Regierungswissen und die Grenze zwischen „Verwaltung“ und „Politik“. Frankreich/Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Regierungswissen und die Grenze zwischen „Verwaltung“ und „Politik“. Frankreich/Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Veranstalter
Centre Marc Bloch
Veranstaltungsort
Centre Marc Bloch, Friedrichstr. 191, D-10117 Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.06.2010 - 24.06.2010
Deadline
15.03.2010
Website
Von
Centre Marc Bloch, Berlin

Charakteristisch für das 19. und 20. Jahrhundert sind die zunehmenden Interventionen öffentlicher Institutionen in „die Gouvernementalität des Sozialen“. Dieser wachsende staatliche Einfluss basierte unter anderem auf der Entwicklung von spezifischen professionellen Strukturen und Gruppierungen, die sich damit befassten, diese Interventionen zu organisieren. Aus der Gesamtheit dieser Gruppen und Strukturen hat sich die spezifische Sphäre der „öffentlichen Verwaltung“ entwickelt. Nachdem die öffentliche Verwaltung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland durch zahlreiche Umbrüche in revolutionären und nach-revolutionären Phasen in Bewegung geraten war, fand sie schließlich Wege einer friedlicheren Institutionalisierung, als in den politisch schwer kontrollierbaren, und häufig spektakulär instabilen Regimen, in denen sie „im Dienst des Staates“ stand. Erstaunlicherweise drückt dieser Gegensatz den Erfolg der wachsenden Unabhängigkeit der sogenannten „Verwaltung“ einerseits zur sogenannten „Politik“ andererseits aus. Sind aber Politik und Verwaltung alleine durch ihre unterschiedlichen Rekrutierungsformen, ihre Arten, sich zu legitimieren oder durch ihre Handlungsressourcen zwei grundsätzlich verschiedene Welten? Diese Aufteilung ist bei weitem nicht selbstverständlich: Vermeintlich klar voneinander unterschieden repräsentieren „Verwaltung“ und „Politik tatsächlich zwei Gesichter des gleichen Phänomens des Regierens. Je nach Perspektive kann daher das Paar Verwaltung/Politik als eine widersprüchliche Vereinigung, als eine funktionale Unterscheidung, als Pleonasmus oder sogar als Mystifizierung gelesen werden. Diese ambivalente Situation macht genau ihre strategische Rolle in der Legitimierung der politischen legal-rationalen Ordnung aus. Gleichzeitig verweist sie auf die nicht weg zu diskutierende Ungewissheit, die sich aus der Tatsache ergibt, dass diese Unterscheidung als grundlegende Kategorie unserer zeitgenössischen politischen Ordnung zugleich eine historische Konstruktion ist. Das Ziel der Tagung ist die detaillierte Untersuchung der Orte und Momente, die zeigen, wie sich diese Unterscheidung herausbildet und institutionalisiert.

Einem Aspekt in der Herausbildung der Grenze zwischen Verwaltung und Politik wird dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt: der Rolle von spezialisierten Wissensformen. Die Verwaltungsinstitutionen entwickeln sich auf der Grundlage von formalisierten Wissensbeständen; professionelle Gruppierungen kodifizieren ihre Praktiken, um sich zu legitimieren und diese gleichzeitig monopolisieren zu können; zivile Akteure und Politiker wenden sich an die Verwaltung als kompetente Organisation. Durch Inhalte, Verwendungsweisen, Inszenierungen tragen diese Wissensbestände folglich dazu bei, die Verwaltung, die Politik sowie deren Unterschiede zu formulieren und in ‚Tatsachen‘ zu übersetzen. Im Rahmen zahlreicher intellektueller Unternehmungen einer „socio-histoire“ wurde die Verschiebungen von der Statistik zur Demografie oder von der „guten Policey“ zur Organisationssoziologie aufgezeigt. Dabei geht es nicht um die Unterscheidung zwischen „wissenschaftlichem“, „politischem“ oder „administrativen“ Wissen, sondern um die Wissensbestände, die diese Unterschiede produziert haben und eine politische Ordnung, die sich hierauf stützte: das Regierungswissen.

Die Tagung, die von den Mitgliedern des Projekts MOSARE (La Mobilisation des Savoirs pour la Réforme) organisiert wird, widmet sich den Dispositiven, die dazu führen, dass diese Wissensbestände zu unumgänglichen Figurationen der Rekrutierung, Ausbildung und Praktiken der Beamten und öffentlichen Angestellten werden oder anders gesagt, durch die ihre Rollen festgelegt werden. Diese Dispositive können aus unterschiedlichen Bereichen hervorgehen: Ausbildungswege, Kongresse, assoziative Treffen, Bibliotheken oder Webseiten, Einstellungsverfahren oder Evaluationsinstrumente, die in der Vorbereitung von Karrieren des Verwaltungspersonals verwendet werden. Diese Dispositive führen in jedem Falle Objekte zusammen oder lassen diese erst entstehen (wie zum Beispiel Studienprogramme, bibliografische Referenzlisten, Formulare, Maschinen, populäre Texte, Zeitschriften, Referenzwerke). Das gleiche gilt für ihre spezifischen Orte (Unterrichtsräume, Bibliotheken, Konferenzen, Forschungszentren). Sie rufen spezifische Ziele hervor (identifizieren, inventarisieren, auswählen, einordnen, herausgeben, erklären), manchmal sogar Berufsbilder (Dokumentarist, Ausbilder, Konservator). Durch eine konstante Auswahl tragen sie zum „Agenda Setting“ bei, in dem sie bestimmte Kategorien von Akteuren und Handlungsrepertoires bestimmen, die diesen ganz besonders angemessen sind. Somit erfassen und verstärken diese Dispositive ganz allgemein eine bestimmte Arbeitsteilung der Regierung: Sie errichten eine Infrastruktur, die zum Teil mit institutionellen Rollen verbunden ist, und zwar „politischen“ und „administrativen“. Sie sehen sich mit der paradoxen Herausforderung konfrontiert, Wissensbestände zu schaffen, die der Politik zur Verfügung stehen, deren Begriffe diese aber selbst erst konstruiert und die deshalb noch lange kein festes politisches Wissen darstellen.

Die Konferenzvorträge behandeln also Wissensbestände und Dispositive, die diese institutionalisieren, indem sie die Differenzierung zwischen Verwaltung und Politik ins Spiel bringen. Sie präsentieren empirische Fälle aus Deutschland oder Frankreich im 19. oder 20. Jahrhundert. Eingeladen sind Vorschläge aus allen Disziplinen der Sozialwissenschaften; Konferenzsprachen sind Englisch, Deutsch und Französisch. Nach der Auswahl der Vorträge werden die vorläufig ausgearbeiteten Beiträge Anfang Juni an die Teilnehmenden der Tagung versendet.

Dieser CFP findet im Rahmen des Forschungsprojekts „Wissensmobilisierung für Reformen“ statt, das von der französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) im Kontext des Programms „Verwalten/Regieren“ finanziert wird. Von Renaud Payre geleitet, umfasst das Projekt die Forschungszentren Triangle (Lyon), LAHRAH (Lyon) und das Centre Marc Bloch (Berlin). Es ist rund um das Seminar „Bibliothèque de l’administrateur“ gegliedert.

Vorschläge für einen Vortrag (etwa 4000 Zeichen) bitte bis zum 15. März 2010 einreichen.
Das Auswahlkomitee entscheidet bis zum 24. März 2010
Textabgabe (etwa 40.000 Zeichen): 1. Juni 2010
Tagung: 23.-24. Juni
Kontakt: Philippe Bongrand (bph@cmb.hu-berlin.de) und Julie Gervais (gervais_julie@yahoo.fr)

Programm

Kontakt

Philippe Bongrand

bph@cmb.hu-berlin.de


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