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Re-assessing Canguilhem
Pathologisches Messen in Naturwissenschaft, Medizin und Technik
Workshop der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft fuer Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik in Hamburg, 28.9. - 1.10.2001
Die Unterscheidung zwischen "normal" und "pathologisch" ist eine Leitdifferenz, an der entlang sich die modernen Lebenswissenschaften entfaltet haben. Waehrend in den physiologischen und psychologischen Labors die Normalitaet des untersuchten Gegenstandes meist stillschweigend vorausgesetzt wurde, waren andere wissenschaftliche Unternehmungen (Anthropologie, Medizinische Klinik, Psychiatrie, Psychotechnik, Ingenieurswissenschaften usw.) ausdruecklich daran interessiert, Normalmasse, Normen und Normalitaet herzustellen und durchzusetzen. Typus, Mittelwert oder charakteristische Verlaufsform fungierten als Orientierungsmarken, von denen das Abweichende, das Pathologische oder das Verrueckte abgesetzt wurde. Bereits vor einem halben Jahrhundert hat Georges Canguilhem auf die zentrale Rolle dieser Leitdifferenz hingewiesen, aber zugleich darauf insistiert, dass das Leben seine eigene Normalitaet in der Interaktion mit einer jeweiligen Umwelt setze. Nach Canguilhem ist beispielsweise die Physiologie daher weniger eine Wissenschaft von den Gesetzen des normalen Lebens, als die Wissenschaft von den im Labor "stabilisierten Verhaltensweisen des Lebens" - seien diese nun normal oder pathologisch.
Canguilhems pointierte Kritik stellte die diskursive Konstruktion biologischer Normen und Normalitaeten heraus. Nach der praktischen Wende der Wissenschaftsgeschichte wird allerdings die Frage, wie solche Verhaltensweisen stabilisiert werden, die Materialitaet solcher Konstruktionen naeher in Betracht ziehen muessen. In vielen Bereichen von Naturwissenschaft, Medizin und Technik spielt das Messen eine zentrale, wenn nicht entscheidende Rolle. Mit Waagen, Uhren, Thermometern, Graphen usw. werden jene Werte erhoben, die auf dem Weg von Labors und Versuchsanstalten ueber Hoersaale, Kliniken, Aemter bis in die breite Oeffentlichkeit die Grenze zwischen "normal" und "pathologisch" ziehen und befestigen. Die Frage nach dem "Pathologischen Messen" laesst sich in doppelter Weise stellen, naemlich erstens als Frage nach den spezifischen Praktiken, mit denen "das Pathologische" vermessen wurde, und zweitens als Frage nach der Pathologie eines Messens, das seine Normalwerte selbst hervorbringt. Im einzelnen ergeben sich folgende Themen: Canguilhem und die neuere Wissenschaftsforschung So unbestreitbar die Verdienste Canguilhems um das Fach und die Inhalte der Wissenschaftgeschichte sind, so sehr stellt sich die Frage, wie sich sein theoretischer und methodischer Zugriff zur aktuellen Forschung im Bereich der science and technology studies verhaelt. Wenn Canguilhem tatsaechlich (wie K. E. Rothschuh einmal bemerkt hat) die Entwicklung der Wissenschaft mehr auf den "Wandel der Konzepte [zurueckfuehrt] als auf die aeusseren Umstaende", dann sind seine Ueberlegungen moeglicherweise kaum vereinbar mit dem neuen Experimentalismus (Galison, Latour, Rheinberger u. a.). Andererseits bietet Canguilhem vielfaeltige Anknuepfungspunkte fuer eine dezidiert historische Epistemologie der Lebenswissenschaften. Worin besteht also die Aktualitaet Canguilhems? Und wo hat die Orientierung an ihm den Zugang zu anderen Fragestellungen verstellt?
Das Messen des Pathologischen
Gemeinsames Kennzeichen des Messens in den Lebenswissenschaften ist, dass es unter hoechst artifiziellen Bedingungen stattfindet, denen die Untersuchungsgegenstaende unterworfen werden (z.B. experimentelle Organlaesionen, standardisierte Labormilieus, soziale Separation). Ebenso kuenstlich werden jene Untersuchungskollektive abgegrenzt, die in der Medizinischen Klinik, der Sozialpsychologie oder der Psychiatrie wegen ihrer Pathologien in den Blick des wissenschaftlichen Interesses geraten. Wie laesst sich unter diesen "pathologischen Bedingungen" das "Pathologische" vermessen? Wie werden klinische Versuchsgruppen zusammengestellt? Wodurch werden brauchbare von unbrauchbaren Laborratten unterschieden? Wie werden artifizielle Versuchsbedingungen standardisiert? Wie positioniert sich der Untersucher gegenueber seinem "pathologischen Objekt"?
Die Pathologie des Messens
In den Lebenswissenschaften ist die Referenz des Messens oft nicht der einzelne gemessene Wert, sondern das Verhaeltnis dieses Wertes zu anderen, d. h. die Abweichung von einem Durchschnitt, einem Idealwert, einem Typus etc. Wie wird aber "im Pathologischen" eine Referenz gefunden, wie wird sie im einzelnen konstruiert, und wie definiert sich dann die "Abweichung"? Wie legitimiert sich ein nur noch auf Abweichungen zielendes Messen? Wie werden wissenschaftliche oder technische Instrumente als fehlerhaft bzw. verfaelschend erkannt? Was sind "ordentliche Messungen", und wo finden sie statt? Wie wird das Eindringen von Stoerungen, das Auftauchen von Abweichungen bewaeltigt, und mit welchen Prozeduren die Belaestigung durch Unstimmigkeiten vermieden?
Die Normalisierung des Messens
Durchschnitts- und Normalwerte muenden in Normen, Richtlinien und Regelwerke. Waehrend in Wirtschaft, Technik und Recht die historische Gewordenheit und der konventionelle Charakter von Normen zumeist noch erkennbar sind, wird in den Lebenswissenschaften oft die "Natuerlichkeit" des Normalen vorausgesetzt. Wie aber werden gemessene Werte zu anerkannten Normen? Welche praktischen Vermittlungen und Umsetzungen sind konkret erforderlich, damit aus Messungen Regeln werden? Was sind die materiellen Kulturen der historischen Durchsetzung, Anerkennung und Aufrechterhaltung von Normen? Ist die Differenz des "Normalen und des Pathologischen" eine zwangslaeufige Folge experimenteller Vorgehensweisen und methodischer Prinzipien, oder kann ein "sauberes Experimentieren" von einem "vorurteilsbeladenen" unterschieden werden? Gibt es ein "unschuldiges Messen", das von einem "interessengeleiteten" klar abzugrenzen ist? Wie wird das Vermessen des Pathologischen wissenschaftlich legitimiert? Laeuft das Messen dabei Gefahr, selbst pathologisch zu werden?
Vorschlaege fuer Beitraege zu den vier Schwerpunkten sind mit Titel und Abstract (20-30 Zeilen) bis zum 30. April 2001 an einen der drei Organisatoren zu senden:
Cornelius Borck, MPI fuer Wissenschaftsgeschichte, Wilhelmstrasse 44, 10117 Berlin, borck@mpiwg-berlin.mpg.de
Volker Hess, Institut fuer Geschichte der Medizin, ZHGB (HU Charité - FU Berlin), Klingsorstrasse 119, 12203 Berlin, email: hess@medizin.fu-berlin.de
Henning Schmidgen, MPI fuer Wissenschaftsgeschichte, Wilhelmstrasse 44, 10117 Berlin, schmidg@mpiwg-berlin.mpg.de
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