Tagung
X. Tagung des Arbeitskreises Geschichte und Theorie
22.-25. Maerz in Goettingen
Kommunikation als Beobachtung - Beobachtung von Kommunikation Zur Wechselwirkung
von Medientheorien und kommunikativen Praktiken in der "kommunikologischen
Sattelzeit" (1880-1960)
Gefoerdert von der Fritz Thyssen Stiftung.
I. Gegenstand
Eine Gesellschaftsgeschichte des "langen" 20. Jahrhunderts ist laengst nicht
mehr ohne die Einbeziehung der Massenmedialisierung, des "zweiten Strukturwandels
der Oeffentlichkeit" (Bernd Weisbrod) im Zusammenhang der
Fundamentaldemokratisierung und von historischen Medien- und
Kommunikationstheorien zu schreiben. Doch gibt es bislang nur Ansaetze einer
historischen Kommunikationsforschung, die das Verhaeltnis zwischen
Kommunikationsprozessen, Oeffentlichkeit und Medienentwicklung historisch
untersucht und mit der Repraesentation dieser Beziehungen in Medientheorien
in Beziehung setzt. Die Tagung setzt sich zum Ziel, die Wechselwirkungen
zwischen der (selbstreflexiven) Theoretisierung von Kommunikation und der
Praxis von Kommunikations- und Beobachtungsphaenomenen im Kontext der
massenmedialen Expansion und ihrer Auswirkungen zu untersuchen.
Die Historizitaet von Medien- und Kommunikationsverhaeltnissen ist auch die
ihrer Leitkonzepte, Theorien und Beobachtungsformen. Vor dem Hintergrund
des begriffsinflationaeren und von Theorieversatzstuecken gepraegten - Medien-
und Kommunikationsbooms sollen auf der Tagung Leitbegriffe der historischen
Medien- und Kommunikationsforschung historisiert, Medientheorien mit dem
medienhistorischen Kontext ihrer Entstehung in Bezug gesetzt und die Veraenderung
von Beobachtungsmethoden von Kommunikation selbst als Teil von historischen
Kommunikationsprozessen und -situationen untersucht werden. Dabei soll leitend
nach dem wechselseitigen Bezug der Theorien zur "Materialitaet der Medien"
in der Beobachtung von Kommunikation und der Medialitaet von Medien- und
Kommunikationstheorien gefragt werden.
Der zeitliche Rahmen wird durch die Ueberlegung gesteckt, dass sich zwischen
1880 und 1960 (vielleicht aber auch darueber hinaus) moeglicherweise eine
"Sattelzeit der historischen Kommunikologie" ausmachen laesst, eine Phase
also, in der sich - bedingt durch eine Verschraenkung aus massenmedialer
Revolution, wissenschaftlichen Paradigmenwechseln und deren praktischer
Generierung - Begriffe, Konzepte und Beobachtungsformen grundlegend veraendern.
Gegenstandsbereiche dieses Zugangs sollen sein: 1. Leitkonzepte des
medienhistorischen Diskurses wie Kommunikation, Oeffentlichkeit oder Information
unterliegen nicht nur begriffs- und konzepthistorischen Veraenderungen, sondern
sind selbst durch die Veraenderung medialer Strukturen gepraegt. Hierbei
ist ueber explizite Medientheorien hinaus insbesondere an das wechselseitige
Verhaeltnis medialer Veraenderungen und philosophischer, soziologischer oder
psychologischer Konzeptbildungen (unter anderem Speichermedien oder
Gedaechtniskonzepte) zu denken.
2. Medientheorien sind selbst Medienphaenomene. Ihre Wirkungsgeschichte ist
eng an die zeitgenoessischen Medienbedingungen geknuepft. Aber bereits in
den Theorien und Konzepten sind Annahmen ueber die jeweiligen
Kommunikationssituationen enthalten. Diesem Aspekt der "inneren Medialitaet"
von Medien- und Kommunikationstheorien soll - statt einer klassischen
Rezeptionsgeschichte - groessere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
3. Die Beobachtung von Kommunikation ist Teil von Kommunikationsprozessen,
nimmt auf sie Bezug, reflektiert sie und speist Kommunikationsverstaendnisse
in den Kommunikationsprozess zurueck. Medientheroetische Konzepte sind als
Teil solcher Kommunikationssituationen und deren generativer Kraft (unter
anderem Wahlkaempfe, Werbung oder Meinungsforschung) zu sehen. Umgekehrt
ist die theoriegenerierende Wirkung von Kommunikationsprozessen
inzubeziehen.
Eine Fuelle von Fragen lassen sich unter diesen Gesichtspunkten diskutieren:
Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem zweiten "Strukturwandel der
Oeffentlichkeit" und der Fundamentaldemokratisierung? Wie haengen
"kommunikologische Sattelzeit" und Massenmedialisierung zusammen? Welche
Rolle spielen hierbei Veraenderungen von Kommunikationsverhaeltnissen und
ihre (gesellschaftskritische) Wahrnehmung? Wann beginnt eine theroretische
Erfassung der medialen und kommunikativen Verhaeltnisse und wie verhaelt
sie sich zur Selbstreflexivitaet des "common sense"? Welche Medien werden
ueberhaupt zum Gegenstand von Medientheorien? Wie veraendert sich - etwa
im Blick auf die Theorien von Simmel oder Luhmann - das Verstaendnis von
Medium und Medialitaet unter dem Eindruck der "Kommunikationsrevolution"
des 19. und 20. Jahrhunderts? Wie sehr sind Medientheorien durch die
Massenmedialisierung gepraegt? Welche Auswirkungen haben sie auf die
Massenmedialisierung gehabt? Wie verhalten sich Medientheorien,
Gesellschaftsbilder und soziale Realitaet zueinander? Welchen Anspruch
hinsichtlich der Erklaerung sozialer Phaenomene haben Medientheorien? Inwieweit
gehen in Medientheorien Beobachtungen von kommunikativen Praktiken ein? Inwieweit
sind Medientheorien durch kommunikative, also soziale Praktiken bedingt?
Ist Selbstreflexivitaet in der Medialisierung - die Theoretisierung von sozialen
Phaenomenen - ein Signum fuer eine "kommunikologische Sattelzeit"? Welchen
Status hat die "Beobachtung" sozialer Phaenomene und ihre Theoretisierung
fuer das Selbstverstaendnis der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts?
II. Organisation
Die Tagung ist Teil einer mittelfristig angelegten Beschaeftigung des
"Arbeitskreises Geschichte und Theorie" mit Phaenomenen und der Theoretisierung
historischer Kommunikationsverhaeltnisse. In diesem Arbeitskreis werden seit
1996 auf zweimal jaehrlich stattfindenden Tagungen Probleme der theoretischen
Durchdringung historischer Prozesse und Phaenomene diskutiert.
An der Tagung Interessierte, die in entsprechenden Feldern - auch
interdisziplinaerer Art - arbeiten, sind herzlich eingeladen, sich zwecks
einer Teilnahme mit kurzer Interessensbegruendung an Habbo Knoch
(hknoch@freenet.de) zu wenden. Tagungsgebuehren fallen nicht an; Unterbringungs-
und Verpflegungskosten liegen bei 100,- VP/EZ fuer zwei Tage.
III. Vorlaeufiges Programm
Donnerstag, 22. Maerz 2001
15.00 Uhr Begruessung
Dr. des. Habbo Knoch (Goettingen); Daniel Morat, M.A. (Goettingen)
I. DIE MEDIALITAET DES WISSENS - PERSPEKTIVEN DER MEDIEN- UND
KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE
15.15 Uhr
PD Dr. Wolfgang Ernst (Berlin, z.Zt. Paderborn), Die Medienarchaeologie des
Wissens
Kommentar/Moderation: N.N.
Diskussion
16.30 Uhr Kaffeepause
II. DIE SELBSTREFLEXIVITAET KOMMUNIKATIVER PRAKTIKEN UND DIE ANFAENGE DER
MASSENMEDIALISIERUNG
17.00 Uhr
Uffa Jensen, M.A. (Berlin), Die Macht des Fluechtigen. Selbstbeobachtung
und
mediale Rueckkopplungen in Pamphleten des Treitschke-Streites 1878/79
Andreas Mai, M.A. (Leipzig), Selbstreferentielle Systeme. Inserate,
Inserenten und Werbestrategien von "Ferien"-Orten im 19. Jahrhundert
Kommentar/Moderation: Alexander C.T. Geppert, M.A. (Florenz)
Diskussion
19.15 Uhr Abendessen
Freitag, 23. Maerz 2001
III. DIE THEORETISIERUNG DES SOZIALEN ALS KOMMUNIKATIVE PRAXIS
9.00 Uhr
PD Dr. Paul Nolte (Bielefeld), Die Selbstbeobachtung des Sozialen. Soziologie
als Beobachtungswissenschaft im Jahrhundert der modernen Massenmedien
Kommentar/Moderation: Dr. des. Moritz Foellmer (Berlin)
Diskussion
10.30 Uhr Kaffeepause
11.00 Uhr
PD Dr. Detlev Schoettker (Dresden), Von der Philosophie der medialen Welt
zur
Theorie der Massenmedien. Entstehung, Transformation und Rezeption der
Medientheorien von Benjamin, Kracauer und Arnheim
Kommentar/Moderation: Dr. Galin Tihanov (Lancaster)
Diskussion
12.45 Uhr Mittagessen
IV. MEDIENTHEORIEN UND DIE MEDIALISIERUNG DER SINNE IN DEN ZWANZIGER JAHREN
14.30 Uhr
Daniel Morat, M.A. (Goettingen), Die Vervielfaeltigung der Bilder und die
"optische Distanznahme" der Gesellschaft. Medientheorien von Benjamin,
Juenger und Kracauer in den zwanziger Jahren
Dr. des. Habbo Knoch (Goettingen), Der Verlust des Schweigens. Medientheorien
und die Revolution des Hoerens in den zwanziger und dreissiger Jahren
Kommentar/Moderation: Dr. des. Alexa Geisthoevel (Berlin)
Diskussion
16.45 Uhr Kaffeepause
V. DIE MEDIALISIERUNG DER BEOBACHTUNG - DIE BEOBACHTUNG ALS MEDIUM
17.15 Uhr
Dr. Rainer Gries (Leipzig), Produkte als Medien. Ueberlegungen zu einer
Kulturgeschichte von Produktkommunikationen
Kommentar/Moderation: N.N.
Diskussion
19.00 Uhr Abendessen
Samstag, 24. Maerz 2001
9.00 Uhr
Frank Boesch (Goettingen), Das Politische als Produkt. Waehlerbeobachtung
und
Wahlstrategien der "Volksparteien" in den fuenfziger Jahren
Till Koessler, M.A. (Bochum), Die beobachtete Partei. Innerparteiliche
Kommunikation und das Medium der Macht in der SED/KPD 1945-1960
Kommentar/Moderation: Dr. des. Annette Vowinckel (Berlin)
Diskussion
11.00 Uhr Kaffeepause
VI. SELBSTBEOBACHTUNG IN DER MEDIEN- UND KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE
11.30 Uhr Schlussdiskussion
Moderation: Dr. des. Habbo Knoch (Goettingen); Daniel Morat, M.A.
(Goettingen)
13.15 Uhr Mittagessen, anschliessend Abreise
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