Vom Gegner lernen: Erfahrungstransfers während der europäischen Okkupationen (1914-1968)

Vom Gegner lernen: Erfahrungstransfers während der europäischen Okkupationen (1914-1968)

Veranstalter
Centre Marc Bloch
Veranstaltungsort
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.06.2011 -
Deadline
28.02.2011
Website
Von
Sophie Schifferdecker

Ein Kolloquium zu den Okkupationserfahrungen Europas zwischen 1914 und 1945, das im September 2004 am Berliner Centre Marc Bloch stattfand, wurde durch den Historiker Bernhard Struck mit einem Résumé abgeschlossen, in dem er eine Reihe immer noch offener Fragen an die Geschichte zum Thema Transfer aufwarf. Gewinnbringend erschien Bernhard Struck besonders die Betrachtung dreier verschiedener Transferformen: das Einfließen kolonialer Diskurse und Praktiken in die Besatzungspraxis, Transfers zwischen verschiedenen Besatzungssituationen (von Ost nach West, vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg u.a.) und schließlich Transfers zwischen Besatzern und Besetzten. Sieben Jahre später möchte nun der Workshop im Juni 2011 jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, die vorgeschlagene Diskussion dieser Fragen aufzunehmen.

Den vergleichenden Ansatz vertiefend und gleichsam überschreitend, ist das Konzept des Transfers aus der Erneuerung der deutsch-französischen Kulturgeschichte entstanden und befindet sich seit mindestens 15 Jahren im Zentrum der Bemühungen, eine europäische Geschichte zu schreiben. Zwei grundlegende Elemente definieren den Transfer: zum einen die Prozesse der Übertragung bzw. der Mobilität von Dingen und Menschen, zum anderen Transformationen in der Tiefenstruktur der aufnehmenden Gesellschaft im Kontext bestimmter Konjunkturen, in denen die aufnehmenden Gesellschaften entlang ihrer Bedürfnisse eine Auswahl vollziehen.

Allerdings konnte der aus der deutsch-französischen Zusammenarbeit entstandene Begriff des Transfers nicht ohne eine Betrachtung der Konflikte und Austauschprozesse zwischen Feinden weiterentwickelt werden. So haben Martin Aust und Daniel Schönpflug darauf hingewiesen, dass auch Konfliktsituationen zu intensiven Lernprozessen führen können und dass es Transfer nicht nur trotz, sondern gerade wegen konfliktreicher Beziehungen geben kann. (Aust, Martin/Schönpflug, Daniel (Hgg.): Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2007.) Wir nehmen ihre Hypothese auf und beabsichtigen ihren heuristischen Wert zu überprüfen, indem sie etwas ausgeweitet und auf ein Gebiet übertragen wird, das Aust und Schönpflug nicht betrachtet haben: dasjenige der Besatzungen und Besatzungserfahrungen, die sich bei näherer Betrachtung als ein fast gemeineuropäisches Phänomen erweisen, bei dem zumindest eine der beiden Bedingungen für Transferprozesse erfüllt ist: die Mobilität einer großen Zahl von Individuen. Auf welche Weise zirkulierten in diesem Europa, in dem über einen Zeitraum von vierzig Jahren Armeen, Verwaltungen, Experten, Opfer und Flüchtlinge zu Millionen die Ländergrenzen überschritten, die Erfahrungen der Okkupatoren und der Okkupierten? Wie werden diese verstanden, formuliert, mobilisiert und benutzt?

Der diesjährige Workshop hat sich zum Ziel gesetzt, das Forschungsfeld auch auf das Nachkriegseuropa auszuweiten. Da die von Jürgen Zimmerer eröffnete Auseinandersetzung über den möglichen Beitrag einer post-kolonialen Lesart zum Verständnis des Nationalsozialismus eine Debatte über die Verbindungen zwischen den inner- und außereuropäischen Okkupationen unausweichlich gemacht hat, erscheint es ebenso interessant, gewissermaßen umgekehrt die Wirkung der Okkupationserfahrungen des Zweiten Weltkrieges auf die Kolonialkriege sowie den Antikolonialismus und Antiimperialismus eingehender zu betrachten.

Das so eröffnete Forschungsfeld ist immens. Schon mit Beginn der Okkupation vollziehen Besatzer und Besetzte eine selbstreflexive Analyse ihrer Erfahrung, die in die Konstruktion eines spezifischen Diskurses und eines spezifischen Fundus von Wissen und Bewusstsein einfließt. Diese ursprüngliche Produktion von Wissen und entsprechenden Diskursen wird daraufhin gleichermaßen in unterschiedlichen Kontexten genutzt und auf Gruppen übertragen, die nicht mehr nur die Ursprungsakteure umfassen. Tatsächlich kann es nicht nur darum gehen, das Handeln bestimmter Schlüsselakteure zu verfolgen, die in ihren Biographien den Transfer gewissermaßen verkörpern – so beispielsweise bei der Rollenumkehr eines ehemaligen Résistant zum Besatzer. Es muss weiterhin darum gehen, die Weitergabe dieser Erfahrung zu verfolgen, um unser Verständnis von „Kontinuitäten“, „Traditionen“ oder „Erinnerungen“ zu vertiefen. Institutionelle Logiken, Netzwerkeffekte oder der Einfluss von Vereins- oder Verbandskulturen, Kultur- und Erinnerungspolitiken, familiäre Traditionsbildung: dies ist nur ein Teil der möglichen Kanäle für Erfahrungstransfer und ein Teil der möglichen Wege, auf denen sich gemachte Erfahrung verändert. Eine solche Analyse würde es ermöglichen, die Konturen einer in jedem Falle europäischen Geschichte nachzuzeichnen, die aber gleichzeitig die Spezifika der historischen Kontexte und Situationen nicht außer Acht lässt.

Entsprechend der langen Tradition des deutsch-französischen Dialogs am Centre Marc Bloch, wird sich der Workshop auf Transfers zwischen Frankreich und Deutschland konzentrieren, da beide eine überaus reiche Geschichte des Transfers von Okkupationserfahrungen aufweisen. Gleichzeitig wird aber die Analyse auf den europäischen Kontinent ausgeweitet und hier insbesondere auf Osteuropa und die Sowjetunion. Auch wenn es im Rahmen eines Workshops unmöglich sein wird, ein komplettes Bild zu erstellen, wird hierdurch doch ein fokussierter Vergleich von West- und Osteuropa möglich, der die Debatte bereichern dürfte. Eingeladen sind Doktoranden und junge Forscher, denen als Diskutanten erfahrene Forscher zur Seite gestellt werden. Arbeitssprachen werden Deutsch, Französisch und Englisch sein.

Bitte senden Sie eine maximal einseitige Zusammenfassung Ihres Referatsvorschlages (20 Minuten) und kurze Angaben zu Person und Werdegang bis zum 28. Februar 2011 an:

workshop.cmb2011@gmail.com

Programm

Kontakt

Sophie Schifferdecker
Centre Marc Bloch, Friedrichstrasse 191, 10117 Berlin
workshop.cmb2011@gmail.com


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