„Politische Ökologie“, Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 6

„Politische Ökologie“, Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 6

Veranstalter
Zeitschrift für Kulturwissenschaften www.zfkw.net
Veranstaltungsort
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.06.2009 -
Deadline
01.06.2009
Von
Sebastian Gießmann, Ulrike Brunotte, Hartmut Böhme, Christoph Wulf

Befinden wir uns, mehr denn je, im Unvernehmen mit der Natur? Nicht allein eine neue Welle von Katastrophenfilmen, sondern auch die Medialisierung von Dürren, Erdbeben, Sturmfluten, Überschwemmungen und Tsunamis hat in den letzten Jahren eindringlicher als zuvor auf die religiöse Codierung dieser Gewalten zurückgegriffen. Ihr Zeichenarsenal als ‚göttliche Rachemacht‘ und ihre materiale Fähigkeit, unsere gewohnten Lebensgrundlagen radikal zu verändern, lösen die Trennung von Subjekt und Objekt, Herrscher und Beherrschten, ja Mensch und Natur auf. Daher kann und muss eine politische Ökologie mehr sein als nur die kreiselnd wiederkehrende Selbstermutigung auf die Frage hin, was nun längst schon zu tun gewesen wäre. „Unsere Augen und unsere Köpfe sind voll von ökologischer Sehnsucht.“ (Régis Debray). Die Umsetzung dieser überlebensnotwendigen Sehnsucht in ein realisierbares politisches Programm erscheint als eine der zentralen Fragen der Gegenwart – und ist doch als neuerer Diskurs fast 40 Jahre alt.

Hans Magnus Enzensberger hat bereits 1973 in einem programmatischen Text zur Kritik der politischen Ökologie die historischen wie ideologischen Bedingungen der ökologischen Bewegung seziert. Der „methodologische Wirrwarr“, mit dem das ökologische Denken nahezu alles – von der Systemtheorie bis zur Bevölkerungswissenschaft – in eine politisch-aktivierende Synthese überführen will, führt zu unsicheren diskursiven Relationen zwischen Kultur und Natur. Die prognostischen Aussagen einer politischen Ökologie produzieren dabei seit den 1970er Jahren eine ebenso hypothetische wie katastrophische Zukunft für das sprichwörtliche „Raumschiff Erde“.

Für eine politische Ökologie: Der Untertitel von Bruno Latours Manifest zum einzuberufenden Parlament der Dinge (2001) verschweigt und enthüllt zugleich, dass im Verhältnis von Diskurs und Natur alle intellektuellen Bemühungen nachträglich sind, obwohl sie von der unmittelbaren Zukunft handeln. Latours Auflösung der Gegenüberstellung von ‚Natur‘ und Gesellschaft zugunsten eines sich erweiternden Kollektivs nicht-menschlicher und menschlicher Wesen geht davon aus, dass es eine politische Ökologie im eigentlichen Sinne (noch) nicht gibt. Die beschworene Versöhnung in einem „Parlament der Dinge“ jenseits des Dualismus von Natur und Kultur entspricht mithin nicht den globalen Umgangsweisen mit den Restbeständen dessen, was einst ‚Natur‘ genannt wurde. Wenn jeder Dokumentarfilm „unberührte Natur“ in Bildausschnitten erst herstellen muss, da sonst anthropogene Strukturen immer schon ins Bild drängen würden, braucht es dann nicht politisch unkorrekte Regeln für die Natur als Menschenpark?

Zudem haben inszenierte Naturkatastrophen die Geschichte der realen Zerstörungsprozesse schon immer begleitet; als ‚Geschichtszeichen‘ oder erhabenes Schauspiel wurden sie in den Diskurs der rationalen Erhebung des Subjekts integriert. Wie ändert sich dieses abgeklärte Szenario unter den technisch-medialen Bedingungen des 21. Jahrhunderts? Es kehrt so stets die Frage wieder, in welcher Form sich eine neue Ökologie überhaupt gestalten lässt: Realisiert sie sich als Naturvertrag (Michel Serres) in der langen religiösen Tradition eines Kontraktes zwischen Menschen, Göttern und Natur? Können in einem Parlament der Dinge (Bruno Latour) menschliche und nicht-menschliche Wesen die gleiche Sprach- und Handlungsmacht erlangen? Oder bleibt als Alternative nur ein neu einzuübender Codex von Anthropotechniken (Peter Sloterdijk), der eine radikale Selbstzähmung und Umzüchtung der Gattung Mensch beinhalten muss?

Vor diesem paradoxen Hintergrund fragt die Ausgabe Nr. 6 der Zeitschrift für Kulturwissenschaften nach den vagen Konturen, konkreten Praktiken und historischen Herkünften einer politischen Ökologie im 21. Jahrhundert. Wie und unter welchen Bedingungen wird und wurde das obligatorische Fragezeichen des „Was tun?“ in ein ökologisch motiviertes Ausrufezeichen verwandelt? Welche religiösen und philosophischen Codes haben es bisher vermocht, die Subjekt-Objekt-Spaltung moderner Rationalität in eine Ambivalenz der ‚Naturmächte‘ umzudeuten, die gleichwohl bündnisfähig erschienen? An welche historischen und religiösen Verlaufsformen von Kulturtechniken und Imaginationen der Natur- und Raumbeherrschung ist im Hier und Jetzt zu erinnern? Auf welche Art und Weise lassen sich die medialen Inszenierungen von Naturkatastrophen und Untergangsszenarien kontextualisieren, ohne die materiellen Verheerungen außer Acht zu lassen? Welche widersprüchlichen politisch-ökonomischen Rollen spielen Rohstoffe als Agenten des Stoffwechsels von Mensch und Natur? Wie lassen sich Kulturen von ihren imaginären Abspaltungen (Abjekten) und von der Produktion ihrer Abfälle her denken? Warum entsorgt der Westen seine Computer-Lieblingsspielzeuge auf Müllkippen in Afrika und China? Welche impliziten wie expliziten medienökologischen Entwürfe und welche Katastrophenszenarien entstehen in Gesellschaften, die sich selbst als Informations- und Wissensgesellschaften verstehen? Welchen Regeln gehorcht das komplexe Spiel von Statistik, Meteorologie und Regierungswissen im Rahmen der Wettervorhersage und Klimaforschung? Und in welchen biopolitischen und gouvernementalen Entwürfen spiegelt und verzerrt sich das Programm einer politischen Ökologie?

Kontroverse Beiträge zum Verhältnis von Natur, kulturellen Praktiken und (politischer) Diskursivität sind u.a. zu den folgenden Themen hoch willkommen:

1. Medialität der Naturkatastrophe
− Kultur-, Medien- und Kunstgeschichte der Naturkatastrophe; diskursive Ordnungen und religiöse Codierungen lokaler und globaler Krisen- und Untergangsszenarien; (kollektive) Inszenierungen und Performances des Katastrophischen; Fallstudien zur Medialisierung und politischen Instrumentalisierung des Klimas...

2. Kulturgeschichte und Ästhetik des Mülls
− Praktiken, Techniken und Imaginationen des Abfalls und des Abseitigen; fremde und vertraute abgelegte Dinge (Antiquitäten, Souvenirs, Fetische); Orte und Architekturen des Mülls (Brachen, Ruinen, Kanalisationen, Mülltonnen/-halden, Kläranlagen, Datenbanken, Recycling-Höfe, Endlager etc.); künstlerische Interventionen und Strategien der Musealisierung...

3. Wissensgeschichte und Gegenwart von Ökologie und Klimaforschung
− Theorie, Geschichte und Popularisierung des ökologischen Diskurses; Kontinuitäten und Brüche in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte von Meteorologie, (gouvernementaler) Statistik und Ökologie; historische und aktuelle Fallstudien zur Evidenzproduktion durch Kulturtechniken des Messens, Beobachtens, Modellierens und Simulierens von Natur; politische Ökologie der Netzwerk- und Informationsgesellschaft (Rohstoffhandel, Energiehunger, Datenmüll)...

Bereits fertig gestellte Texte oder möglichst ausführliche Entwürfe mit einer Länge von maximal 25.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) senden Sie bitte im RTF-Format bis zum 1. Juni 2009 an die vier Redaktionsmitglieder:

Sebastian Gießmann (sebastian.giessmann@culture.hu-berlin.de)
Ulrike Brunotte (ulrike.brunotte@culture.hu-berlin.de)
Hartmut Böhme (hboehme@culture.hu-berlin.de)
Christoph Wulf (chrwulf@zedat.hu-berlin.de)

Zitate bitte in französischen Anführungszeichen (» und «). Literaturangaben nach amerikanischem Muster, d.h. im Text: »...« (Foucault 1967: 13), vollständige Literaturangabe in einer Bibliografie am Ende des Textes. Ausführliche Informationen und ein Stylesheet finden Sie unter www.zfkw.net.

Programm

Kontakt

Sebastian Gießmann

Humboldt-Universität zu Berlin
Kulturwissenschaftliches Seminar
+49-(0)30-2093-8239

sebastian.giessmann@culture.hu-berlin.de

www.sebastiangiessmann.de