Vom Gegner lernen: Erfahrungstransfers während der europäischen Okkupationen

Vom Gegner lernen: Erfahrungstransfers während der europäischen Okkupationen

Veranstalter
Centre Marc Bloch, Humboldt-Universität zu Berlin, Université Paris I/IRICE
Veranstaltungsort
Centre Marc Bloch, Friedrichstraße 191, 10117 Berlin, Georg-Simmel-Saal
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.06.2011 -
Von
Masha Cerovic, Aurélie Denoyer, Sophie Schifferdecker, Régis Schlagdenhauffen

Ein Kolloquium zu den Okkupationserfahrungen Europas zwischen 1914 und 1945, das im September 2004 am Berliner Centre Marc Bloch stattfand, wurde durch den Historiker Bernhard Struck mit einem Résumé abgeschlossen, in dem er eine Reihe immer noch offener Fragen an die Geschichte zum Thema Transfer aufwarf. Gewinnbringend erschien Bernhard Struck besonders die Betrachtung dreier verschiedener Transferformen: das Einfließen kolonialer Diskurse und Praktiken in die Besatzungspraxis, Transfers zwischen verschiedenen Besatzungssituationen (von Ost nach West, vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg u.a.) und schließlich Transfers zwischen Besatzern und Besetzten. Sieben Jahre später möchte nun der Workshop im Juni 2011 jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, die vorgeschlagene Diskussion dieser Fragen aufzunehmen.

Den vergleichenden Ansatz vertiefend und gleichsam überschreitend, ist das Konzept des Transfers aus der Erneuerung der deutsch-französischen Kulturgeschichte entstanden und befindet sich seit mindestens 15 Jahren im Zentrum der Bemühungen, eine europäische Geschichte zu schreiben. Zwei grundlegende Elemente definieren den Transfer: zum einen die Prozesse der Übertragung bzw. der Mobilität von Dingen und Menschen, zum anderen Transformationen in der Tiefenstruktur der aufnehmenden Gesellschaft im Kontext bestimmter Konjunkturen, in denen die aufnehmenden Gesellschaften entlang ihrer Bedürfnisse eine Auswahl vollziehen.

Allerdings konnte der aus der deutsch-französischen Zusammenarbeit entstandene Begriff des Transfers nicht ohne eine Betrachtung der Konflikte und Austauschprozesse zwischen Feinden weiterentwickelt werden. So haben Martin Aust und Daniel Schönpflug darauf hingewiesen, dass auch Konfliktsituationen zu intensiven Lernprozessen führen können und dass es Transfer nicht nur trotz, sondern gerade wegen konfliktreicher Beziehungen geben kann. (Aust, Martin/Schönpflug, Daniel (Hgg.): Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2007.) Wir nehmen ihre Hypothese auf und beabsichtigen ihren heuristischen Wert zu überprüfen, indem sie etwas ausgeweitet und auf ein Gebiet übertragen wird, das Aust und Schönpflug nicht betrachtet haben: dasjenige der Besatzungen und Besatzungserfahrungen, die sich bei näherer Betrachtung als ein fast gemeineuropäisches Phänomen erweisen, bei dem zumindest eine der beiden Bedingungen für Transferprozesse erfüllt ist: die Mobilität einer großen Zahl von Individuen. Auf welche Weise zirkulierten in diesem Europa, in dem über einen Zeitraum von vierzig Jahren Armeen, Verwaltungen, Experten, Opfer und Flüchtlinge zu Millionen die Ländergrenzen überschritten, die Erfahrungen der Okkupatoren und der Okkupierten? Wie werden diese verstanden, formuliert, mobilisiert und benutzt?

Der diesjährige Workshop hat sich zum Ziel gesetzt, das Forschungsfeld auch auf das Nachkriegseuropa auszuweiten. Da die von Jürgen Zimmerer eröffnete Auseinandersetzung über den möglichen Beitrag einer post-kolonialen Lesart zum Verständnis des Nationalsozialismus eine Debatte über die Verbindungen zwischen den inner- und außereuropäischen Okkupationen unausweichlich gemacht hat, erscheint es ebenso interessant, gewissermaßen umgekehrt die Wirkung der Okkupationserfahrungen des Zweiten Weltkrieges auf die Kolonialkriege sowie den Antikolonialismus und Antiimperialismus eingehender zu betrachten.

Das so eröffnete Forschungsfeld ist immens. Schon mit Beginn der Okkupation vollziehen Besatzer und Besetzte eine selbstreflexive Analyse ihrer Erfahrung, die in die Konstruktion eines spezifischen Diskurses und eines spezifischen Fundus von Wissen und Bewusstsein einfließt. Diese ursprüngliche Produktion von Wissen und entsprechenden Diskursen wird daraufhin gleichermaßen in unterschiedlichen Kontexten genutzt und auf Gruppen übertragen, die nicht mehr nur die Ursprungsakteure umfassen. Tatsächlich kann es nicht nur darum gehen, das Handeln bestimmter Schlüsselakteure zu verfolgen, die in ihren Biographien den Transfer gewissermaßen verkörpern – so beispielsweise bei der Rollenumkehr eines ehemaligen Résistant zum Besatzer. Es muss weiterhin darum gehen, die Weitergabe dieser Erfahrung zu verfolgen, um unser Verständnis von „Kontinuitäten“, „Traditionen“ oder „Erinnerungen“ zu vertiefen. Institutionelle Logiken, Netzwerkeffekte oder der Einfluss von Vereins- oder Verbandskulturen, Kultur- und Erinnerungspolitiken, familiäre Traditionsbildung: dies ist nur ein Teil der möglichen Kanäle für Erfahrungstransfer und ein Teil der möglichen Wege, auf denen sich gemachte Erfahrung verändert. Eine solche Analyse würde es ermöglichen, die Konturen einer in jedem Falle europäischen Geschichte nachzuzeichnen, die aber gleichzeitig die Spezifika der historischen Kontexte und Situationen nicht außer Acht lässt.

Entsprechend der langen Tradition des deutsch-französischen Dialogs am Centre Marc Bloch, wird sich der Workshop auf Transfers zwischen Frankreich und Deutschland konzentrieren, da beide eine überaus reiche Geschichte des Transfers von Okkupationserfahrungen aufweisen. Gleichzeitig wird aber die Analyse auf den europäischen Kontinent ausgeweitet und hier insbesondere auf Osteuropa und die Sowjetunion. Auch wenn es im Rahmen eines Workshops unmöglich sein wird, ein komplettes Bild zu erstellen, wird hierdurch doch ein fokussierter Vergleich von West- und Osteuropa möglich, der die Debatte bereichern dürfte.

Programm

Programme

08h30-09h00: Accueil des participants par les organisateurs

09h00-09h15: Ouverture: Klaus-Peter Sick (Centre Marc Bloch)

09h15-10h40 Panel I - Expériences croisées
Modération : Christina Kott, (Université Paris II)

09h15-09h35: Stephan Lehnstaedt (DHI Warschau): Das Generalgouvernement Warschau als Referenz für Besatzung in Polen (1915-1945)

09h35-09h55: Julia Wambach (ZZF Potsdam): Occupations croisées: Französische Besatzungen in Deutschland nach den beiden Weltkriegen

09h55-10h40: Discussion

10h40-11h00: Pause

11h00-12h25 Panel II - Administrations en guerre
Modération : Marcel Boldorf (Ruhr Universität Bochum)

11h00-11h20: Chad Denton (Yonsei University): Metal Requisitions and Total War in Europe (1914-1945)

11h20-11h40: Sebastian Schlegel (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Erfahrungshorizonte sowjetischer Offiziere im besetzten Deutschland (1945-1949)

11h40-12h25: Discussion

12h30-14h00: Déjeuner

14h00-16h00 Panel III - Etranges étrangers en terrains occupés
Modération : Dominik Rigoll (Friedrich-Schiller-Universität Jena)

14h00-14h20: Sophie Schifferdecker (Universität Greifswald / Centre Marc Bloch): Erfahrungstransfers zwischen deutschen Widerstandskämpfern und der französischen Résistance (1940-1945)

14h20-14h40: Diego Celaya G. (Universitad de Zaragossa): Portrait d'un oubli. Espagnols dans les Forces Françaises Libres (1940-1945)

14h40-15h00: Anne Peiter (Université de la Réunion): Eroberung der Bilder. Die Filmemacherin und Fotografin Leni Riefenstahl zwischen Wehrmachtspropaganda und Afrikainszenierung 15h00 - 16h00:

15h00-16h00 Discussion

16h00-16h30: Pause

16h30-18h00 Panel IV - Déplacements de populations
Modération : Fabrice Virgili (CNRS/IRICE)

16h30-16h50: Julia Torrie (St.Thomas University): Cultural Transfer and civilian evacuations in Germany und occupied France (1940-1944)

16h50-17h10: Julia Maspero (Université Paris I): Les personnes déplacées dans les zones d’occupation françaises en Autriche et en Allemagne, 1945-1949

17h10-18h00 : Discussion

18h00-19h00: Conclusion et discussion générale : Daniel Schönpflug (Centre Marc Bloch)

19:30 dîner

Kontakt

Sophie Schifferdecker

Centre Marc Bloch,
Friedrichstraße 191
10117 Berlin

workshop.cmb2011@googlemail.com

http://www.cmb.hu-berlin.de/cmb/main/index.php?cms_menu_id=240&language=fr
Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Französisch, Deutsch
Sprache der Ankündigung