Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Veranstalter
Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen
Veranstaltungsort
Eberhard Karls Universität Tübingen, Neue Aula (Hörsaal 9, Großer Senat), Wilhelmstraße 7, 72074 Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2011 - 05.11.2011
Deadline
20.10.2011
Von
Karl-Peter Krauss

Im Fokus der Tagung steht die Gesellschaft der deutschen Ansiedler innerhalb des Mosaiks ethnokonfessioneller Lebenswelten in ihren regionalen Ausprägungen und Verflechtungen. Bezugsrahmen ist der Wandel einer Ständegesellschaft traditionellen Zuschnitts hin zu den Anfängen einer bürgerlichen Gesellschaft.

Eine erste Bestandsaufnahme macht erhebliche Forschungsdefizite in Bezug auf alltägliche regionale Lebenswelten der deutschen Ansiedler im Königreich Ungarn offenkundig. Eine Ursache liegt an schwerer zugänglichen Quellen, an der Betonung ereignisgeschichtlicher Vorgänge, am Mangel an methodischen Konzeptionen für diese Thematik, aber auch an der etablierten Staatszentriertheit der Erforschung von Migrationsvorgängen. Doch ein Zugang zu alltagsgeschichtlichen Fragestellungen aus der Perspektive der Untertanen heraus scheitert an den eher seltener überlieferten Selbstzeugnissen, Biographien, Tagebüchern, Briefen. Bei Letzteren handelt es sich in aller Regel ohnehin um aus amtlichen Gründen überlieferte Korrespondenz; diese Provenienz gilt es zu berücksichtigen. Das Forschungsdefizit tritt noch deutlicher in Bezug auf die Auswertung von nicht-intendierten, gerichtlichen Akten über Personen zutage. In diesem grundsätzlichen Dilemma befindet sich die Forschung hinsichtlich des Bemühens, einen Zugang zu den alltäglichen Lebenswelten und sozialen Interaktionsräumen der Untertanen im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu finden.

Ansatzpunkte der Tagung sind die Begriffe „Normsetzung“ und „Normverletzung“. Norm wird in diesem Zusammenhang sowohl soziologisch als „soziale Norm“ sowie jurisdiktionell als „Rechtsnorm“ verstanden. Bei der „Normverletzung“ geht es damit einerseits um deviantes Verhalten von Individuen und Gruppen, das abweicht von den Normen und Werten einer Gesellschaft, andererseits geht es um Delinquenz, bei der es um die Übertretung von Rechtsnormen geht. Delinquentes Verhalten ist ebenfalls deviant, aber ist (noch) nicht abgeurteilt. Delinquenz bzw. nach der Verurteilung „Kriminalität“, gehören damit auch zu den die Normen verletzendem Verhalten. Normverletzungen werden somit verstanden als Verhaltensweisen, die in Widerspruch zu den Kollektivgefühlen, Gruppenregeln und institutionell-rechtlichen Regelungen stehen. Damit geht es um die ganze Bandbreite von der sanktionsfreien, aber ggf. informellen oder symbolischen bis zur rechtlich-formell sanktionierten Normverletzung. Entsprechend erfolgt „Normsetzung“ sowohl durch kodifiziertes Recht als auch durch die Stringenz der sozialen Kontrolle einer Gruppe innerhalb der zeitlichen und situativen Kontextabhängigkeit von Normen, die zu normkonformem Verhalten anhält.

Mit der Verletzung und Sanktionierung von Normen werden diese wieder in Erinnerung gerufen sowie ihre Gültigkeit bestätigt. Damit aber tragen sie zur Stabilisierung einer Gesellschaft bzw. einer Gruppe bei. Da die „alltäglichen Lebenswelten“ und ihr Normengefüge sowie die darin implizierten Veränderungsprozesse auf Grund mangelnder Quellen nur schwer erfassbar sind, setzt sich die Tagung das Ziel, sich an die Alltagspraxis über den Umweg des Außeralltäglichen bzw. an seine Normen über die Normverletzung anzunähern oder eine Definition der Mitte über die Peripherie anzustreben. Normverletzungen können so konstitutiv für die Rekonstruktion von Normen sein. Dabei geht es nicht um Sozialromantik und Idyll, sondern um das Ausleuchten von verschiedenen Abstraktionsebenen (Untertanen in ihrer sozialen Differenziertheit – Dorf – Herrschaft – weltliche und kirchliche Obrigkeiten – ethnokonfessioneller Kontext u. a.) und ihre analytische Verknüpfung (Mikro- und Makrokosmos), um ihre „dichte Beschreibung“, auch darum, wie Wahrnehmung konstruiert ist, wie sie möglicherweise als sozialdisziplinatorisches Herrschaftsinstrument manipuliert, wie individuelles Erinnern und kollektives Gedächtnis aufgebaut wird, wie sich Gruppendynamik konstituiert und welche Semiotik sich darin äußert, aber auch, wie Normen kommuniziert werden. So geht es um die nicht unbescheidene Ambition, sich an die alltäglichen Lebenswelten einer politisch weitgehend sprachlosen Minderheit anzunähern.

Die einzelnen Beiträge sind dem Ziel verpflichtet, neue, bislang wenig beachtete Quellen mit neuem Deutungspotential als Grundlage für die Ausarbeitung heranzuziehen und auszuwerten, wozu sich Fallbeispiele eignen. In Frage kommen hierbei insbesondere Rechtsquellen. Sie ermöglichen wegen ihrer relativ guten Überlieferung Forschungen über „Normverletzungen“ in der vormodernen Gesellschaft. Die nicht-intendierten oder auf der Grundlage von Zwängen entstandenen gerichtlichen Akten sind wichtige Quellen zur Erforschung jener illiterater Schichten, die sonst kaum Spuren hinterlassen hätten. Bei Gerichtsakten (Straf-, Zivilgerichtsakten, Freiwillige Gerichtsbarkeit, kirchliche bzw. staatliche Ehegerichtsbarkeit) handelt es sich um Dokumente, die Wirklichkeit in wechselndem Grade konstruieren und manipulieren. Doch gerade innerhalb dieser Argumentationskonstrukte schimmert das Normen- und Wertesystem der Verfasser oder deren Vorstellung von der Erwartungshaltung der Empfänger durch, besonders dann, wenn mehrere solcher Konstrukte aufeinanderprallen.

Die Tagungsbeiträge von Referenten aus Kroatien, Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Deutschland einschließlich des Festvortrages sind drei Themenblöcken zugeordnet.

I. Konstituierung und Kommunikation von Normen
Im Fokus steht die Etablierung von verfassten und nicht kodifizierten Normen und deren Kommunikation in einem „neuen“ jurisdiktionellen, soziokulturellen und ethnokonfessionellen Umfeld innerhalb der dahinter stehenden Adaptions- und Akkulturationsprozesse sowie Reformansätze in verschiedenen Handlungs- und Raumebenen (staatliche, kirchliche, grundherrliche, dörfliche Handlungsräume). Wie lassen sich Normen „vermessen“, wie werden sie vermittelt und wer sind die Akteure? Handelt es sich ausschließlich um herrschaftlich oder kirchlich initiierte sozialdisziplinatorische Maßnahmen oder um komplexe Interaktionen zwischen sozial zunehmend sich ausdifferenzierenden Gruppen von Untertanen und den Obrigkeiten?

II. Normverletzung und Alltagspraxis
Eine Personalisierung von Normverletzung auf individueller und kollektiver Ebene soll zur Rekonstruktion von Alltagspraxis führen. Dabei geht es um die Perzeption, Beachtung bzw. Missachtung von Normen und ihre Wirksamkeit im Alltag. Die herangezogenen Fallbeispiele auf der mikrogeschichtlichen Ebene sollen hinsichtlich ihrer Repräsentativität kontextualisiert werden. Es geht auch um die Frage, was die Antriebskräfte zu Veränderungen im sozialen, demographischen, wirtschaftlichen, religiösen usf. Verhalten sind und was den individuellen Normenkodex konstruiert und dekonstruiert?

III. Von der individuellen Normverletzung zum sozialen Konflikt
Im Mittelpunkt stehen (gewaltsam ausgetragene) soziale Konflikte im Spannungsfeld von Staat, Herrschaft und Untertanen. Wie werden Konfliktbereitschaft kommuniziert und Konflikte organisiert, welche Dynamik liegt ihnen zu Grunde, gibt es Unterschiede hinsichtlich der Strategien in verschiedenen ethnokonfessionellen und sozialen Gruppen bei der Austragung von Konflikten (Unruhen, Tumulte, Aufstände, Revolution)? Neben einer Verortung der komplexen Konflikt- und Interessenkonstellationen soll auch nach den Mechanismen von Konfliktlösungsstrategien und ihren Auswirkungen auf eine mögliche neue Justierung von Normen gefragt werden.

Programm

Donnerstag, 3. November 2011

18.30 Uhr
Eröffnung der Tagung
Prof. Dr. Reinhard Johler, Leiter des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Grußwort
Prof. Dr. Barna Mezey, Rektor der Eötvös Loránd Universität (ELTE), Budapest

Einführungsvortrag
Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit
Prof. Dr. Alexander Schunka, Erfurt

20.00 Uhr
Empfang

Freitag, 4. November 2011

I. Konstituierung und Kommunikation von Normen
Moderation: Prof. Dr. Gerhard Seewann, Fünfkirchen (Pécs)

9.00 bis 9.45 Uhr
Das Gefängnis im ungarischen Vormärz. Zur Rolle der Kerkerstrafe in der Patrimonialgerichtsbarkeit
Prof. Dr. Barna Mezey, Budapest

9.45 bis 10.30 Uhr
Phasen und Ebenen der kirchlichen Normenkommunikation in Transdanubien im 18. Jahrhundert
Dr. Zoltán Gőzsy, Fünfkirchen (Pécs)

10.30 bis 11.00 Uhr
Pause

11.00 bis 11.45 Uhr
Die Geliebte des Grundherrn. Etablierung und Instrumentalisierung von Normen in Eheangelegenheiten
Dr. Karl-Peter Krauss, Tübingen

11.45 bis 12.30 Uhr
Das Ende des Deutsch-Banatischen Ansiedlungsregiments 1783
Prof. Dr. Alexander Buczynski, Agram (Zagreb)

12.30 bis 14.15 Uhr
Mittagspause

II. Normverletzung und Alltagspraxis
Moderation: Prof. Dr. Reinhard Johler, Tübingen

14.15 bis 15.00 Uhr
Normverletzung als Auswanderungsgrund
PD Dr. Márta Fata, Tübingen

15.00 bis 15.45 Uhr
Staatsbeamter oder Klient? Ein „Vermittler” aus Ostungarn zwischen verschiedenen sozialen Normen
Dr. Judit Pál, Klausenburg (Cluj-Napoca)

15.45 bis 16.15 Uhr
Pause

16.15 bis 17.00 Uhr
Zwischen Ungewissheit und Furcht. Bürgerlicher Alltag in Ödenburg während des Rákóczi-Aufstandes
Dr. Péter Dominkovits, Ödenburg (Sopron)

17.00 bis 17.45 Uhr
Privileg und Emanzipation: Rumänische Gravamina an den Bistritzer Stadtrat, 1783
Marin Popan M.A., Bistritz (Bistriţa)

Samstag, 5. November 2011
Moderation: Dr. Mathias Beer, Tübingen

9.00 bis 9.45 Uhr
Die Konfessionsgrenze im Ehebett. Reversepflicht im Spannungsfeld von Staat, Herrschaft und konfessionell gemischten Gemeinden in Oberungarn
Dr. Peter Šoltés, Pressburg (Bratislava)

9.45 bis 10.30 Uhr
Moralische Verfehlungen und die „sittliche Öffentlichkeit“ in der königlichen Freistadt Pest während des Biedermeiers
Dr. István Soós, Budapest

10.30 bis 11.00 Uhr
Pause

III. Von der individuellen Normverletzung zum sozialen Konflikt

11.00 bis 11.45 Uhr
Kleine Ursache, große Wirkung: Der Hatzfelder Tumult 1767. Zur normativen Verfasstheit der frühen Kolonistengemeinde im Banat
Josef Wolf M.A., Tübingen

11.45 bis 12.30 Uhr
„Der Teufel wird den Praefecten bald holen“. Widerstand und Gewalt in der Bauernrevolte 1766
Dr. Norbert Spannenberger, Leipzig

12.30 bis 13.00 Uhr
Schlussdiskussion: Normsetzung und Normverletzung als Analysekategorie für die Erforschung des Alltags in Einwanderungsgesellschaften
Dr. Karl-Peter Krauss, Tübingen

Kontakt

Karl-Peter Krauss

Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mohlstraße 18, 72074 Tübingen

poststelle@idgl.bwl.de

http://www.idglbw.de/
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