztinnen/Ärzten und Patientinnen/Patienten beeinfluss(t)en, wirk(t)en sie auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten von Menschen ein.

Auch hatten z. B. die Ausgestaltung von institutionellen Räumen und Vorschriften oder Gesetze Einfluss auf die Veränderungen von Praktiken innerhalb bestimmter medizinischer Settings. Die teilweise Nicht-Erstattung von Behandlungen durch Homöopathie und Heilpraktiker durch die gesetzlichen Krankenversicherungen beschränken die Inanspruchnahme dieser Heilverfahren. Die Standardisierung und gesellschaftliche Durchsetzung von Indikatoren wie dem Body-Mass-Index können zu veränderten Wahrnehmungen und Praktiken der Selbstregulierung führen, in denen körperliche Leistungsfähigkeit und Effizienz hergestellt werden sollen. Im Zusammenhang mit Belohnungen und Bestrafungen innerhalb des Gesundheitssystems führen derartige „Techniken des Selbst“ auch zu Verschiebungen gesellschaftlicher Auffassungen und Verhaltensweisen, insbesondere hinsichtlich von der Norm abweichender Personen (Bröckling 2007). Dabei ist ein „sozial ‚angemessene[s]‘ Gesundheitsverhalten und Krankheitsempfinden von formalisierten Normen zu unterscheiden, da diese im Sinne der Praxeologie „impliziten normativen Kategorien“ nicht entsprechen müssen, über diese hinaus gehen können oder sogar „im Widerspruch“ (Reckwitz) zu diesen stehen können.

Gleichzeitig erhalten gerade in den Praktiken von Krankheit und Gesundheit – im Sinne Bruno Latours (2007) – Menschen ebenso wie Dinge Akteurscharakter. Im medizinischen Setting beeinflussen somit zur Verfügung stehende Gegenstände und Gerätschaften ebenso die medikale Praxis wie Patientinnen und Patienten, Pflegepersonal sowie Medizinerinnen und Mediziner, die innerhalb dieses Settings agieren und es gleichzeitig mit konstituieren.

Eine sozialhistorische Bearbeitung sozialer Praktiken, die im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit auftreten, ermöglicht damit vielfältige Perspektiven. Für das Fortbildungsseminar bieten sich beispielsweise Beiträge zu folgenden Fragen an:

1. Auch in Praktiken spiegeln sich Machtkämpfe verschiedener Akteurinnen und Akteure. Diese Auseinandersetzungen sind häufig kontrovers, veränderbar und ergebnisoffen, trotz asymmetrisch verteilter Ressourcen. Fragen könnte man z. B., wie bestimmte Praktiken von Gesundheit und Krankheit Machtverhältnisse verfestigen und welche Praktiken diese Verhältnisse in Frage stellen.

2. Praktiken der Gesundheitserhaltung und gesunde Lebensstile werden schon in Galens ‚sex res non naturales‘ thematisiert. Maßhalten und Ausgewogenheit werden z. B. auch in zeitgenössischen Praktiken wie ‚work-life-balance‘ für ein langes und gesundes Leben eingefordert. Im Fortbildungsseminar könnte man u. a. nach verschiedenen Praktiken und Formen von Behandlung, Prävention und Gesundheitserhaltung fragen. Darüber hinaus bietet sich auch eine Analyse des historischen Wandels bestimmter Praktiken bzw. ihrer Bewertung an.

3. Praktiken von Gesundheit und Krankheit befinden sich immer in einem Spannungsfeld zwischen Routine und Kreativität. Diese Spannung lässt sich vielfach auch in medizinischen Praktiken finden, in denen wiederkehrende Handlungen – wie Massenscreening oder Impfungen – so lange durchgeführt werden, bis sich diese Routinen als ganz oder teilweise negativ erweisen bzw. so bewertet werden. In welchen Situationen oder unter welchen Bedingungen entwickeln sich diese Praktiken eher zu mechanischen Routinen und wann werden Veränderungspotentiale erzeugt und setzen sich durch?

4. Harnglas, Ohrenstöpsel und Rheumasalbe sind typische Objekte, die Einfluss auf medizinische, präventive und pflegerische Praktiken ausüben. Auch deren Wahrnehmung und Deutung, darauf hat die Placebo-Forschung hingewiesen, können therapeutische Praktiken nachhaltig beeinflussen (Moerman/Jonas 2002). Zu fragen wäre u. a. danach, welche spezifische Bedeutung Objekte in den medizinischen, pflegerischen und „laienhaften“ Praktiken erhalten? Welcher Einfluss wird diesen Dingen zugeschrieben? Inwieweit reagieren Menschen als Akteure auf bzw. rezipieren sie die Anwendung von Werkzeugen und Gegenständen?

5. Auch der Zusammenhang von Diskursen und Praktiken kann Vortragsthema sein. Aus praxeologischer Sicht kann ein Diskurs nichts anderes als eine bestimmbare, definierte Praktik sein, „d. h. der Diskurs wirkt … allein in einem bestimmten sozialen Gebrauch, als ein Aussagesystem, das in bestimmten Kontexten rezipiert und produziert wird.“ (Reckwitz 2003) So entspringt die medizinisch-wissenschaftliche Definition von Krankheiten „spezifischen Merkmalen ärztlichen Denkens“ (Ludwik Fleck), das sich wiederum im Wechselverhältnis mit den technischen Voraussetzungen medizinischer Erkenntnisse – wie z. B. der Entwicklung bildgebender Verfahren – befindet. Aber wie und in welchem Ausmaß beeinflussen sich Praxis und Theorie?

Die hier vorgestellten Fragestellungen sind nur als Anregung gedacht und dienen der Orientierung. Die Beiträge zum Fortbildungsseminar sollen sozialgeschichtlich orientiert sein und über einfache Beschreibungen ärztlicher oder pflegerischer Tätigkeiten hinausgehen. Als Quellen könnten z. B. Visitationsberichte, Praxistagebücher, Autobiographien, Sanitätsberichte, Reportagen, Krankenakten, Korrespondenzen, Handlungsleitfäden oder Hausordnungen dienen.

Willkommen sind Beiträge zu allen Epochen und Kulturräumen. Teilnehmen können Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aller Disziplinen, die Themen zu Praktiken im Spannungsfeld von Krankheit und Gesundheit bearbeiten.

Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge!
Für die Vorbereitungsgruppe des 32. Stuttgarter Fortbildungsseminars,
Jens Gründler

Organisatorisches
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat sich in den nunmehr 32 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich deutlich von klassischen Fachtagungen unterscheidet. Zentrales Anliegen des Forums ist der gemeinsame Austausch und die Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und nicht auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht als Pflichtlektüre.

Vor Beginn der Tagung werden die Thesenpapiere zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Seminarzeit, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.

Das Seminar findet vom 3.-5. April 2013 in Stuttgart statt. Die Anreise erfolgt obligatorisch bereits am 2. April für das abendliche Kennenlernen.

Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf 15 Personen begrenzt.

Auswahl und Moderation
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die am Ende jedes Fortbildungsseminars für das jeweils nächste Jahr gewählt wird. Für das 32. Fortbildungsseminar haben sich Melanie Ruff (Stuttgart/Wien), Christof Beyer (Hannover) und Maximilian Schochow (Halle/Saale) bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt anonymisiert durch die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich die zur Verfügung stehende Zeit auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Stuttgarter Institut finanziert, das schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung
Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden und verwendete Quellen sowie mögliche Thesen/Ergebnisse strukturiert hervorgehen, schicken Sie bitte bis zum 31. Januar 2013 per Post oder e-mail an Jens Gründler, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive Jens.Gruendler@igm-bosch.de. Außerdem soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

Literatur
Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007.
Roger Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung [Fischer Wissenschaft], Frankfurt am Main 1992.
Elisabeth Dietrich-Daum/Martin Dinges/Robert Jütte/Christine Roilo [Hg.], Arztpraxen im Vergleich: 18.-20. Jahrhundert, Innsbruck/Wien/Bozen 2008.
Martin Dinges/Robert Jütte [Hg.], Transmission of Health Practices (c. 1500 to 2000) [MedGG Beihefte; 39], Stuttgart 2011.
Ludwik Fleck, Über einige spezifische Merkmale ärztlichen Denkens, in: Sylwia Werner/Claus Zittel [Hg.], Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 1953), Berlin 2011, S. 41-51.
Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1983.
Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991.
Jens Lachmund, Der abgehorchte Körper. Zur historischen Soziologie der medizinischen Untersuchung, Opladen 1997.
Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007.
Daniel E. Moerman/Wayne B. Jonas, Deconstructing the Placebo Effect and Finding the Meaning Response, in: Annals of Internal Medicine, 136(6), (2002), S. 471-476.
Daniel E. Moerman, Meaning, Medicine, and the “Placebo Effect”, New York 2002.
Karen Nolte, Pflege von Leib und Seele – Krankenpflege in Armutsvierteln des 19. Jahrhunderts, in: Sylvelyn Hähner-Rombach [Hg.], Alltag in der Krankenpflege. Geschichte und Gegenwart [MedGG Beihefte; 32], Stuttgart 2009, S. 23-46.
Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, 32(4), (2003), S. 282-301.
Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte, 22(3), (2007), S. 43-65.
Christina Schachtner, Ärztliche Praxis. Die gestaltende Kraft der Metapher [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 1398], Frankfurt am Main 1999.
Theodore R. Schatzki/Karin Knorr Cetina/Eike von Savigny [Hg.], Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2000.

Programm

Kontakt

Jens Gründler

Institut für Geschichte der Medizin
Straußweg 17, 70184 Stuttgart
0711-46084-163
0711-46084-181
Jens.Gruendler@igm-bosch.de

http://igm-bosch.de
Redaktion
Veröffentlicht am