Hegemoniale Strukturen der Musik. Besatzungspolitiken, Emotionen und ihr Transfer im Europa der Weltkriege 1914-1949

Hegemoniale Strukturen der Musik. Besatzungspolitiken, Emotionen und ihr Transfer im Europa der Weltkriege 1914-1949

Veranstalter
Dr. Sven Oliver Müller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin; Prof. Heinz-Gerhard Haupt, European University Institute, Florenz
Veranstaltungsort
Großer Saal, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.03.2011 - 13.03.2011
Deadline
10.03.2011
Von
Törmer, Iris

Das Musikleben in Europa wurde in den beiden Weltkriegen überschattet von einer hegemonialen Besatzungspolitik der kriegführenden Staaten und Kulturen. Um den Krieg zu gewinnen, griffen das Deutsche Reich, Italien, Großbritannien und die Sowjetunion auch zu musikalischen Mitteln. Das Ziel war es, die Siegeschancen dadurch zu erhöhen, dass besetzte Länder durch von den erfolgreichen Mächten organisierte Konzertreihen überzogen wurden und man das musikalische Repertoire in den Opernhäusern und Konzertsälen, im Radio oder auf der Schallplatte massiv veränderte. Denn wem die gegebene U- oder E-Musik der konkurrierenden Kriegspartei gefiel, so die Überlegung, der könne eine emotionale Anbindung an den Gegner erfahren und die militärischen Sieger die Unterworfenen damit emotional und affirmativ gewinnen. Gerade die Musik, genauer die musikalischen Aufführungen, funktionierten in dieser Perspektive dadurch als ein Gipfelpunkt kultureller und habitueller Vervollkommnung, als eine Praxis, die sich zudem mit vergleichbar geringem Aufwand auf dem ganzen Kontinent verbreiten ließ.

Der Glaube in den kriegführenden Staaten an einen spezifischen Charakter der „großen“ Musik aus Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien oder Russland bzw. der Sowjetunion, stellte eine nationalistische Setzung dar, die vieles über die kulturpolitischen Besatzungsstrategien und die emotionalen Erwartungen der Besatzer und der Besetzten – aber weniges über das bestehende Musikleben in Europa verriet. Militärische Gewalt und militärische Musik markierten seltener unterschiedliche als gemeinsame Phänomene in der Kulturpolitik der kriegführenden Staaten. Beide funktionierten als Instrumente der Besatzungspolitik, beide hatten hegemoniale Auswirkungen.

Diese Tagung analysiert den hegemonialen Transfer, das Konzept, die Reichweite und die Grenzen kulturpolitisch eingesetzter U- und E-Musik im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Europa. Der Fokus liegt auf der Musikpolitik des Deutschen Reichs, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands, bzw. der Sowjetunion. Es interessieren bereits besetzte und zu besetzende Staaten einerseits sowie die innenpolitischen Strategien und Erfolge dieser musikalischen Kampagnen andererseits. Der Blick richtet sich nicht allein auf die musikalischen Kompositionen, sondern ebenso auf die Interpretationen und Inszenierungen, auf Konzerttourneen, auf den Einsatz von Radioprogrammen, Schlagern auf Schallplatten oder Hymnen in Schulbüchern. Die Tourneen der Opernensembles, der Varietés und bekannter Künstler und ebenso der Transfer gefälliger Tanzmusik, Schlager und berühmter E-Musik sollen die Akzeptanz, aber auch die Ablehnung dieser Demonstrationen in besetzten Staaten und Ländern untersuchen. So könnte deutlich werden, inwieweit ein militärisch eingebetteter musikalischer Transfer nicht nur Prozesse gegenseitiger Toleranz und Freude, sondern auch Abgrenzung und Hass verursachte. Denn die besetzenden Mächte versuchten regelmäßig das Repertoire, ja die musikalischen Traditionen ihrer Feinde zu vernichten.

Ein Vergleich der Transferstrategien und der Rezeptionsmuster in beiden Weltkriegen lohnt sich. Im Ersten Weltkrieg verfügte Frankreichs Regierung über eine expansive Musikpolitik, im Zweiten Weltkrieg jedoch unter deutscher Besatzung die Bevölkerung über eher passive und defensive Formen im Umgang mit deutschem Kulturtransfer. Gerade der Vergleich der Medienstrategien des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg weist wichtige Unterschiede auf. Die Berliner Philharmoniker bereisten 1940 zahlreiche Städte in den Niederlanden, Belgien und Frankreich, Tourneen der Berliner und Hamburger Staatsoper und Operettenensembles folgten. Im besetzten Polen aber fiel auch die kulturpolitische Demonstration deutscher Macht schrecklicher aus. Die deutschen Sieger verboten dem polnischen Publikum den Besuch musikalischer Aufführungen.

Eine Reihe wichtiger Fragen soll diskutiert werden. Zunächst geht es um die Interessen der kriegführenden Mächte, um die Handlungen der Institutionen und Medien. Von Interesse ist die Frage nach der Konservierung eines musikalischen Kanons zwischen Beethovens 5. Sinfonie und Lili Marleen. Die Zensur der Besatzungsmächte und die Selbstzensur des besetzten Publikums sollen in Beziehung gestellt werden. Denn erst durch dieses politische Spannungsverhältnis lassen sich emotionale Aggressionen und emotionale Partizipation erkennen. Warum aber und auf welche Weise differierten die kulturpolitischen Strategien zwischen den Verbündeten? Wie unterschied sich der kulturpolitische Transfer zwischen den Kriegsparteien und zwischen West- und Osteuropa insgesamt? Ist eine beachtliche Normierung des musikalischen Repertoires zu beobachten, das heißt wurden 1917 in Frankreich eher Saint-Saëns und die Chansons, in Deutschland eher Wagner und die „Wacht am Rhein“ propagiert? Oder optierte man für nationalistisch weniger sichtbare Musik, die sich leichter als politische Werbemaßnahme einsetzen ließ? Und umgekehrt: Wie nahm das Publikum in den besetzten Ländern dieses Programm wahr, welche Gruppen genossen diese Musik, welche verweigerten sich? Vielleicht veränderten erst die unerwarteten Verhaltensmuster und Misserfolge die kulturelle Topographie und die Hegemonie in Europa.

Programm

PROGRAMM
Freitag, 11. März 2011
15.00-16.30 Uhr
Begrüßung durch Ute Frevert (Berlin)
Heinz-Gerhard Haupt (Florenz): Zum Kulturtransfer in Europa
Sven Oliver Müller (Berlin): Die Fortsetzung des Krieges mit musikalischen Mitteln? Zum Verhältnis von Krieg, Musik und Emotionen

17.00 Uhr – 19.00 Uhr

Deutsche Okkupationspolitik im Zweiten Weltkrieg - Chair: Jörg Echternkamp (Potsdam)

Hanns-Werner Heister (Hamburg): Zu Funktionen der Musik in der nazistischen Besatzungspolitik 1938-45. Fallbeispiele und vorsichtiger Versuch einer Typologie
Jeroen van Gessel (Groningen): The Strasbourg Municipal Theatre during the Second World War, or the reconstruction of a fictious tradition
Katarzyna Naliwajek-Mazurek (Warschau): Music during the Nazi occupation of Poland 1939-1945
Kommentar und Diskussion

Samstag, 12. März 2011
10.00 – 12.00 Uhr

Musikalische Kulturpolitik - Chair: Sarah Zalfen (Berlin)

Stephanie Kleiner (Konstanz): Klänge von Macht und Ohnmacht - Überlegungen zu einem Konzept musikpolitischer Hegemonie am Beispiel der Rheinlande (1918-1930)
Manuela Schwartz (Magdeburg): Französisches Musikleben unter deutscher Okkupation 1940-44.  Aspekte nationalsozialistischer Kulturpolitik im Zweiten Weltkrieg
Andreas Linsenmann (Mainz): Zwischen ‚Ächtung‘ und ‚Zauber‘ - Repertoirestrategien französischer Musikpolitik im Nachkriegsdeutschland
Kommentar und Diskussion

13.00 - 15.00 Uhr

Musik als Mittel nationalistischer Selbstbestimmung - Chair: Philipp Ther (Wien)

Rebecca Wolf (Berlin): Musik und Nationalgefühl? Emotionaler Weltzugang und staatliche Selbst-Inszenierung zu Beginn des 20. Jahrhundert
Seren Akyoldas (Florenz): Musical Activities in Istanbul during the Armistice Period (1918-1923)
Vjera Katalinic (Zagreb): Aspects of musical life in Croatia within two totalitarianisms (1941-1952)
Kommentar und Diskussion

15.30 - 17.30 Uhr

Konsum statt Konflikt - Chair: Claudius Torp (Kassel)

Stanislav Tuksar (Zagreb): Music and mass-media in Croatia during the First World War
Michael Walter (Graz): Lily Marleen
Oksana Sarkisova (Budapest): Light Cavalry. Soviet musical film during the Second World War
Kommentar und Diskussion

Sonntag, 13. März 2011
10.00-12.00 Uhr

Musik der Unterdrückung - Musik des Widerstands – Chair: Jutta Toelle (Berlin)

Juliane Brauer (Berlin): Die Häftlingsorchester. Musikalische Gewalt und Emotionsmanagement in den nationalsozialistischen Lagern
Magdalena Waligorska (Florenz): Der Jüdische Kulturbund 1933-1941
Jalda Rebling (Berlin): Lin Jaldati und Eberhard Rebling: Jiddische Musik im Widerstand 1940 - 1945
Kommentar und Diskussion

13.00 - 14.30 Uhr

Vom Nutzen und Nachteil des Genius - Chair: Daniel Morat (Berlin)

Gesa zur Nieden (Rom): ‘I am a veteran pianist and it doesn‘t sound well!‘ Musik, Krieg und Kriegsbewältigung beim einarmigen Pianisten und Mäzen Paul Wittgenstein
Hermann Grampp (Berlin): Deutsche Kunst und welscher Tand? Konflikte im Wagnerismus in Deutschland und Frankreich

15.00 Uhr Schlussdiskussion
Ute Frevert (Berlin), Heinz-Gerhard Haupt (Florenz), Hanns-Werner Heister (Hamburg), Sven Oliver Müller (Berlin), Michael Walter (Graz)

Kontakt

Iris Törmer

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung; Lentzeallee 94; 14195 Berlin

030-82406388
030-8249939
toermer@mpib-berlin.mpg.de

http://www.mpib-berlin.mpg.de
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