Hubert Fichtes Medien

Hubert Fichtes Medien

Veranstalter
PD Dr. Stephan Kammer, Institut für Germanistik IV, Universität Düsseldorf; Dr. des. Karin Krauthausen, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
Veranstaltungsort
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.09.2011 - 04.09.2011
Deadline
31.05.2011
Website
Von
Stephan Kammer und Karin Krauthausen

Wenige Schriftsteller haben die Möglichkeiten und Formvorgaben ihrer medialen Umwelt so konsequent genutzt wie der vor 25 Jahren verstorbene Hubert Fichte. Zwar stehen am Beginn seiner Autorenkarriere in den 1960er Jahren durchaus traditionelle literarische Formate: ein Erzählband (Der Aufbruch nach Turku, Hamburg 1963) und zwei Romane (Das Waisenhaus, Reinbek b. Hamburg 1965; Die Palette, Reinbek b. Hamburg 1968). Doch bereits parallel dazu senden die deutschen Rundfunkanstalten seine Hörstücke und Features, die sich von Anbeginn auch jenseits des einschlägigen Genres ›Dichter liest aus seinem Werk‹ bewegen. Mit der Fotografin und Lebensgefährtin Leonore Mau publiziert Fichte Architektur- und Reisereportagen, er schreibt über Künstlerinnen und Schriftsteller: So entstehen Texte über ein Pariser Villenprojekt Le Corbusiers oder Edith Piafs Tod, Fichte liefert Ausstellungskritiken und unterhält 1965/66 eine Kolumne mit Schallplattenbesprechungen in der Zeitschrift konkret. In den 1970er Jahren dann erweitert Fichte das (Publikations-)Spektrum seiner schriftstellerischen Produktion um zahlreiche weitere Formate: Interviews, ethnopharmakologische, literaturtheoretische und -historische Essays. Im selben Zug radikalisiert er deren Formpotentiale durch eine regelrechte Poetologie der (medialen, thematischen, ästhetischen) Grenzüberschreitung. Die Effekte dieser Radikalisierung werden auch an den etablierten Formaten des zeitgenössischen Literaturbetriebs bemerkbar – insbesondere am Fichtes Romanpoetik, wie Detlefs Imitiationen ›Grünspan‹ zeigt (Reinbek b. Hamburg 1971).

1991 bereits hat Hartmut Böhme die Konturen dieser schriftstellerischen Produktivität gezeichnet: »Fichte war […] ein außerordentlich erfolgreich arbeitender Autor – einschließlich der absolut professionellen Organisierung des schwierigen sozioökonomischen Standes eines ›freien Schriftstellers‹«, bilanziert Böhme. In der Tat erscheint Hubert Fichte, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod und auch aus der Perspektive einer mittlerweile gründlich veränderten Medienlandschaft, geradezu prototypisch für eine sozial- und mediengeschichtlich einzigartige Konstellation von gesellschaftlicher Öffentlichkeit, Literatur und Medien. In den anderthalb Jahrzehnten zwischen 1965 und 1980 ermöglicht sie dem Schriftsteller in seiner Funktion als engagierter Intellektueller ein komplexes Forum, an dessen Zustandekommen – neben den großen Verlagshäusern der deutschen Nachkriegsliteratur – die Leitmedien des Printjournalismus und des öffentlichen Rundfunks so konstitutiv beteiligt sind wie die Nischenpublikationen kritischer Gegenöffentlichkeiten.

Aufgrund dieser reichlich verwickelten Verhältnisse hat sich nicht nur Böhmes Vermutung bestätigt, es werde »noch Jahre dauern, bis man erkannt haben wird, daß die letzten 15 Jahre Fichtes von einer in der deutschen Nachkriegsliteratur beispiellosen Produktionsintensität erfüllt waren«. Es hat sich überdies auch sein Verdacht bewahrheitet, es werde »noch länger dauern, bis man wird rekonstruieren können, in welcher Weise sämtliche forschenden und schriftstellerischen Arbeiten Fichtes aufeinander bezogen und miteinander verwoben sind« (Böhme 1991, 8f.). Das liegt an einer nach wie vor nicht unproblematischen Editionslage, aber es liegt nicht zum geringsten Teil auch daran, dass sich die Forschungsinteressen der Germanistik vornehmlich an zwei anderen Schwerpunkten ausgerichtet haben: an einer (häufig biographistisch simplifizierten) Inbezugsetzung von Leben und Werk sowie an der Hybridisierung literarischer und wissenschaftlicher Darstellungsformen in Fichtes ›poetologischer Anthropologie‹ der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Es ist deshalb – neben der grundlegenden Monographie ihres Verfassers selbst (Böhme 1992) – kaum mehr als einer Handvoll aufschlussreicher Einzelstudien zu danken, dass man sowohl Böhmes mittlerweile zwanzig Jahre alte Bestandsaufnahme der Forschung zu den Formen und Formaten von Hubert Fichtes schriftstellerischer Produktion als auch die Anmahnung ihrer Desiderate nicht ohne weiteres als aktuelle Zustandsbeschreibung verwenden darf. Zu nennen wären zumal die Dokumentation und Interpretation der Zusammenarbeit von Hubert Fichte und Leonore Mau (Braun 1997; Schoeller 2005), ferner Überlegungen zu Technik und Verfahren des Interviews (Röggla/Bandel 2005; Röggla 2006; Trzaskalik 2006) und die von akribischer philologischer Spurensuche ausgehenden Arbeiten Jan-Frederik Bandels (Bandel 2005; Bandel/Gillett 2007; Bandel 2008); schließlich die Relektüre von Fichtes Arbeiten aus einer performativitätsbezogenen, an pop-literarischen Verfahren der Hybridisierung und des Zitierens orientierten Perspektive (Schumacher 2003) und mit dem Blick auf seine Schreibverfahren (Ortlieb 2008). Dennoch steht eine systematische Erschließung der sozial- und mediengeschichtlichen Voraussetzungen, Bedingungen und Konsequenzen von Hubert Fichtes publizistischer Existenz nach wie vor aus.

Ein Vierteljahrhundert nach Fichtes Tod scheint es deshalb an der Zeit, die längst angemahnten Fragestellungen aufzunehmen – auch wenn kaum zu erwarten ist, dass die dabei erzielten Antworten sich auf die »Idee des ›absoluten Buches‹« beschränken werden, wie Böhme vermutet hat (Böhme 1991, 9). Die Tagung Hubert Fichtes Medien versucht mit dieser Wiederaufnahme nicht allein, einige der zahlreichen Lücken und blinden Flecke zu schließen, die angesichts des vielfältigen Gefüges von Fichtes schriftstellerischer Produktion auszumachen sind. Sie zielt zudem auf eine exemplarisch fokussierte Medien-, Sozial- und Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur in den späten 1960er und den 1970er Jahren: Fichtes Œuvre ermöglicht Einsicht in das Bedingungsgefüge der Medialität der Literatur, wie es in einer Epoche unmittelbar vor der medientechnischen Zäsur des Computerzeitalters gegeben gewesen ist. Für die Tagung erwünscht sind Beiträge zu einem der drei im folgenden genannten Schwerpunkte:

1. Kanäle
Mit dem Begriff des Mediums zu benennen ist dabei zunächst, in gewissermaßen klassischer Begriffsverwendung, das historisch spezifische, technisch-institutionelle Voraussetzungsgefüge der Produktion, Distribution und Rezeption von Fichtes Œuvre. Als Kanäle zu beschreiben sind darin jene Einrichtungen, die Fichte zur Präsentation seiner schriftstellerischen Arbeiten und zur Adressierung je spezifischer Öffentlichkeiten nutzt. Darunter fallen die großen Verlage mit dem oben skizzierten Profil engagierter intellektueller Intervention (Rowohlt, Fischer, Suhrkamp), in denen Fichte veröffentlicht hat, ebenso wie kleine Nischenverlage und Kunstbuchhersteller. Fichtes schriftstellerische Existenz ist überdies zwar unmittelbar und eng mit dem System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Radio, Fernsehen) sowie mit den Leitmedien des deutschen Printjournalismus (Spiegel, Stern, Zeit) verbunden – aber dennoch ohne die Berücksichtigung von Publikationsmöglichkeiten jenseits dieser (aufmerksamkeits-)ökonomisch mächtigen Einrichtungen nicht vollständig zu erfassen. Schließlich wären die Gastdozenturen und Lehraufträge, die Fichte in Princeton, Klagenfurt und Bremen wahrgenommen hat, trotz (oder vielleicht gerade wegen) ihrer durchaus heterogenen Ausrichtung als Kanäle seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu bezeichnen. Diese Kanäle bieten zugleich mehr und anderes als nur konkrete Publikationsmöglichkeiten für die Erzeugnisse einer Schriftstellerexistenz; sie generieren ökonomisches und kulturelles Kapital, das den Schriftsteller Hubert Fichte in seinen spezifischen Konturen erst ermöglicht.

2. Formate
Doch nicht allein aus gesellschaftlich-institutioneller Perspektive sind diese medialen Kanäle keineswegs die passiven, neutralen Austragungsorte für Fichtes schriftstellerische Produktion. Technische und institutionelle Medien stellen ebenso Anforderungen an die von und in ihnen realisierten Formate. Fichtes Schreiben ist deshalb eine im doppelten Sinn medialisierte Tätigkeit – es findet unter den Formbedingungen statt, die von der Heterogenität der Kanäle eingefordert wird, es fordert aber gleichermaßen das Spiel mit diesen Bedingungen und die Reflexion darüber heraus. Gerade Hubert Fichtes »Gegenwart des Schreibens« (Schumacher 2003, 158) lässt sich von Anbeginn an intensiv auf diese Bedingungen und Herausforderungen ein, versteht sie gleichermaßen als Formatvorlagen wie als Anreize zu ihrer Überschreitung. Fichtes mediale Formate reagieren so nicht nur auf die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen der Kanäle, in denen sie realisiert werden, sondern bieten implizite oder explizite Poetologien dieser Formate. Sein Œuvre versammelt damit eine regelrechte Enzyklopädie schriftstellerischer und literarischer Performativitäten der 1960er und 1970er Jahre: Hörstück und Feature, Foto-Film, Reportage und Interview, (Vor-)Lesung und Roman, Essay und Kritik. Diese wäre, über die konkrete Werkgeschichte hinaus, als Ausgangspunkt zu nehmen für eine Erkundung der Möglichkeitsbedingungen von Literatur in einem Zeitalter medialer Ausdifferenzierung.

3. Hybride
Die poetologische Verdopplung, wie sie in Fichtes Œuvre zu beobachten ist, überlagert und unterwandert nicht nur geregelte Medienformate mit spielerisch-inventorischen Einsätzen. Schreiben in einem Medienzeitalter bedeutet für Fichte auch, dass die Schrift als Primärmedium von Literatur nicht nur einfach benutzt, sondern ihrerseits beobachtet und reflektiert werden muss. Das lässt sich einerseits an Produktionen beobachten, die mit dem Voraussetzungsgefüge traditioneller intermedialer Bezugsformen arbeiten: vornehmlich an den Bild-Text-Assemblagen der Fotobände, die Leonore Mau und Fichte publiziert haben. Insbesondere aber die komplementären Sprachmedialitäten gesprochener und geschriebener Sprache rücken unter diesen Bedingungen in den Blick. Fichtes schriftstellerische Produktion setzt dabei konsequent auf reflektierte Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen, wie sich am Format des Interviews beobachten lässt: Zum einen findet man seit den 1960er Jahren sowohl Print- wie Radiointerviews, die Fichte mit Politikern, Künstlern und Schriftstellern geführt hat. Zum anderen und gleichzeitig aber wird das Interview sowohl zur Recherche- als auch zur Darstellungsform für Fichtes schriftstellerische Arbeit (Interviews aus dem Palais d’Amour etc., Reinbek b. Hamburg 1972; Hans Eppendorfer. Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte, Frankfurt am Main 1977). Und schließlich nimmt Fichte Darstellungsform und transmediale Effekte des Interviews in den Dienst seiner Erzählverfahren, wie sowohl sein Versuch über die Pubertät (Hamburg 1974) als auch und vor allem das Großprojekt einer Geschichte der Empfindlichkeit (seit Mitte der 1970er Jahre) zeigt. Wenn Kathrin Röggla feststellen kann, dass »der ›akustische Fichte‹« für sie »stärker im Text zu finden« sei als in den Realisierungen gesprochener Sprache, dann ist diese »Hybridisierung des akustischen Raums« (Röggla/Bandel 2005, 291 und 303) als Konsequenz jener reflektierten Formatüberschreitungen zu verstehen, die man als Grundlage von Fichtes Schreiben spätestens ab den 1970er Jahren bezeichnen muss.

Bitte schicken Sie Ihren Vorschlag für einen Tagungsbeitrag mit Exposé (1-2 Seiten) und kurzer bio-bibliographischer Notiz bis zum 31. Mai 2011 an eine der folgenden Adressen:

Mail: Stephan.Kammer@uni-duesseldorf.de
Post: PD Dr. Stephan Kammer
Vertretungsprofessur ›Theorie und Geschichte schriftlicher Kommunikation‹
Institut für Germanistik IV
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstraße 1
40215 Düsseldorf

Zitierte Literatur:

Bandel 2005
Jan-Frederik Bandel, Fast glaubwürdige Geschichten. Über Hubert Fichte, Aachen 2005.

Bandel/Gillett 2007
Jan-Frederik Bandel Robert Gillett (Hrsg.), Hubert Fichte. Texte und Kontexte, Hamburg 2007.

Bandel 2008
Jan-Frederik Bandel, Nachwörter. Zum poetischen Verfahren Hubert Fichtes, Aachen 2008.

Böhme 1991
Hartmut Böhme, »Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Vorwort«, in: Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Studien zum Werk Hubert Fichtes, hrsg. von Hartmut Böhme und Nikolaus Tiling, Frankfurt am Main 1991, 7-20.

Böhme 1992
Hartmut Böhme, Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur, Stuttgart 1992.

Braun 1997
Peter Braun, Die doppelte Dokumentation. Fotografie und Literatur im Werk von Leonore Mau und Hubert Fichte, Stuttgart 1997.

Ortlieb 2008
Cornelia Ortlieb, »Die wilde Ordnung des Schreibens. Hubert Fichtes Pläne und Zettel«, in: Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, hrsg. von Christoph Hoffmann, Zürich, Berlin 2008, 129-152.

Röggla/Bandel 2005
»Gespräch mit Kathrin Röggla«, in: Jan-Frederik Bandel, Fast glaubwürdige Geschichten. Über Hubert Fichte, Aachen 2005, 282-307.

Röggla 2006
Kathrin Röggla, »stottern, stolpern und nachstolpern – zu einer ästhetik des literarischen gesprächs«, in: Kultur & Gespenster 2 (2006), 98-107.

Trzaskalik 2006
Tim Trzaskalik, »Geklebte, gelebte Blätter. Notizen zum Genre des Interviews bei Hubert Fichte«, in: Kultur & Gespenster 2 (2006), 82-97.

Schoeller 2005
Wilfried F. Schoeller, Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin, Frankfurt am Main 2005.

Schumacher 2003
Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt am Main 2003.

Programm

Kontakt

Stephan Kammer

Institut für Germanistik IV
HHU Düsseldorf

stephan.kammer@uni-duesseldorf.de


Redaktion
Veröffentlicht am