Der Betrieb als sozialer und politischer Ort

Der Betrieb als sozialer und politischer Ort

Veranstalter
Projekt "Jüngere und jüngste Gewerkschaftsgeschichte", Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung; Hans-Böckler-Stiftung
Veranstaltungsort
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.11.2012 - 16.11.2012
Deadline
30.06.2012
Von
Johannes Platz

Call for Papers zur Tagung „Der Betrieb als sozialer und politischer Ort – Neue Perspektiven der Gewerkschaftsgeschichte III“, Tagung des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung, Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung, 15.-16. November 2012

Jahrestagung des Kooperationsprojekts „Jüngere und jüngste Gewerkschaftsgeschichte“ der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung

Der wirtschaftliche Betrieb bildet ein eigenes soziales Handlungsfeld, das sowohl für die gewerkschaftliche Praxis an der Basis als auch für die Beziehungen zwischen Arbeitern, Angestellten und Arbeitgebern konstitutiv ist. Zwei Forschungsansätze haben sich für die Forschung zum Betrieb als sozialem Handlungsfeld als wegweisend erwiesen. In den 1990er Jahren rückten Sozial- und Unternehmenshistorikerinnen und -historiker die beziehungsgeschichtliche Analyse in der Industrie- und Arbeitergeschichte mittels des Ansatzes der Mikropolitik ins Zentrum ihrer Untersuchungen. Die in diesem Zusammenhang verfolgte akteursbezogene Forschung vermag es, die Leerstellen zu füllen, die einseitig unternehmenshistorisch-betriebswirtschaftlich orientierte Ansätze auf der einen Seite und lediglich organisationsbezogene gewerkschaftsgeschichtliche Ansätze auf der anderen Seite offen lassen. Insbesondere die Machtbeziehungen zwischen den Akteuren und Akteursgruppen werden in den Konzepten der Mikropolitik in den Blick genommen.

Die mikropolitischen Beziehungen, also das interaktive, interessengeleitete und auf Machtdurchsetzung gerichtete Verhalten von Akteuren in Organisationen, zum Beispiel im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmensführungen, zwischen Betrieb und lokaler bzw. regionaler Umwelt, zwischen gewerkschaftlicher Basis und Organisation können so besser entschlüsselt werden. 1

Als zweiter zentraler Forschungsansatz kann der Feldbegriff von Bourdieu herangezogen werden, von dem ebenfalls wesentliche Forschungsimpulse ausgingen. Der Betrieb ist eingebettet in den größeren Zusammenhang des ökonomischen Feldes, das sich Pierre Bourdieu zu Folge durch die Merkmale des Kampfes um verschiedene Kapitalien auszeichnet. Der Bourdieusche Feldbegriff eignet sich für gewerkschafts- und unternehmensgeschichtliche Untersuchungen, weil er den Vorteil hat, auf der einen Seite handlungs- und akteursbezogene Beobachtungen zuzulassen, andererseits eine Theorie der Strukturierung der sozialen Räume „Betrieb“ bzw. „Unternehmen“ zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage lassen sich die mikropolitischen Auseinandersetzungen im Betrieb, die häufig Kämpfe um Deutungshoheit, um soziale und ökonomische Geltung, um Macht sowie um ökonomische Ressourcen sind, auf die konkurrierenden Feldkräfte im Betrieb zurückführen. Auf der anderen Seite lässt sich die jeweilige soziale und politische Stellung der Akteure unter der Berücksichtigung ungleicher Verteilungen von sozialen, symbolischen, kulturellen und ökonomischen Kapitalien aufgrund ihrer Verteilung im sozialen Raum „Betrieb“ besser, vor allem realistischer beschreiben.2

Ziel der Tagung ist es, diese beiden Ansätze für die sozial- und gewerkschaftsgeschichtliche Forschung eines Zeitraumes, der hier bewusst als langes 20. Jahrhundert verstanden wird, fruchtbar zu machen. Unter Betrieben im Sinne der hier vorgestellten Fragestellungen sollen nicht nur Organisationseinheiten industrieller Großunternehmen und deren Werke verstanden werden, sondern ebenso öffentliche oder private Einrichtungen, wie Krankenhäuser oder Kaufhäuser und auch kleinere wirtschaftliche Einheiten.

Gefragt wird insbesondere nach den Beziehungen von Gewerkschaften zu den verschiedenen Akteursgruppen im Betrieb: zur Belegschaft, zu Unternehmensleitungen und Aufsichtsräten, der betrieblichen Bürokratie und zu Experten im Betrieb. Von Interesse sind aber auch der Wandel der Stellung verschiedener Beschäftigtengruppen wie Facharbeiter- und Facharbeiterinnen, Angestellte, weibliche Beschäftigte, Migrantinnen und Migranten, Ungelernte, Auszubildende und die Auswirkungen auf betriebliche Mitbestimmung und gewerkschaftliche Organisation. Welchen Veränderungen unterlagen betriebliche Strategien der Gewerkschaften zur Rekrutierung dieser verschiedenen Gruppen? Und wie passten auf der anderen Seite Akteure aus den verschiedenen Gruppen ihre Strategien an geänderte Arbeitswelten an, um ihre (Selbst-)Organisation voranzutreiben und zu stärken?

Die Tagung fragt insbesondere nach Beiträgen, die sich mit folgenden Aspekten beschäftigen:

- der Betrieb als politischer Ort, als Ausgangspunkt der politischen und gewerkschaftlichen (Selbst-)Organisation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hier interessieren Forschungen zu parteipolitischen Betriebsgruppen, zur gewerkschaftlichen Politisierung und Rekrutierung im Betrieb, zur Betriebsratsarbeit und zur Entwicklung von Betriebsratsopposition, zur Mitbestimmung und zu deren verschiedenen Organen und Ebenen. Wie setzten sich Betriebsräte zusammen? Wie war das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung? Lässt es sich eher als konflikthaft oder konsensorientiert beschreiben? Existieren branchenspezifische Unterschiede? Wie war die Stellung der Akteure der Unternehmensmitbestimmung zu ihren „Kontrahenten“ im Unternehmen, der unternehmernäheren Teile der Verwaltung und Administration? Aus welchen Anlässen kam es zu Streiks und Arbeitsniederlegungen? Wie gestalteten sich Kämpfe um Arbeitsbedingungen, bei Arbeitsplatzverlust durch Betriebsstillegungen und in Tarifauseinandersetzungen? Inwiefern wirkten sich spontane Arbeitsniederlegungen („wilde Streiks“) auf die Arbeits- und Tarifbeziehungen im Betrieb aus? Wie war das Verhältnis der unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen im Betrieb zueinander?3

- der Betrieb als sozialer Ort, der den Alltag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer prägt. Welchen Einfluss nahmen Betriebsräte und Gewerkschaften auf die soziale Ausgestaltung des Betriebs? Welche Rolle spielten Erfahrung und Eigensinn der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Wie wirken sich die betrieblichen Bestrebungen zu Disziplinierung und Flexibilisierung der Arbeitswelten aus? Welche Auswirkungen hatte betriebliche Sozialpolitik auf die Entwicklung eines betrieblichen Bewusstseins oder gar betriebsgemeinschaftlicher Leitbilder und Vorstellungswelten? Wie verhielten sich diese Einstellungsmuster zur Entwicklung eines allgemeiner orientierten Arbeiterbewusstseins bzw. eines gewerkschaftlichen Selbstverständnisses? Welche Rolle spielten Änderungen der Produktionsregime, der sozialen und professionellen Stellung und der Zusammensetzung von Belegschaften im Betrieb für gewerkschaftliche Rekrutierungsmuster (Tertiarisierung, Rationalisierung, Automation und informationelle Revolution)?

- der Betrieb als (sozio-)kultureller Ort: damit sind über das engere Feld der gewerkschaftlichen Organisierung hinaus soziokulturelle Vereinigungen und Vereine gemeint, die im Umfeld großer Werke und Unternehmen gegründet werden, um sich zum Beispiel der Freizeitgestaltung, dem Sport, der Gesundheit und der Kreativität zu widmen. Welche Rolle spielten sie für die Etablierung einer eigenen Unternehmenskultur und wie prägt diese die Arbeitswelten und die betrieblichen Wahrnehmungen? Welchen Einfluss übten sie auf die soziale und kulturelle Rahmung der gewerkschaftlichen Arbeit vor Ort aus? Wie gestalteten Betriebsräte betriebliche Aus- und Weiterbildung mit? Welche Rolle spielte gewerkschaftliche Bildungsarbeit auf der betrieblichen Ebene?

- der Betrieb als kultur- und ideengeschichtlicher Ort: hier griff Expertenhandeln im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ im 20. Jahrhundert zunehmend Raum, zu dem die Gewerkschaften Stellung beziehen mussten: Wie verhielt es sich mit der Rolle der Experten im Betrieb seit dem Aufkommen des Social Engineering in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Inwiefern hatte das Handeln der Sozialexperten eine Auswirkung auf die Konstitution sozial befriedender betriebsgemeinschaftlicher Ideologien und welche (konflikt- oder konsensorientierten) Gegenstrategien verfolgten die Gewerkschaften? Wie wirkte sich die Anwendung arbeitswissenschaftlichen Wissens auf die betriebliche Praxis im Arbeits- und Gesundheitsschutz aus? Welche Pfade führten vom Social Engineering der Zwischenkriegszeit zur Etablierung von Human Relations im Betrieb in den 1950ern und zur Humanisierung der Arbeit in den 1970ern und welche grundlegenden Brüche waren zu verzeichnen? Gab es auf betrieblicher oder überbetrieblicher Ebene eine Konkurrenz von betrieblichen und gewerkschaftlichen Experten im Hinblick auf anwendungsorientierte Wissenschaften im Betrieb?4

- der Betrieb als Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung theoretischer und konzeptioneller Ansätze: Neben empirisch-analytischen Studien sind auch Arbeiten gefragt, die explizit zur Theoriebildung beitragen. In diesem Zusammenhang ist herauszuarbeiten, inwieweit Studien zu Betrieben und Gewerkschaften auch einen Beitrag zur allgemeinen Theorienbildung leisten und inwieweit mikropolitische Ansätze und Untersuchungen, die auf dem Feldbegriff rekurrieren, durch entsprechende Arbeiten weiterentwickelt werden. Nicht zuletzt methodische Überlegungen zu Vergleichen und Transferleistungen spielen in diesem Zusammenhang auch eine wichtige Bedeutung,

Es sind daher Studien gefragt, die sich mit den politisch-ökonomischen Zäsuren im 20. Jahrhundert und ihren Auswirkungen auf die betriebliche Welt auseinandersetzen, aber auch solche, die Kontinuitäten in den Blick nehmen.5 Wir bitten um Exposés zu Untersuchungen aus dem deutschen und europäischen Raum, einschließlich Osteuropa. Konzeptionell und methodisch sollten die Beiträge ebenso sozial- und wirtschaftsgeschichtlich fundiert wie den Ansätzen der neueren Kulturgeschichte gegenüber aufgeschlossen sein. Besonders begrüßt werden Arbeiten, die Perspektiven und Ansätze aus den Gender Studies einbeziehen. Grundsätzlich gefragt sind quellengestützte Arbeiten, die sich auch mit interdisziplinären Ansätzen und Forschungsfragen befassen, einzelne betriebliche Studien ebenso wie vergleichende Arbeiten, die mehrere Betriebe und Unternehmen einbeziehen.

Wir bitten um Exposés einer Länge von 3000 Zeichen, die bis zum 30. Juni 2012 an die Adresse des Projekts „Jüngere und jüngste Gewerkschaftsgeschichte“ eingesandt werden sollen (bevorzugt per E-Mail).

1 Thomas Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungen zur Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22,1996, S. 118-142; Karl Lauschke, Thomas Welskopp (Hg.): Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts. Essen 1994 (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; 3); Dietmar Süß: Mikropolitik und Spiele: zu einem neuen Konzept für die Arbeiter- und Unternehmensgeschichte, in: Jan-Otmar Hesse; Christian Kleinschmidt; Karl Lauschke (Hg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte. Essen 2002 (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegschichte; 9), S. 117-136.
2 Pierre Bourdieu: Das ökonomische Feld, in: Der Einzige und sein Eigenheim. Schriften zu Politik und Kultur 3. Hamburg 1998, S. 162-20; ders.: Neue Perspektiven für eine Soziologie der Wirtschaft. Wiesbaden 2006.
3 Als exemplarische Studien seien hier genannt: Karl Lauschke: Die Hoesch-Arbeiter und ihr Werk. Sozialgeschichte der Dortmunder Westfalenhütte während der Jahre des Wiederaufbaus 1945-1966. Essen 2000; Dietmar Süß: Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945-1976. München 2003 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 55) sowie der Sammelband Klaus Tenfelde, Karl-Otto Czikowski, Jürgen Mittag, Stefan Moitra, Rolf Nietzard (Hg.): Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns. Essen 2007.
4 Timo Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2010; Emil Walter-Busch: Faktor Mensch. Formen angewandter Sozialforschung der Wirtschaft in Europa und den USA, 1890-1950. Konstanz 2006; Ruth Rosenberger: Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland. München 2008 (Ordnungssysteme; Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; 26).
5 Hier sei neben der uferlosen Literatur zu den politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts nur auf die jüngste Literatur, die den Strukturbruch der 70er Jahre diskutiert, hingewiesen: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio, Jürgen Mittag (Hg.): „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren. Bonn 2011; Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 2. Auflage, Göttingen 2010; Luc Boltanski, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.

Programm

Kontakt

Dr. des. Johannes Platz

Friedrich-Ebert-Stiftung, Archiv der sozialen Demokartie, Projekt "Gewerkschaftsgeschichte"
Godesberger Allee 149, 53170 Bonn
0228/883-8072
0228/883-9204

Johannes.Platz@fes.de

http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/index.htm