Ökonomische Praktiken. ilinx - Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Heft 3, 2012

Ökonomische Praktiken. ilinx - Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Heft 3, 2012

Veranstalter
Für die Redaktion der Zeitschrift "ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft": Dietmar Kammerer, Rebekka Ladewig, Anna Echterhölter
Veranstaltungsort
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2011 - 19.07.2011
Deadline
19.07.2011
Von
Anna Echterhölter

- English version below -

Ökonomie wird oft als eine Makrostruktur beschrieben, die von außen unsere Handlungen bestimmt, ihnen einen Spielraum und eine Wirksamkeit vorgibt. Doch liegt sie ebenso im Detail. Zahllose Praktiken des Alltags – samt ihrer ästhetischen Milieus, ihrer strategischen Ausrichtung, ihrer Kultur- und Körpertechniken – sind in wirtschaftlichen Kontexten entstanden. Andererseits sind es diese Handlungen, die die Wirklichkeit der Ökonomie ausmachen: Ökonomie konstituiert sich erst in Praktiken, sie nistet sich in Handlungen ein, umgibt und durchdringt sie und realisiert sich in ihnen. Dabei sind die handlungsanleitenden Strategien, Milieus und Techniken niemals vollständig auf das Ökonomische zurückzuführen. Diese Verflechtungen von Ökonomie und Praktiken zu beschreiben, das Ökonomische auf der Ebene der Verhaltensweisen aufzufassen, ist eine weitgehend vernachlässigte Perspektive. Gesucht werden daher Texte, die von einer konkreten ökonomischen Praktik ausgehen und so zu einer Anthologie produktiver Verhaltensmuster beitragen. Die Ausgabe wird um drei thematische Schwerpunkte gruppiert sein:

Haben…

…ernten, recyceln, produzieren, speichern, zählen, sparsam sein, sammeln, züchten, Bedürfnisse befriedigen, dem Mangel abhelfen, bedienen, verleihen, horten, versorgen, geizen, emotionale Arbeit leisten, patentieren, buchführen, sich amortisieren, quittieren, abrechnen, bestellen, verzichten, Vernunft walten lassen, haushalten...

Symbolische Haushaltstechniken sind schon für prähistorische Zeiten belegt. Lange vor der doppelten Buchführung und noch vor der Nutzung von Schrift und Zahl wurde der Güterverkehr mit Hilfe kleiner Ton-Objekte visualisiert und dokumentiert. Auch in der Folge erwiesen sich die Kulturtechniken des Zählens, Auflistens und Abrechnens als zentrale ökonomische Operationen, die in je spezifischen Schreibszenen mit ihren jeweiligen Hilfsinstrumenten (Algebra, Rechen- und Speichermaschinen, Verkaufsautomaten, Pay Pal) die Warenzirkulation ins Werk setzten.

Den ökonomischen Praktiken wird darüber hinaus zugetraut, soziale Funktionsräume zu determinieren: Die Sphäre des legitimen Markthandels schafft notwendig die kürzlich in den Fokus gerückten abseitigen Ökonomien – also Sphären des inkludierten Ausschlusses, wo illegale Besitznahme, Schattenwirtschaft und Fälschungskompetenz an der Tagesordnung sind. Im Falle der weiblich codierten Reproduktionsarbeit zeigt sich die Marginalisierung als eine Festlegung auf Innenräume mit ihren Domestiken und Geräten. Hannah Arendt setzt diese Funktionssphäre des oikos (niedrige Subsistenzinteressen, besitzen, wirtschaften) in Opposition zum öffentlichen Raum der polis, der für politische Anliegen, gemeinsame Ziele und höhere Interessen steht. Sie beschreibt das zunehmende Ausgreifen der Haushaltssphäre auf die Öffentlichkeit als Geschichte eines fundamentalen Verlusts. Welche Kulturtechniken und Strukturen werden durch die Praktiken des Haushalts generiert?

Bewerten…

…begehren, bestechen, sich verschulden, fälschen, Vertrauen inszenieren, Bankrott gehen, rauben, feilschen, Preise treiben, schmuggeln, kapern, kleptoman bleiben, Früchte fremder Arbeit genießen, seine Seele verkaufen, in Steuerparadiese flüchten, verschwenden, versilbern, verzocken, schöpferisch zerstören, Gespenster sehen, Gold machen, Märkte einbetten, umverteilen, anerkennen, Almosen geben, sponsern, im Überfluss leben, anschnorren, Vorteil nehmen, verzichten, verschenken, verdienen...

Manifest ist die gelungene Umwertung der Werte durch die klassische ökonomische Theorie, der es gelang, Laster zu Tugenden des Gemeinwohls zu erklären. Auch das Verschulden, das Verzichten und das Verdienen weisen, als moralisch-ökonomische Hybride, eine unverkennbar ethische Dimension auf. Wie aber greifen materielle und symbolische Praktiken ineinander? Angesichts der Kompetenz der Wirtschaftswissenschaft in der Bewertung, Bemessung und Konzeptionalisierung von Sachgütern haben Bruno Latour und Vincent Lépinay kürzlich gefordert, diese Strategien auch auf immaterielle Güter anzuwenden. Die von ihnen projektierte Metrologie zielt auf eine umfassende Theorie der Wertsetzung, die auch »leidenschaftliche Interessen« erfasst. Die kreativen Potentiale dieser Fähigkeit von Kollektiven, sich auf bestimmte Zeichen einigen zu können, die dann materiellen Wert erhalten, zeigt beispielsweise Annette B. Weiner in ihrer Darstellung der ökonomischen Praktiken weiblicher Trobriander. Geflochtene Bündel aus Bananenblättern dienen hier dem Entgelten von Trauerdienstleistungen und weisen alle Merkmale einer eigenen Währung auf. Bestehen diese symbolisch angereicherten Wirtschaftsformen nur in Abhängigkeit von sakralen und ästhetischen Dimensionen? Hat man also mit der »Einbettung« der Märkte in symbolische Praktiken das ökonomische Feld bereits verlassen oder ist es ganz im Gegenteil erst so vollständig konzeptionalisiert?

Vorausplanen…

…kalkulieren, einkochen, auf Renten spekulieren, prognostizieren, Vorteile sehen, versichern, Kredit aufnehmen, an die Börse gehen, Vorsorge treffen, Organisationen aufbauen, Konjunktur ankurbeln, sich durchsetzen, Optimismus verbreiten, Effizienz steigern, dem Amerikanischen Traum anhängen, Innovationen anstoßen, zweckorientiert sein, Risiken kalkulieren, Aktien handeln, Projekte realisieren...

Als letzte große Erzählung ist das Wirtschaftswachstum anzusehen. Dies macht die Ökonomie zur einzig verbliebenen Verwalterin von Zukunftstechniken. Im Vergleich zur Mantik, Utopik oder Geschichtsphilosophie sind statistisch prognostizierbare Zukunftsentwürfe durch leicht monotone Versprechen für wenige Akteure gekennzeichnet. Jan Lazardzig hat die eklatante Einhegung des Möglichen im Industriellen Zeitalter am Beispiel der Projektemacherei verfolgt. Mit Gottlieb von Justi oder Daniel Defoe setzt die Abkehr von den omnipotenten Maschinen und maßlosen Projekten ein, mit denen noch im Barock die Welt erlöst werden sollte. An die Stelle bloß erhoffter Gesamtlösungen tritt eine strategische, kalkulierte und bis ins letzte Detail benennbare Vorteilsnahme. Das Training der Imagination auf Nahbereiche, Umsetzbarkeit und Quantitäten verhindert nicht, dass sich an die bevorzugten Modelle, Kategorien und Praktiken des ökonomischen Feldes eine je eigene Narratologie des Marktes anlagert. Diese generiert beständig eigene Versprechen, wie Joseph Vogl am Gleichgewichts- und Ordnungsphantasma der Unsichtbaren Hand vorführt. Was also macht das spezifische Erfolgsrezept der ökonomischen Vision aus, was sind die fiktiven Anteile des ökonomischen Vorausplanens und welchen Möglichkeitsraum definiert die »Berechenbarkeit«?

Zeitschrift / Verfahren

ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft eröffnet nun zum dritten Mal die Arena für die Potentiale kulturwissenschaftlicher Forschung. Der Name (ilinx, gr. = Wirbel) steht dabei für den Anspruch, verschiedene Strömungen, Theorien und Materialien aufeinander treffen zu lassen. Für ilinx 3 »ökonomische Praktiken« werden Beiträge gesucht, die von einem konkreten Verfahren ausgehen und es in seiner wirtschaftlichen Dimension beleuchtet. Es gibt zwei Modi für Beiträge:

1) Wissenschaftliche Aufsätze in deutscher oder englischer Sprache im Umfang von 30.000-35.000 Zeichen (ca. 15 Druckseiten) zu einer ökonomischen Praxis. Diese Texte durchlaufen ein anonymisiertes Begutachtungsverfahren und werden ein Jahr nach dem Erscheinen der Druckausgabe digital auf der Internetseite von ilinx zugänglich sein.

2) Kürzere Stichworteinträge, essayistische Betrachtungen, künstlerische Beiträge, Interviews oder Vorstellung einschlägiger kulturwissenschaftlicher Projekte mit max. 15.000 Zeichen (ca. 7-8 Druckseiten).

ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft erscheint in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Heftredaktion dieser Ausgabe: Anna Echterhölter, Dietmar Kammerer und Rebekka Ladewig. Erbeten werden Abstracts von einer Seite bis zum 19. Juli 2011 an redaktion.ilinx@googlemail.com. Die Frist für die im Anschluss angeforderten, fertigen Beiträge ist der 15. Oktober 2011.

http://www.ilinx-kultur.org
redaktion.ilinx@googlemail.com

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ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Volume 3, 2012 »Economic Practices«

Economy is often described as a macro structure that determines our actions from the outside by delineating possible choices and prescribing their effectuality. But economy is also in the details. Numerous everyday practices – including their aesthetic milieus, their strategic orientation, their cultural and bodily techniques – emerged from commercial contexts. At the same time, these activities compose the actuality of the economy: Economy is principally constituted through practices, it embeds itself in actions, surrounds and saturates them and realizes itself through them. Yet the strategies, milieus and techniques that govern actions cannot be completely attributed to economics. The description of this intermeshing of economy and practices, of economics from the perspective of performance, is a much neglected point of view. Thus texts are called for that take a concrete economic practice as their starting point and contribute to an anthology of productive behaviour patterns. The third issue of ilinx will comprise three thematic foci:

Having…

…harvesting, recycling, producing, counting, being thrifty, rearing, satisfying needs, remedying lack, serving, granting, hoarding, supplying, being stingy, performing emotional work, patenting, bookkeeping, amortising, giving a receipt, billing, ordering, relinquishing, allowing reason to prevail, housekeeping...

Symbolic housekeeping techniques are documented for prehistoric times. Commerce was visualized and documented with the help of small clay objects long before the use of writing and numbers, not to speak of double bookkeeping, emerged. The cultural techniques of counting, listing and accounting are central economic operations that put the circulation of commodities in motion, in specific clerical scenes with respective tools (algebra, counting automata, vending machines, Pay Pal). Furthermore, economic practices are seen as being able to determine functional spaces of society: The sphere of legitimate market exchange necessitates the informal economy that is increasingly becoming the focus of attention – spheres of included exclusion, in which illegal acquisition, shady deals and forgery are part of day to day business. In the case of feminine coded reproductive work, the marginalization limits women's activity to interior space with its domestics and devices. Hannah Arendt locates this functional sphere of the oikos (low levels of subsistence acquisition, owning and exchanging) as the opposite pole of the public space of the polis that stands for political interests, collective goals and higher interests. She describes the increasing expansion of the housekeeping sphere into the public realm as the history of a fundamental loss. Which cultural techniques and structures are generated by the practices of housekeeping?

Valuing…

…desiring, bribing, indebting oneself, forging, performing trust, declaring bankruptcy, stealing, bartering, driving prices up, smuggling, hijacking, staying kleptomaniac, enjoying the fruits of foreign labour, selling one's soul, fleeing to tax havens, wasting, polishing, wagering, creatively destroying, seeing ghosts, making gold, embedding markets, redistributing, acknowledging, giving charity, sponsoring, living in excess, panhandling, taking advantage, disclaiming, giving, earning...

The successful revaluing of values is manifest in the classical economic theory that managed to redefine vices as virtues of the common welfare. Going into debt, relinquishing and earning also exhibit, as moral-economic hybrids, an unmistakable ethical dimension. But how do material and symbolic practices intertwine? In the light of economic science's competence in the valuing, measuring and conceptualising of material goods, Bruno Latour and Vincent Lépinay recently called for the application of these strategies to immaterial issues as well. Their projected metrology aims at a comprehensive theory of valuation that also encompasses »passionate interests«. The creative potentials of the collective ability to agree on certain signs that embody material value are shown, for example, by Annette B. Weiner in her study on the economic practices of Trobriand women. Woven bundles of banana leaves serve here to recompense mourning services and carry all characteristics of a distinct currency. Do these symbolically charged economic systems only exist in connection with sacred and aesthetic dimensions, thus, does one already depart from the economic field with the »embedding« of markets in symbolic practices or rather only just begin to really get a handle on it?

Planning ahead…

…calculating, boiling down, forecasting, seeing advantages, insuring, borrowing, going public, looking ahead, building up organisations, reflating the market, asserting oneself, spreading optimism, increasing efficiency, following the American Dream, initiating innovations, being goal-oriented, calculating risks, trading stocks, realising projects...

The last remaining meta narrative is that of economic growth. This makes economics the only custodian of future techniques that is left. Compared to mantics, utopics or philosophy of history, statistically predictable formulations of the future are characterised by slightly monotonous promises for only a handful of actors. Jan Lazardzig reconstructed the striking fencing in of the space of possibilities in the industrial age, using the pursuing of projects as his example. With Gottlieb von Justi or Daniel Defoe a renunciation of omnipotent machines and exorbitant projects sets in, with which the baroque era wanted to save the world. Henceforth, in place of a merely hoped for overall solution, a strategic, calculated and in the final detail formulated mode of grasping advantage emerged. The training of the imagination to close range, feasibility, and quantities does not impede specific narratologies of the market from attaching themselves to preferred models, categories and practices of the economic field. These consistently generate their own promises, as Joseph Vogl has shown with regards to the equilibrium- and orderliness-fantasies of the invisible hand. In this light, the final focus aks: What constitutes the specific formula for success of economic vision and what are the fictitious parts of economic planning with respects to statistic »computation«?

Journal / Policy

For the third time, ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft opens up the arena for the potentials of cultural scientific research. The name (ilinx, gr. = vortex) stands for the goal of bringing different currents, theories and materials into collision with each other. For ilinx 3 »economic practices« contributions are sought that take a concrete process as a starting point and illuminate its economic dimensions. There are two modes for contributions:

1) Scientifc articles of 30.000-35.000 characters length maximum (ca. 15 printed pages) in German or English that focus on an economic practice. These articles will be submitted to an anonymous peer review process.

2) Shorter texts, essayistic reflections, artistic contributions, interviews, or presentations of projects of 15.000 characters length maximum (ca. 7-8 printed pages). The contributions to this section should refer to this CfP’s subject, but are free in form.

ilinx is released in cooperation with the Institute for Cultural History and Theory at Humboldt University Berlin. Editors of this issue are Anna Echterhölter, Dietmar Kammerer und Rebekka Ladewig. Please submit your abstracts of 1-2 pages until Juli 19th, 2011, to redaktion.ilinx@googlemail.com. The deadline for the realization of the requested texts is October 15th, 2011. One year after the publication in print the texts will be available on our ilinx-website:

http://www.ilinx-kultur.org
redaktion.ilinx@googlemail.com

Programm

Kontakt

Anna Echterhölter

Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

redaktion.ilinx@googlemail.com

http://www.ilinx-kultur.org