Abenteuer: Historische Annäherungen an ein paradoxes Bedürfnis

Abenteuer: Historische Annäherungen an ein paradoxes Bedürfnis

Veranstalter
Dr. Nicolai Hannig, LMU München; Dr. Hiram Kümper, Universität Bielefeld
Veranstaltungsort
Historisches Kolleg
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2012 - 15.09.2012
Deadline
30.03.2012
Website
Von
Nicolai Hannig/Hiram Kümper

Sicherheit, menschliches Sicherheitsbedürfnis und das Scheitern menschlicher Sicherungssysteme spielen bereits seit einigen Jahren eine wachsende Rolle in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Das hat sicher auch lebensweltliche und akut politische Gründe, erlebten doch die westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten eine tiefgreifende Erschütterung ihres Vertrauens in solche modernen Sicherheitssysteme, nicht zuletzt gegenüber Terroranschlägen oder Naturkatastrophen. All diesen Forschungen ist die Grundannahme gemein: Der Mensch strebt grundsätzlich nach Sicherheit. Das würde in dieser Allgemeinheit wohl auch niemand bestreiten.

Die Münchner Tagung soll sich dagegen einem zweiten anthropologischen Grundmuster widmen, das in einem scheinbar paradoxen Verhältnis zu diesem menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit steht – dem bewussten Verzicht auf Sicherheit oder anders formuliert, der Suche nach Abenteuern. Denn offenbar wohnt dem Menschen ein gewisser Drang inne, Sicherheiten ganz aufzugeben, aus dem gewohnten Zusammenhang des Lebens herauszufallen. „Abenteuer“ verstehen wir damit als eine freiwillige Aufgabe solcher Sicherheiten, die nicht primär, oder doch wenigstens nicht allein einem rationalen Ziel bzw. einer existenziellen Notwendigkeit folgt, wie etwa der Behebung von Versorgungsengpässen auf einer gefährlichen Jagd. Frei gewendet: Der Weg, also das Abenteuer selbst, ist hier das Ziel. Dass dabei am Ende ein Gewinn, eine Belohnung, eine höhere spirituelle Seinsform oder etwas anderes Erstrebenswertes stehen mag, ist damit keineswegs ausgeschlossen. Aber das Abenteuer ist mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck, mehr als ein Risiko, das bloß in Kauf genommen wird. Das Abenteuer wird bewusst gesucht.
Aus der Beobachtung dieses paradoxen Grundverhältnisses zwischen zwei regelmäßig beobachtbaren, aber eigentlich zutiefst konfligierenden menschlichen Verhaltens- bzw. Bedürfnismustern ergibt sich ein ganzes Spektrum spannender Fragen. Einige davon möchten wir in München aufgreifen.

(1) Ganz unmittelbar verbunden scheint die Idee des Abenteuers erstens mit dem Drang, sich zum eigenen Selbst in ein Verhältnis zu setzen; es ist ein Ich-Projekt und damit eine typische Individualisierungsdisposition. Das schließt natürlich nicht aus, dass nicht auch Abenteuer geteilt werden können (und es regelmäßig werden), dass sie nicht Teil der Identitätsbildung einer größeren Gruppe sein können, dass nicht aus dem Ich- ein Wir-Projekt wird; im Gegenteil. Aber so oder so wird durch das Abenteuer das Individuum als Selbst angesprochen und nachhaltig transformiert. Zu fragen wäre also nach der Individualität und Kollektivität von Abenteuern, nach dem Verhältnis von Selbst- und Gemeinschaftserfahrung. Das Abenteuer als historische Kategorie kann so zu einer Art Sonde werden, mit der sich verändernde Selbstwahrnehmungen sichtbar machen lassen.

(2) Zweitens müsste man die Ausdeutung des Abenteuers wie des Abenteurers im gesellschaftlichen Kontext genauer analysieren. Denn vielfach verbindet sich der Ausbruch aus der Sicherheit oder dem Konventionellen ja nicht nur mit einer wertneutralen Selbsterfahrung, sondern auch mit Ideen und Erfahrungen des Außer- oder Übermenschlichen, kurz gesagt: Ideen von Heldentum. Historisch beobachtbar ist das beispielsweise sehr deutlich seit dem Mittelalter in der Ritterepik – wenn man nicht sogar die antiken Mythen auch in gewisser Weise als „Abenteuerliteratur“ verstehen will. In diesen Denkzusammenhang fallen aber auch viele neuzeitliche und gegenwärtige gesellschaftliche Phänomene, etwa der noch sehr junge Siegeszug der „extreme sports“, in denen die körperliche und emotionale Unversehrtheit bewusst und ganz konkret gefährdet wird. Das verbindet sich jedoch mit der seltsam doppel¬bödigen Beobachtung, dass Abenteuer im Verlauf des 20. Jahrhunderts andererseits scheinbar zunehmend auch im sozialen Lernen oder kindlichen Spiel, also beispielsweise auf sog. Abenteuer- bzw. Robinsonspielplätzen, oder gleich ganz in der „virtual reality“, sei es im Computerspiel, im Chat oder in sozialen Netzwerken, gesucht werden. Ist diese „Virtualisierung von Abenteuern“ ein Eingeständnis an das gleichzeitige Bedürfnis nach Sicherheit? Wie verändert sich die emotionale Bereitschaft, Abenteuer zu suchen? Und inwieweit provozieren Abenteuer sich verändernde Körperwahrnehmungen?

(3) Drittens allerdings wird man nicht übersehen dürfen, dass, so sehr das Abenteuer für den Einzelnen oder eine Gruppe zum Fundamentalerlebnis wird, das sich jenseits pragmatischer, zweckgebundener Kategorien abspielt, es eine starke historische Verbindung des Abenteuers zur wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Expansion gibt – eingedenk aller, häufig genug prekären meist imperialen Implikationen. Es geht also um Deutungen, Deutungshoheiten und damit in ganz unmittelbarer Weise auch um die Frage nach der Inanspruch¬nahme von Abenteuern durch Dritte. Beim oben angeführten Beispiel „extreme sports“ ist das unmittelbar einleuchtend: ein stetig wachsender Zweig der Freizeitindustrie lebt davon. Historisch weiter zurück greift etwa das Phänomen der Entdeckungsfahrten und Expeditionen: Inwieweit wird hier zweckgebundenes Risiko zum idealisierten Abenteuer verbrämt? In welchem Maße bedingen sich persönliche Abenteuerlust und wissenschaftlicher Forschungsdrang? Oder geht jeweils beides Hand in Hand? Und wie ließen sich solche Kategorien mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft überhaupt einfangen?

(4) Schließlich ist viertens auch nach der konzeptionellen und semantischen Einbettung zu fragen. Wenn Abenteuer eine Grenz- oder Transzendenzerfahrung darstellen, bringt das Sprechen darüber beinahe zwangsläufig Probleme mit sich, weil das Vokabular des Alltäglichen nicht ausreichen wird, solche Erfahrungen zu beschreiben. Man müsste also nicht zuletzt begriffs- und sprachgeschichtlich fragen, welchem semantischen Wandel der Abenteuerbegriff selbst unterliegt, welche Metaphern und Figuren zum Einsatz kommen, um das Abenteuer artikulierbar zu machen.

Dies wären nur vier mögliche und ganz offensichtlich auch eng ineinander verzahnte Fragefelder, die uns intuitiv an diesem so seltsam schwergängigen Begriff „Abenteuer“ faszinieren und bewusst offen für weitere Anschlüsse bleiben. Dass es bei dieser Tagung noch nicht um eine systematische Erschließung des Forschungsfeldes gehen kann, liegt auf der Hand, denn eine geschichtswissenschaftliche „Abenteuer-Forschung“ im engeren Sinne existiert bislang ja noch gar nicht. Wir wollen daher in langzeitlicher Perspektive auf Vormoderne und Moderne erstmals versuchen, das Abenteuer als das vielschichtige Konzept, das es ist, zu erfassen und dessen gesellschaftliche Gestaltungskraft einer historischen Überprüfung zu unterziehen. Deshalb sind auch außergewöhnliche und experimentelle Themen absolut denkbar und willkommen.

Bitte senden Sie einen Abstract Ihres geplanten Vortrags von nicht mehr als einer Seite zusammen mit einem kurzen Lebenslauf bis zum 30.3.2012 an Nicolai.Hannig@lmu.de.

Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Programm

Kontakt

Dr. Nicolai Hannig

Ludwig-Maximilians-Universität München
Historisches Seminar
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
E-Mail: Nicolai.Hannig@lmu.de

Dr. Hiram Kümper

Universität Bielefeld
Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld

E-Mail: Hiram.Kuemper@uni-bielefeld.de


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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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