Die Gesellschaft der Nichtsesshaften. Zur Lebenswelt vagierender Schichten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert

Die Gesellschaft der Nichtsesshaften. Zur Lebenswelt vagierender Schichten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert

Veranstalter
Gerhard Ammerer, Gerhard Fritz
Veranstaltungsort
Kriminalmuseum
Ort
Rothenburg ob der Tauber
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2011 - 30.09.2011
Website
Von
Gerhard Ammerer

Bei manchen werden sich beim Wort „Vaganten“ zunächst Bilder aus der Carmina Burana aufdrängen, Vorstellungen einer trink- und lebensfrohen mobilen Gesellschaft, möglicherweise auch die Fiktion des „edlen Räubers“ (Prototyp: Robin Hood), wie sie die ab dem späten 18. Jahrhundert aufkommenden Räuberlieder und -romane beschrieben und heute in zahlreichen Varianten über den Bildschirm unser Bewusstsein (falsch) prägen. Die „Vagantenromantik“ ist eine Seite einer verkehrten Sichtweise, die beharrlich an der Realität der Tag für Tag von der Hand in den Mund lebenden, herren- und besitzlosen Nichtsesshaften vorbeigeht. Die andere Seite wird deutlich, wenn man im 1. Band von Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ zunächst vom „System der sozialen Ungleichheit“ liest, die der Autor für so bedeutsam hält, dass er damit die Analysekategorien Max Webers, Herrschaft, Wirtschaft und Kultur zu komplettieren sucht, um dann, von der abstrakten Ebene auf die konkrete übergehend, die Erkenntnis zu vermitten, dass es „außerhalb der Alltagssphäre der ortsansässigen Bevölkerung ... eine Unterwelt (gab), die von unstet umherziehenden, heimatlosen Menschen bevölkert wurde.“ Selbst die soziologische Forschung hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens des Wehlerschen Werkes, die Sichtweise, dass deviant Handelnde, z. B. die Vaganten, als außerhalb des normalen sozialen Lebens standen, bereits längst revidiert. Die Kriminalsoziologie fordert seit langem vehement die „Aufhebung der rigiden Trennung zwischen der Welt der Konformen und der Welt der Abweichler“ ein. Dass „Vaganten und Kriminelle“ (Kapitelüberschrift bei Wehler) keine – erst recht keine geschlossene – Subkultur-„Unterwelt“ darstellten, sehr wohl in vielfältigen Verzahnung in der Alltagssphäre der ansässigen Bevölkerung integriert waren, dass diese sogar einen konstitutiven Bestandteil der Lebenspraxis ausmachte, soll dieser Tagung thesenhaft vorangestellt werden.

Es ist in der Literatur immer wieder zu beobachten, dass die einseitige obrigkeitliche Prägung der Quellen (vor allem aus dem Justizbereich) stark in die moderne Begrifflichkeit und die Argumentationsführung einfließt. Auch die Orientierung an Sozialdisziplinierungs- und Modernisierungsmodellen vermag den Blick auf die Pluralität historischer Gegebenheiten am unteren Rand der Gesellschaft zu verstellen. Den Alltag der „winzigen Leben“ (Arlette Farge) bestimmten nicht vorrangig obrigkeitliche Politik und gesetzliche Normen, auch nur bedingt das mit Verfolgungs- uns Ausmerzungsaufträgen versehene Wach- und Gerichtspersonal, sondern das jeweils spezifische soziokulturelle Milieu der Landstraße sowie die unterschiedlichen und vielfältigen Überlebensstrategien. Dennoch scheint uns die Thematisierung der Wechselseitigkeit von Selbst- und Fremdbestimmung ein lohnender Aspekt für die Tagung zu sein. Insbesondere sollte dieser nicht zuletzt deshalb angesprochen werden, da traute Uneinigkeit zwischen den Historikern herrscht, wenn es um die Frage der Durchsetzung von obrigkeitlichen Normen geht. Im Widerspruch zu den in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend geäußerten Bedenken, dass nicht zuletzt die strukturellen Mängel des Staatsapparates, die ungenügenden Kapazitäten und Ressourcen die Durchsetzung einer effektiven Bettler- und Vagantenpolitik verhinderten und Polizeiordnungen nicht viel mehr als „obrigkeitliche Drohgebärden“ dargestellt hätten – manche Autoren sprachen sogar vom „‚Scheitern‘ des frühmodernen Staates“ –, werden neuerdings wiederum Gegenposition vertreten, die den Staat keineswegs als „schwach“ beschreiben. Vielmehr hätten die Obrigkeiten durch die wiederholte Pub¬likation von Normen, durch Verurteilungen, Streifen und sonstige Repressalien den Vagierenden ihre Handlungsfähigkeit durchaus deutlich bewiesen.

Die Gesellschaft der frühen Neuzeit war – auch und besonders dieses Bevölkerungssegment – zutiefst von der mündlichen Tradition geprägt, sie war eine Anwesenheitsgesellschaft par excellence im Sinne Rudolf Schlögls und ist daher auch als eine solche zu beschreiben. Die Interaktion war das Wesentliche, die soziale Ordnung und die Strukturzusammenhänge konstituierten und reproduzierten sich über temporäre Sozialsysteme, wurden durch geformte Kommunikation unter Anwesenden aufgebaut. Die Besonderheiten der Sozialformen, die Kommunikationszusammenhänge innerhalb der vagierenden Gesellschaft (und nach „außen“) sollten auf der Tagung herausgearbeitet werden. Waren die mit Anwesenheitskommunikation verbundenen Sinngefüge kontext- und situationsabhängig, so entkoppelte die Kommunikation über Printmedien, z. T. auch über Amtsschriftverkehr Sender und Empfänger. Über unterständische Schichten wurde ausschließlich dasjenige zu Papier gebracht, das für Behörden und Obrigkeit relevant war. Unspektakuläre, persönliche Befindlichkeiten des Einzelnen, Aspekte des täglichen Lebens, Wahrnehmungsformen, Erfahrungen, Verhaltensweisen etc., also die Sinnstrukturen und Sinnzusammenhänge der Welt der Landstraße, entziehen sich somit vielfach dem historischen Zugriff, da sie außerhalb der behördlichen Interessenssphäre lagen. Gerade Fragen der Daseinsbewältigung, der Lebens- und Umgangsformen, der Lebenschancen, Lebensstile und Lebensweisen sollten auf der Tagung aufgeworfen werden. Zu erkunden sind Wünsche und Ängste, Erinnerungen und Hoffnungen, Erfahrungen und Projektionen, Wahrnehmungen und Handlungen von Subjekten und Kollektiven.

Die Zugänge zum Thema sollten von möglichst vielen Seiten her erfolgen: lebensweltlich im Sinne von Alfred Schütz, alltags- oder und mentalitätsgeschichtlich, von Anomie- oder Labeling-Theorien ausgehend u.a.m.

Programm

Mittwoch, 28. September 2011

Anreise, ab 20.00 Uhr informelles Treffen

Donnerstag, 29. September 2011

09.00 h: Begrüßung, Einführung in die Thematik (Fritz und Ammerer)

9.30–12.00 Uhr
Chair: Gerhard Ammerer

1. Dr. Satu Lidman (Universität Turku): Unehrlich, kriminell und gottlos. Die Binnenstruktur vagierender Personengruppen im frühneuzeitlichen Bayern

2. Prof. Dr. Gerhard Fritz (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd): Bettler und Vaganten in Südwestdeutschland im späten 18. Jahrhundert

3. Prof. em. Dr. Bernard Vogler (Universität Straßburg): Die nicht sesshaften Unterschichten in Straßburg nach dem „Straßburger Taschenbuch auf das Jahr 1803“

12.00–14.00 h: Mittagessen

14.00–16.15 Uhr
Chair: Alfred Stefan Weiß

1. Dr. Elke Hammer-Luza (Universität Graz): Die „Stradafisel“. Sozialstrukturen und Alltagsleben einer steirischen Räuberbande in der Biedermeierzeit

2. Dr. Eva Wiebel (Konstanz): Mitteilungen an einer Schnittstelle. Zu den Aussagen und Erzählungen des Konstanzer Hans (1759–1793) über seine Lebenswelt – „Rädelsführer aller Jauner“, Verräter, Bekehrter? Der Konstanzer Hans und sein Umfeld

3. Dr. Andreas Fischnaller (Pädagogisches Zentrum Brixen): „…und das Sitzen that mir nicht gut.“ Aus dem Leben eines „Taugenichts“ und „Erzvagabunden“ im Tirol der Restaurationsepoche

Kaffeepause

17.00–20.00 Uhr Stadtrundgang und Museumbesuch

20.00 h: Prof. Dr. Karl Härter (Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt/M.): Lebenswelten vagierender Randgruppen und obrigkeitliche Ordnungspolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich

Freitag, 30. September 2011

9.00–10.30
Chair: Karl Härter

1. Prof. Dr. Martin Scheutz (Universität Wien): Die große Freiheit? Die Beziehungen von Vaganten zu Sesshaften in der Frühen Neuzeit im Voralpengebiet

2. Dr. Pavel Himl (Universität Prag): Sesshaft gemacht. Möglichkeiten, Mechanismen und Grenzen der (erzwungenen) Integration der nichtsesshaften Bevölkerung in den böhmischen Ländern im 17. und 18. Jahrhundert

10.00–10.30.00 Uhr Pause

10.30–13.00
Chair: Gerhard Fritz

1. Prof. Tim Hitchcock (Universität Hertfordshire): When being a nuisance was a necessity: Vagrant removal and the provision of medical care in late eighteenth-century London

2. Prof. DDr. Gerhard Ammerer (Universität Salzburg): Partnerschaft, Sexualität und Nachkommen auf der Straße

3. Dr. Fabian Brändle (Zürich): Wirtshäuser als populare Kommunikations- und Sehnsuchtsorte 1700–1850. Beispiele aus der Schweiz und Europa

Fazit

Kontakt

Prof. Dr. Gerhard Fritz

Pädagogische Hochschule
Oberbettringer Str. 200
73535 Schwäbisch Gmünd
07171/983-269 oder -243

Gerhard.Fritz@ph-gmuend.de


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