Ein spätkarolingisches Apokalypse-Fragment wurde vor einiger Zeit als Einbandmakulatur um einen Druck des 16. Jahrhunderts in der Mainzer Wissenschaftlichen Stadtbibliothek entdeckt. Das seitdem abgelöste Fragment Hs frag 18 ist ebenso wie die nahezu gleichzeitige illustrierte Apokalypse in Cambrai (Bibliothèque Municipale, Ms. 386) eine wahrscheinlich direkte Kopie der Trierer Apokalypse (Stadtbibliothek Trier, Cod. 31) aus der Zeit Karls des Großen. Die Trierer Handschrift ist nicht nur die älteste erhaltene illustrierte Apokalypse überhaupt, sondern auch eine relativ getreue Kopie eines spätantik-römischen Bilderzyklus.
Die Bedeutung des Mainzer Fragments liegt zunächst darin, daß es zu den wenigen frühmittelalterlichen Handschriften und Wandmalereien zählt, die in der direkten Nachfolge des spätantik-römischen Apokalypse-Zyklus stehen. Die anderen frühmittelalterlichen Apokalypsen, wie z.B. die karolingische Valenciennes-Apokalypse und die ottonische Bamberger Apokalypse, haben demgegenüber einen bereits stark reduzierten und vereinfachten Bildbestand.
Das Mainzer Fragment ist aber auch wegen seines Textes von großer Bedeutung, da es den Trierer Zyklus mit dem Apokalypse-Kommentar des Angelsachsen Beda Venerabilis (um 700) verbindet. Der Beda-Kommentar war zwar im Mittelalter weit verbreitet, ist aber ansonsten nicht in illustrierten Ausgaben erhalten. Das Mainzer Fragment nimmt demnach eine Sonderstellung ein im Vergleich zu den zwei großen Gruppen von illustrierten Apokalypse-Kommentaren, den spanischen Beatus-Handschriften und den gotischen anglo-französischen Apokalypsen.
Man hat in jüngster Zeit verschiedentlich die Frage nach der Funktion dieser Bilder-Apokalypsen aufgeworfen. Die karolingischen Apokalypsen waren sicher allein für den monastischen Gebrauch bestimmt, vermutlich vor allem für die liturgischen Lesungen des gemeinsamen Stundengebets, aber auch für die private Bibel-Lektüre der Mönche.