Über den Begriff der Geschichte

Über den Begriff der Geschichte

Veranstalter
Goethe Universität Frankfurt am Main; Universität Mannheim
Veranstaltungsort
Ort
Frankfurt am Main / Mannheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.12.2013 - 15.12.2013
Deadline
28.01.2013
Website
Von
Nadine Werner

[Due to many requests and the subsequent Publication of the English Call for Papers is the deadline for abstracs extended to 28.1.2013.]

Internationaler Walter Benjamin Kongress "Über den Begriff der Geschichte" / Geschichte schreiben

Goethe Universität Frankfurt am Main & Universität Mannheim

Internationaler Walter Benjamin Kongress „Über den Begriff der Geschichte/Geschichte schreiben“

„In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konfor-mismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“. Dieser Imperativ aus Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte gehört inzwischen selbst zu einer Über-lieferung, die bedroht ist. Scheint doch im Spektrum des Werks inzwischen gerade das Geschichtsdenken zu sehr metaphysisch-heilsgeschichtlichen oder revolutionären Erwartungen verpflichtet, um noch Impulse zu bieten, die heute aufzunehmen wären. Und wozu auch? Benjamins vielfältige Schriften bieten genug andere Anknüpfungspunkte. Aber wenn man es sich damit zu einfach machte? Über den Begriff der Geschichte ist der letzte einer Reihe von radikalen Versuchen, in denen Benjamin einen anderen Begriff von Geschichte gedacht hat. Von den frühen Schriften an geht es ihm darum, Vorstellungen von Geschichte als einem homogenen und leeren Zeitkontinuum aufzubrechen, das Vergangene als Unabgeschlossenes und die Zukunft als Unverfügbares zu denken. Das Historische ist nicht in der Vorstellung eines Entwicklungsverlaufs zu suchen, sondern in der Kategorie des Ursprungs zu erfassen, die diese Vorstellung vernichtet. Aus solchem Denken speist sich Benjamins Pathos der Aktualisierung des Gegenwärtigen und sein, wie er in einem Brief an Gretel Adorno schreibt, „von mir sehr esoterisch gehandhabte Begriff des ,Jetzt's der Erkennbarkeit‘“. Keiner Gegenwart ist das Gewesene besitzhaft zugänglich. Wenn heute im Internet alles, was sich ereignet hat, in universeller Zugänglichkeit präsent erscheint, manifestiert sich darin eine neue Gestalt des Historismus, den Benjamin als Pendant zur Fortschrittsideologie denunzierte?

Walter Benjamins Theorie der Geschichte, so lässt sich postulieren, nimmt unter den Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts eine in ihrer Radikalität singuläre Position ein. Sie als fragmentarisch oder essayistisch zu klassifizieren, unterschätzt die ihr innewohnende Kohärenz, argumentative Konsequenz und ihre besondere synthetische Kraft, indem sie geschichtsphilosophische, theologisch-messianische und politische Diskurse in durchaus wechselnden Begriffskonstellationen bündelt und transformiert. Trotz Benjamins enormer Wirkungsgeschichte ist sein Geschichtsdenken für die dominanten historiographischen Praktiken der Geisteswissenschaften nicht folgenreich geworden. Umso mehr ist es nötig, den Anspruch Benjamins, Geschichte anders zu denken, erneut zu überprüfen, um die darin angezeigten Chancen wahrzunehmen und das Hasardiöse seines Einsatzes zu bedenken. Der Kongress soll Benjamins kritische Position gegenüber den theoretischen wie politischen Diskursen seiner Zeit ins Zentrum rücken. Dabei wird es ebenso darauf ankommen, den historischen Abstand, der uns von Benjamins Kontext trennt, zu reflektieren wie seine Texte daraufhin zu befragen, wieweit sie Herausforderungen für eine Geschichtserkenntnis jenseits des ,Posthistoire‘-Geredes bereitstellen. Und es wäre seine Feststellung ernst zu nehmen, dass zu den geschichtlichen Veränderungen auch die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich medial organisiert, gehört.

Benjamin als Theoretiker historischer Erkenntnis zu thematisieren verlangt zudem, ihn als Praktiker des Schreibens von Geschichte wahrzunehmen. Nicht allein die großen Arbeiten wie Ursprung des deutschen Trauerspiels, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Deutsche Menschen oder das Passagen-Projekt stellen je spezifische Arten, Geschichte zu schreiben, dar. Nicht minder gewichtig werden in vielen kleinen Rezensionen, den Rundfunkarbeiten oder den Reiseaufzeichnungen am geschichtlich scheinbar Marginalen Erfahrungen reflektiert und überraschende historische Konstruktionen skizziert, die noch ihrer genaueren Erschließung sowohl im Blick auf die Quellen wie auf die besondere Schreibweise und Metaphernbildung harren.

Prof. Dr. Burkhardt Lindner
Goethe-Universität Frankfurt
Professor für Geschichte und
Ästhetik der Medien sowie
Neuere deutsche Literatur (i.R.)

Prof. Dr. Justus Fetscher
Universität Mannheim
Seminar für Deutsche Philologie
Lehrstuhl für Neuere Germanistik I

Nadine Werner, M.A.
Goethe-Universität Frankfurt
Institut für Theater-, Film-
und Medienwissenschaft
Arbeitsstelle Walter Benjamin

Sektion 1: Von Historismus- und Fortschrittskritik zu Ansätzen materialistischer Geschichtsschreibung, Christine Blättler (Kiel), Irving Wohlfarth (Paris)

Diese einleitende Sektion geht von Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte als Modell materialistischer Geschichtsschreibung aus und zielt auf eine umfassendere Problematik: wie Benjamins Geschichtstheorie i) zu verstehen, ii) umzusetzen ist. Keine Philologie ohne Aktualität, keine Aktualität ohne Philologie; das sind die zwei „Schalen“ der historisch-politischen „Waage“; die Vergangenheit dreht sich Benjamins „kopernikanischer Wende“ zufolge um die Gegenwart.

Wie hat Benjamin diese Theorie in den eigenen Arbeiten (Trauerspielbuch, Passagenarbeit, Baudelaire-Studien) umgesetzt? Gilt sie nur für seine Arbeiten oder stellt sie ein allgemeines Modell materialistischer Geschichtsschreibung dar? Warum hat sie im letzteren Falle so wenig Gehör bei den Berufshistorikern gefunden? Liegt dies u. a. daran, dass sie nicht bloß eine „Geschichte von unten“ sein will, sondern stellvertretend für die „kämpfende, unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation“ eintritt? Und dass die „Krise, in die das Subjekt der Geschichte getreten ist“, heute eine ganz andere ist?

Wie ist diese Theorie also heute zu lesen, bzw. zu „retten“? Und umgekehrt: wie liest sie unsere Gegenwart (gerade auch angesichts der Tatsache, dass die kapitalistische Ideologie den Fortschrittsglauben, den die Thesen aushebeln wollen, inzwischen selber fallengelassen hat)? Läuft aus ihrer Sicht nicht die neuere Geschichtsschreibung (und auch die heutige Benjamin-Forschung) Gefahr, einem neuen Historismus zu verfallen?

„Ohne eine irgendwie geartete Prüfung der klassenlosen Gesellschaft“, schreibt Benjamin, gibt es nur „Geschichtsklitterung“. Und: wahre historische Erkenntnis – als Eintritt in ein bisher verschlossenes Gemach der Vergangenheit – „fällt mit der politischen Aktion strikt zusammen.“ Heißt das, dass historische Einsicht nicht möglich ist in einer Epoche wie der unseren, in der politische Aktion verstellt zu sein scheint? Oder umgekehrt: dass Benjamins grundlegende Alternative zwischen historischem Materialismus und Historismus nicht mehr trägt? Und, genereller, dass sein Denken, wie Habermas behauptet, nicht „anschlussfähig“ ist? Muss nicht die Benjamin-Forschung alle diese Gretchen-Fragen stellen?

Anstelle eines call for papers richten wir hiermit einen Blog ein. Alle Interessierten, auch aus anderen Sektionen, sind im Laufe des kommenden Jahres eingeladen, die in den Raum gestellten Fragen hier zu debattieren. Zunächst sollen Benjamins Geschichtsthesen samt Paralipomena zugrunde gelegt werden. Eine der gemeinsamen Aufgaben wird es auch sein, eine Bibliographie der für uns relevanten Geschichtsschreibung zu erstellen. Unsere Hoffnung ist, die Sektion dann so weit vorbereitet zu haben, dass sie auf der Konferenz zu einem plenaren „Sprechsaal“ und einem Ort der freien Diskussion werden kann, der auch auf den weiteren Verlauf des Kongresses auszustrahlen vermag.

Sektion 2 : Benjamins Quellen, Heinz Brüggemann (Hannover), Erdmut Wizisla (Berlin)

In Benjamins Geschichtsschreibungen und Reflexionen zum Begriff der Geschichte sind Referenztexte anders gegeben und verwandt als „Quellen“ in einer begriffs- oder ideengeschichtlichen Darstellung (für Benjamins Distanz zum Begriff „Quelle“ s. GS I, 1160f.). Benjamins Reflexionen verstehen sich im eminenten Sinn als „Kritiken“ in eingreifender, politisches Handeln bewirkender Absicht (s. den Katalog der „Kritiken“ in WuN 19, 129/130); sie sind zugleich theoretisch-methodische Grundlegung der Bedingungen einer anderen, neuen Historik. Benjamins Schreibweise operiert mit Verfahren der Konstruktion von Konstellationen im Bild und sie bedient sich auf besondere Weise der Montage von Zitaten, die dem Material entrissen werden. Inhaltlich geht es dabei nicht primär um historische Ereignisse. Die Darstellung macht vor allem auch die phantastischen Vorformen des Neuen im Traumbewusstsein (Vgl. WuN 19, 122), die der Vergangenheit unbewussten drohenden oder verheißungsvollen, doch in ihr lebenden Bilder der Zukunft (vgl. Br V,296) zu ihrem Gegenstand, wie sie sich in Texten, Moden, Reklamen, Bauten, in Kunstwerken etc. niedergeschlagen haben.

In welcher Weise diese doppelte Bestimmung Status und Funktion der herangezogenen Texte, Bilder etc. bestimmt, sie zu Reflexionsmedien macht, in denen, mit denen und (oftmals) gegen die Benjamin denkt, ist die Fragestellung dieser Sektion. Um ihr gerecht zu werden, schlagen wir vor, die Reflexions-Materialien Benjamins jeweils in einem Themen-, Problem- bzw. Kritikkomplex zu erörtern. Dies sei kurz am Beispiel der Textes Über den Begriff der Geschichte skizziert: Gegenwart und rückwärtsgewandte Prophetie / Umstellung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont (F. Schlegel, Jochmann, Lotze, Kraus, Klee); Kultur und Geschichte als (falsches) Kontinuum / Diskontinuum als Grundlage echter Tradition (Fuchs-Aufsatz, Neo-Klassizismus der Großen Revolution, Marx 18. Brumaire, Neuer Kalender, Juli-Revolution , Zimmermann: Großer Deutscher Bauernkrieg); Kritik der Kulturgeschichte / der Kulturgüter (Brecht, Hegel bzw. Bibel-Motto); Kritik des Fortschritt als historischer Norm / Arbeit und Natur (Dietzgen, Marx, Turgot, Fourier); Kritik der Einfühlung in die Vergangenheit (Fustel de Coulanges, Nietzsche, literarische Beispiele: Stifter, Flaubert,); Zeit, Ausnahmezustand und „wirklicher“ Ausnahmezustand (Carl Schmitt); Handlungstheorie / Befreiung im Namen der Geschlagenen (Nietzsche-Motto; Blanqui, „Spartacus“, Marx); Vergegenwärtigung (als Beispiel: Fourier).

Erwünscht wären auch Beiträge, die die genannten Problemstellungen an den methodisch geschichtstheoretischen Darlegungen gerade bei kleineren Texten wie in der Rezension zu Werner Hegemann (Ein Jakobiner von heute WuN 13.1, 280ff.) oder an Benjamins Notaten zum Jugendstil weiter verfolgen.

Sektion 3: Bild, Daniel Weidner (Berlin), Justus Fetscher (Mannheim)

„Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“. Das Bild ist für Benjamin eine zentrale Kategorie, Geschichte zu schreiben und zu beschreiben. Es ist eine Form, Diskontinuität bzw. den Zusammenhang des Ungleichzeitigen zu denken, aber auch die Verzeitlichung selber: Es ist ein „Zeitdifferenzial“, „in ihm steckt die Zeit“. Damit ist das Bild zentral für Benjamins Versuch, Geschichte politisch, d.h. aus der Aktualität bzw. aus ihrem jeweiligen Jetzt der Erkennbarkeit heraus, zu denken. Zugleich ist das Bild ein entscheidender Anschauungs- und Darstellungsmodus, mit dem Benjamin sich das dialektische Denken anverwandelt und die sprachphilosophischen Konzeptionen seiner frühen Texte aufnimmt und transformiert. Es hat epistemologische, mediale, wahrnehmungs- und gedächtnistheoretische Dimensionen, die über die Problematik der Geschichte und Geschichtsschreibung hinausreichen. Unter den Augen Benjamins – des Graphologen, des Physiognomikers der Dingwelt, des Theoretikers optischer Medien und des optisch Unbewussten – öffnet sich das bildhaft zu Erfassende dem Einblick in Potentiale, die es als Areal von Geschichte (story wie history) zu erkennen geben. Wie beim Sammler, wie beim Archäologen, wie beim Rekonstrukteur der eigenen Kindheits-Welt scheint auch beim Geschichtstheoretiker Benjamin der Moment, da ihm etwas im Bilde zufällt, formativ für die Bedeutung, die es nun annimmt. Durch diese Narrativität und Situativität der Bildbegegnung wird das Bild zum Träger eines Denk- und Handlungsraums, der sowohl augenblicklich zu begreifen wie tastend zu erproben ist.

In der Sektion sind zu diskutieren:
- Benjamins Umgang mit Bildern, sowohl realen Bildern wie geschriebenen und gedachten, dazu auch die Umsetzung der Kategorie in der eigenen schriftstellerischen Praxis, gerade beim Schreiben der Geschichte;
- die Entwicklung von Benjamins Bilddenken und der von ihm implizierten Kategorie des Bildes, insbesondere der Prozess, in dem die Semantik des Bildes und des Bildlichen zunehmend zum Ort der Übersetzung der erwähnten epistemologischen, medialen etc. Dimensionen wird;
- Beziehungen zu anderen Formen der Bildlichkeit und des Bilddenkens etwa bei Wölfflin, Kassner, Warburg, im Surrealismus;
- der mediengeschichtliche Index dieses Denkens, also seine implizite und explizite Beziehung auf zeitgenössische Bildpraktiken und Medientechniken (barocke, moderne und avantgardistische Redefinition der Interferenz von Bildlichkeit und Schriftlichkeit, Graphik, Zeichnung und Farblichkeit, Photographie, Panorama, Film, die Bildraum-Dimension von Architektur usw.);
- die Bedeutung von Benjamins Bilddenken angesichts der ‚ikonischen Wende’ (Iconic Turn) in den Medien- und Kulturwissenschaften, insbesondere seine Stellung zwischen verschiedenen Disziplinen.

Sektion 4: Epochenkonstruktionen, Jeanne Marie Gagnebin (São Paulo/Paris), Isabel Kranz (Erfurt)

Unter einer Epoche versteht man gemeinhin eine Zeitspanne, deren Beginn durch ein zentrales Ereignis eingeleitet wird, das selbst wiederum als epoché, d. h. als Aussetzung, bezeichnet wird. Eine konstitutive Unterbrechung definiert demnach diejenigen Zeit-abschnitte, mit denen in den Geisteswissenschaften operiert wird; zugleich sind diese Einsatzmomente selbst Teil dessen, was sie konstituieren sollen. Diese Doppelung, die dem Begriff der Epoche als Zeitdauer und ereignishafter Unterbrechung eignet, die die Zeit in ein Vorher und ein Nachher aufspaltet, verspricht einen aufschlussreichen Zugang zu Walter Benjamins Geschichtsdenken.

Denn während Benjamin den Begriff der Epoche durchaus auch synonym mit der Bezeichnung Ära verwendet, setzt er der ereignisgeschichtlichen Fixierung auf den großen Moment (sei es eine Schlacht, eine Krönung oder ein Attentat) ein Denken der epoché entgegen, das auf die Gegenwart ausgerichtet ist. Wenn hierdurch rückwirkend Zäsuren in der Geschichte gesetzt werden, mag dies als Moment der Konstruktion gelten: ein in der Gegenwart verorteter Produktionsprozess, den Benjamin deutlich von einer einfühlenden Rekonstruktion im Sinne des Historismus unterschieden wissen will.

Die Sektion widmet sich daher Benjamins Versuchen „eine Konzeption von Geschichte zum Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des Ursprungs verdrängt wurde“ (GS VI, 442 ff.). Mögliche Themenfelder sind: Epoche und Zeitalter, historischer Materialismus, die Geschichtlichkeit der Dinge, Theorien des Ereignisses mit und nach Benjamin, Urgeschichte/Antike/Barock/Moderne, Utopie, Verhältnis von Geschichte und Mythos, dialektische vs. archaische Bilder. Als gemeinsame Textbasis für die Diskussion sind vorgesehen: die Konvolute C, N und S der Passagen-Arbeit, das erste Exposé über Paris, die Hauptstadt des XIX Jahrhunderts sowie die entsprechenden Diskussionen in den Briefen mit Adorno und Scholem, die Aufsätze zu Johann Jakob Bachofen, Franz Kafka und Marcel Proust sowie Ausgraben und Erinnern.

Sektion 5: Kunst/Literatur, Vivian Liska (Antwerpen), Michael Jennings (Princeton, New Jersey)

„Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen,“ schreibt Benjamin in Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, „sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.“ Von seiner ersten eingehenden Beschäftigung im Hölderlin-Essay (1914) bis hin zu seinen späten Reflexionen über Baudelaire (1939) ist Benjamins Auseinandersetzung mit Literatur ganz entschieden historisch geprägt. Dies ist nicht nur in dem Sinne zu verstehen, daß literarische Werke von Geschichte durchzogen und determiniert sind, sondern in dem Sinne, daß die kritische Auseinandersetzung mit Literatur die wesentlichen Strukturen ihrer Zeit enthüllt – und damit unserer. Auf diese Weise wird das Werk nicht nur zum epistemologischen Medium, sondern zum Mittel der Intervention: ein "Organon der Geschichte".

Für die Sektion sind Beiträge zu allen Aspekten von Benjamins Literaturgeschichts-schreibung erwünscht. Als mögliche Gegenstände seien genannt: die Vor- und Nachgeschichte des Kunstwerks; Literaturgeschichte als politische Geschichte; Übersetzung und Kritik als Teil des historischen „Nachlebens“; das „Gedichtete“ als historischer Index; Fragment oder überhaupt literarische Typologien als historische Form; Literaturkritik und Ästhetik; Innervation und/als historische Vermittlung; körperliche und sprachliche Mimesis in ihrem Verhältnis zu Geschichte; „Name“, „Urgeschichte“ und Literatur; allegorische Formen als „Antwort" auf eine historische Situation; historische Potentiale des (literarischen) Archivs versus geschlossenes Werk; Benjamins Diskussionen mit Zeitgenossen über Literatur und literarische Texte (Adorno, Scholem, Brecht und andere); das Nachleben von Benjamins Arbeiten in der zeitgenössischen Literatur.

Sektion 6: Kind, Jessica Nitsche (Düsseldorf), Nadine Werner (Frankfurt a. M.)

Die Sektion untersucht das Kind als Kreuzungspunkt zwischen dem auf das Individuum konzentrierten Erinnern und der auf das Kollektiv ausgerichteten Geschichtsschreibung. In welchem Verhältnis stehen Rekonstruktion und Konstruktion, in welchem die individuelle zur kollektiven Geschichte?

Was macht das Kind für Benjamin so interessant? Handlungs- und Wahrnehmungsweisen sind noch nicht automatisiert, sondern offen und ungefestigt, die Assoziationsspielräume der Sprache sind entgrenzt, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten stehen noch in Frage – dies sind nur einige Aspekte, die sein Interesse am Kind umreißen können. Auch ist das Kind bei ihm keinesfalls niedlich, unschuldig und beliebig formbar. Für Benjamin ist die „Barbarei von Kindern“ widerständig, eigendynamisch und – ganz im Sinne seiner Figur des ‚destruktiven Charakters‘ – auf befreiende Weise ‚destruktiv‘. Auf genau diese Weise wird es bei ihm vom unterdrückten zum revolutionären Subjekt der Geschichte. Innerhalb der Überlieferung findet es keine Berücksichtigung, da diese sich „unweigerlich in den Sieger“ einfühle. Gerade die vergessenen und aufgrund bestimmter Machtgefüge unterdrückten Geschichten sind aber diejenigen, denen er die entscheidende Bedeutung zuschreibt. In den geschichtsphilosophischen Thesen stellt er den Historiker als denjenigen vor, der sich für die „unterdrückte Vergangenheit“ einsetzt. Die Berliner Kindheit beispielsweise entsteht im Selbstverständnis eines solchen ‚Historikers‘, dem die Aufgabe zufällt, die Vergangenheit im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gegenwart zu aktualisieren. Als Ursprung für das verborgene Weiterwirken der Vergangenheit ist die Kindheit der Ausgangspunkt für diese Aktualisierung. Im Rekurs auf das Kind und seine besondere Wahrnehmungsfähigkeit lässt Benjamin Bilder der Kindheit entstehen, deren Bedeutung für die Geschichtsschreibung gerade nicht in der Wiederholung des Vergangenen besteht, sondern seinen Umgang mit der Kindheit zeichnet aus, dass er diese Bilder ‚unter die Lupe nimmt‘, intensiviert und zu einem neuen Ausgangspunkt macht.

Neben den hier ausgeführten Überlegungen gewinnen folgende Schlagwörter im Hinblick auf die Konstellation von Kindheit und Geschichte Bedeutung und können einen Ausgangspunkt für Beiträge darstellen: Sammeln, Dinge und Dingwelt, Spiel und Spielzeug; Fibeln, Lesen, Schreiben; Kinderbuch und kindliche Wahrnehmung; An- und Abwesenheit einer Spur der Vergangenheit; Traum und Erwachen als Generationserfahrung; die Stadt als subjektiver Raum der Kindheit und als Kollektiv(t)raum: Benjamins Kindheitsbuch und das Programm eines proletarischen Kindertheaters.

Sektion 7: Politik, Chryssoula Kambas (Osnabrück), Uwe Steiner (Rice, Houston Texas)

Politik gehört derzeit nicht eben zu den bevorzugten Themen der Benjamin-Forschung. Nach wie vor scheinen Fragestellungen und Erkenntnisstand der Wiederentdeckung Benjamins durch die Studentenbewegung verpflichtet, die ihrerseits im Zeichen der Politik stand. In dieser von aktuellen politischen Interessen geleiteten Rezeptionsphase, die vielfach an die theoretischen und politischen Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre anknüpfte, wurde Benjamin als ein politisch engagierter Intellektueller entdeckt, nicht aber die Politik als ein Gegenstand seines Denkens. Benjamins politisches Interesse lässt sich aber nicht mit einer Wendung zum Marxismus identifizieren, sondern reicht bis in seine Studentenjahre.

Die Beiträge der Sektion sollen sich jeweils einem der drei Schwerpunkte zuordnen:

1. Theoretische Prämissen des Verständnisses von ‚Politik’
Erwünscht sind zum einen Beiträge, die Benjamins Interesse an der Politik in seiner ganzen Bandbreite in den werk- und zeitgeschichtlichen Bezügen nachzeichnen und zur Diskussion stellen, zum anderen aber auch solche, die sich auf einzelne Aspekte konzentrieren, wie z.B. (stichwortartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Rezeption, Diskussion und Adaption politischer Begriffe (z.B. Pazifismus, Gewalt, Generalstreik, Anarchismus, Organisation, Revolution, Marxismus, Zionismus); Kommentare zum politischen Zeitgeschehen; Tradition und Gegenwart politischen Denkens: Klassiker (Kant, Nietzsche, Sorel); Auseinandersetzung mit Zeitgenossen (M. Weber, C. Schmitt, Weber, Unger, Rang, Bloch); systematisch: Politik im Verhältnis zu Ethik, Recht und Theologie; Theorie und Praxis: die Sprache der Politik / die Politik der Sprache; die Politik als Teil der Rezeptionsgeschichte.

2. Politik und Zäsur (in) der Geschichte
Wir gehen von den Prämissen des ‚Theologischen’ in Benjamins Politikvorstellung aus: „wahre“ Politik, „reine“ Gewalt führen einen Zustand jenseits der Geschichte und deren Kontinuum der Macht herauf. Geschichtszeit nimmt unter dem Gesichtspunkt des mensch-lichen Einsatzes, von einzelnen oder von Kollektiven, die Gestalt der Endzeit an. Denkt man an den ‚historischen Materialisten’, so richtet auch er sich an ihr aus, inmitten der Polarisie¬rung der seinerzeit vorwiegend bürgerlich geprägten Gesellschaften. Benjamins Begriff „Politik“ und das Denken einer Zäsur der Geschichte lassen sich in seinen Schriften beispielsweise als ‚Gesichter des Krieges’ untersuchen, wie sie etwa zu Adaption oder Auseinandersetzung mit zeitgenössisch vorfindlichen Macht- und Politikformen führen. Hierher gehören, neben den bereits angedeuteten, u.a. Themen wie ‚der Intellektuelle und die Politik’, Autor-Figuren der Verkörperung des Politischen (z.B. Goethe, V. Hugo), Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen oder Klassikern politischen Denkens (z.B. Weber, Rang; z.B. Kant, Sorel) oder ‚Bürgertum und Revolution’ (Schriftenumkreis Deutsche Menschen). Auch der Begriff „Weltkrieg“ und die Rede vom „kommenden Krieg“ mit den Implikaten zu Politik gehört zum Themenbereich. Weiter ist zu fragen: Hat Benjamins ‚Primat der Politik vor der Geschichte’ unsere rückblickend erinnerungskulturelle Auffassung von der Mitte des 20. Jhs. als „Zivilisationsbruch“ präfiguriert? Es lassen sich Verbindungen zu ‚Verfahren, Geschichte zu schreiben’ nach 1945 denken. Oder: Hat Benjamin - und womit? - politische Denker (z.B. Habermas, Chomsky) nach 1945 inspiriert?

3. Politik und Ausdruck
Hierbei gehen wir von der Prämisse der Funktion des Ästhetischen für die Politik aus. Dieser Themenbereich fasst den politischen Imperativ der ästhetischen Praxis zusammen. Er bestimmt Handlung und Bewertung im „Jetzt“, ist Teil der intellektuellen Aufklärung, auf die Geschichte gewendet führt er zur Dekomposition apologetischer Kanones, z.B.: Theater und Modelle politischen Handelns (Trauerspiel, Meierhold, Brecht u.a.); mediale Formen der Machtausübung (Film, Kunstwerk, Presse); Sprachkritik und Sprache der Politik bzw. des ästhetischen Konformismus (Kraus); Geisteswissenschaften und die Kritik ihrer Verfahren bzw. Begriffe - Modelle von Geschichtsschreibung ‚gegen den Strich’.

Sektion 8: Fallstudien, Antonia Birnbaum (Paris), Karl Solibakke (Syracuse, New York)

Anstatt sein Denken in konventionellen Fragen und Bereichen zu verorten, denkt Benjamin von einem jeweils konkreten Gegenstand her. Die Vorgehensweisen und die Begrifflichkeiten seiner Schriften werden stets neu für den jeweiligen Fall entworfen. Die so in seinen Blick gekommenen Gegenstände haben ihren Ursprung in Begegnungen mit Figuren, die für ihn von Aktualität sind, das heißt, zur historisch-materialistischen Durchdringung des historischen Augenblicks dienen können: Baudelaire, Brecht, Kafka, Proust, Freud.

Historisch wird der Fall in seine Extreme entfaltet, an denen dialektische Bilder, Konstellationen, Korrespondenzen, Vexierbilder zutage treten können. So verfährt Benjamin einerseits im Trauerspielbuch mit der Literatur des Barock, dessen naturgeschichtliche Zerrüttung die Zeitlichkeit des Profanen freilegt, andererseits in der Passagenarbeit mit der Stadt Paris durch die methodische Anwendung des Zitats und der Montage. Aus diesem methodischen Vorgehen bezieht Benjamin die theoretische Prägnanz der Allegorie als lesbares Zeichen, die Kritik als Disziplin einer Mortifikation des Werks, die profane Erleuchtung surrealistischer Bildräume, die entstellte Ähnlichkeit als Denken an den Ursprung.

Wie stellt Benjamin einen historischen Fall dar? Welche Form gibt er seinen ver-schiedenen Begegnungen, wie überliefert er sie? In dieser Sektion werden seine Studien zu Einzelfällen analysiert werden (u.a. der Aufsatz zu Kraus, die Baudelaire-Studien, der Fuchs-Essay). Es können aber auch die historischen Konstellationen eines Falls, der Übergang zwischen Materialbearbeitung und Theorie, oder der Darstellungsmodus des Falls untersucht werden.

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Außerdem sind als Plenumsveranstaltungen zwei Podiumsdiskussionen mit weiteren Teilnehmern vorgesehen.

Das Thema der ersten Diskussion lautet: Diagnose Erfahrungarmut.

Die 1932 verfasste Betrachtung Erfahrung und Armut (urspr. Titel Erfahrungarmut), die 1933 in der Prager Zeitschrift „Welt im Wort“ erschien, steht eher isoliert innerhalb von Benjamins Rezensionen und Feuilletons. Ihre Maxime lautet: „Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm“ (GS II.1, 216). Die Stichworte heißen ,Entwertung des Bildungsguts, Armut an Menschheitserfahrungen überhaupt; ein positiver Begriff des Barbarentums; die Kultur überleben; Lachen der Massenʻ. Haben sie programmatischen Charakter? Es wird zur Diskussion stehen, ob in der heutigen Situation, in der die Wissenschaften und die Künste ubiquitär sprudeln und das globale Menschheits-gedächtnis keine Grenzen mehr kennt, gleichwohl die Diagnose radikaler Erfahrungsarmut ihre Herausforderung behalten hat. Wie lässt sie sich mit der „obersten Aufgabe“ einer Philosophie der Geschichte verbinden, „das Gegenwärtige als ein historisch Entscheidendes zu begreifen“ (GS III, 293)? Benjamin spricht im Fuchs-Essay von der destruktiven Seite der Dialektik, die der Kulturgeschichtsschreibung abgehe, indem sie ihre Schätze lastend auf dem Rücken der Menschheit häuft. „Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, sie abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen.“ Welcher Gewaltsamkeit bedarf diese Kraft? Von welchem „Festhalten“ träumt diese Hand? In einer Reflexion zu Methodenfragen der Geschichte zitiert Benjamin zustimmend Huizinga, der Durchschnittshistoriker beantworte mehr als ein Weiser fragt (GS VI, 442).

Die zweite Diskussion gilt dem Thema: Benjamin und die europäische Intelligenz.

So sehr Benjamin sich im deutschen Schrifttum verankert sah, so sehr hat er sich als Leser, Kritiker, Übersetzer und Theoretiker in einem größeren Horizont begriffen. Die französische Literatur und Kultur, das Experiment der russischen Revolution, die Aufenthalte in Italien und die Impulse des Judentums in Europa haben sein Denken geprägt. Die Rolle des Intellektuellen in den politischen Krisen Europas hat ihn immer wieder beschäftigt und sein Geschichtsdenken bestimmt. Seine Surrealismuskritik trägt den Titel „Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“. Mit der Passagenarbeit wollte er eine singulär konzipierte Urgeschichte der europäischen Moderne im 19. Jahrhundert schreiben. Aber auch entlegeneren Texten wie etwa der Rezension „Drei Bücher“ zu Sklovskij, Benda und Polgar oder dem „Kaiserpanorama“ in der Einbahnstraße ist das historisch-politische Interesse am Zustand der europäischen Dinge virulent. Benjamin sah sich mit diesem Interesse nicht allein. Es wird zu erörtern sein, wieweit in bestimmten Figuren im Kontext des Weltkriegs und der Nachkriegszeit ein unabhängiges Denken sich artikulierte, das politisch und geschichtsbewusst ausgerichtet, aber durchaus eurozentrisch fundiert war. Ob an solches Denken heute anzuknüpfen sei oder ob solches Denken seinen historischen Ort verloren hat, soll die Diskussion zu beantworten versuchen.

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Für Sektion 1 wurde ein Blog eingerichtet, der unter der folgenden Adresse verfügbar ist:
http://benjamin2013geschichte.wordpress.com/
Für die Sektionen 2 bis 8 bitten wir um die Einsendung von Abstracts, die sich einer der Sektionen zuordnen. Die Abstracts sollen ca. 300 Wörter umfassen und bis zum 2.1.2013 an die folgende Adresse geschickt werden: Benjamin-Geschichte2013@uni-frankfurt.de
Eine Antwort soll im Februar erfolgen.

Programm

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Nadine Werner

Goethe Universität Frankfurt am Main, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft

069/798-32061
069/798-32062
nadine.werner@tfm.uni-frankfurt.de


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