Liebe Kolleginnen und Kollegen,

bald ist es wieder soweit: Vom 22.-24. Sept. 1999 treffen sich in Leipzig die juengeren WissenschaftshistorikerInnen des Driburger Kreises. Das diesjaehrige Thema, das bereits im Mitteilungsblatt der DGGMNT bekanntgegeben wurde, heisst:

Unser Verstaendnis von Wissenschaft:

Neuere Herausforderungen an die Geschichte der Naturwissenschaften, Technik, Medizin (NTM)

[Bitte beachten Sie die unten angegebenen neuen Adressen!]

Hier noch einmal der Erlaeuterungstext:

Die Geschichte der NTM ist als akademische Disziplin in dem Augenblick entstanden, wo mit der Professionalisierung und Institutionalisierung der Naturwissenschaften (NW) im 19. Jh. ein Beduerfnis nach historischer Legitimation auftrat. Nicht zufaellig hat sich die Wissenschaftsgeschichte aus den NW selbst entwickelt und von den gerade aktuellen methodologischen Ansaetzen und Weltbildern ihrer historischen Akteure leiten lassen. Inzwischen gilt der Glaube an einen linearen Fortschritt in Wissenschaft und Gesellschaft allerorten als erschuettert, und von dieser Wende nicht unbeeinflusst haben in den letzten 25 Jahren eine Vielzahl von historischen Arbeiten unter dem Stichwort "Science in Context" die soziokulturellen Kontexte der Wissensproduktion sowie die gesellschaftlichen Folgen ihrer Anwendung herausgestellt. Dies erfolgte zunaechst oft im Rueckgriff auf Ansaetze der klassischen Wissenschaftssoziologie (Durkheim, Mannheim und Fleck), aber inzwischen zunehmend mit Bezug auf die sogenannten Science Studies, die Ergebnisse der internationalen Wissenschaftsforschung (WF). Erwaehnt werden koennen hier z. B. die sogenannten Laborstudien, die einen ethnographi-schen Blick auf den Ort richteten, der wohl als der Privilegierteste fuer die "Fabrikation von Erkenntnis" (Buchtitel von Karin Knorr-Cetina), galt [siehe U. Felt (Hg. u.a.) (1995): Wissenschaftsforschung, Frankfurt a.M., S. 114-148]. Wenn aber als Ergebnis dieser Forschungen konstatiert werden musste, dass Wissen nicht unabhaengig von seinem Entste-hungs- und Bedeutungskontext existiert, dann ist die Annahme, dass das Wissen universell sei, nicht mehr unbeschraenkt haltbar. Wegen ihrer relativistischen Position sind die WissenschaftsforscherInnen auch von NWlern wie Sokal angegriffen worden, die bei der Aufgabe des rationalistischen Programms ihren universellen Deutungsanspruch und damit ihr Pres-tige und den Zugriff auf Forschungsfoerderung in Gefahr sehen.

Die Behauptung, dass die Aufgabe des universellen Gueltigkeitsanspruches wissenschaftlicher Aussagen eine irrationale Beliebigkeit nach sich ziehe, zeugt von einem Miss-verstaendnis der wissenschaftlichen Praxis des Forschungsprozesses. Die Kulturgeschichte der Wissenschaft lehrt, dass der soziokulturelle Kontext der Wissenschaften durchaus auch foerderlich fuer die Wissenschaftsentwicklung sein kann. Es will ja doch niemand Keplers Annahmen ueber die Planeten verwerfen, nur weil er damit einen Beitrag zur Theologie leisten wollte. Auch Geschichte schreibt sich nicht selbst, HistorikerInnen waehlen Quellen aus, die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind interpretierender Art; Erkenntnis ohne Erkenntnisinteresse ist schlechterdings nicht vorstellbar, und Wissenschafts-geschichte setzt ferner eine Vorstellung davon voraus, was unter "Wissenschaft" und unter dem Ablauf von historischen Prozessen verstanden werden soll, auch wenn das oft von den AutorInnen in Ihren Darstellungen nicht expliziert wird.

Ob nun die Angriffe der Science Warriors, die Ergebnisse der neueren WF, die Debatten um die Sozial- und Kultur-geschichte in den Geschichtswissenschaften oder "nur" das aufmerksame Studium gegenwaertiger Debatten in den Wissenschaften z.B. um Kernkraft, Gentechnologie oder Soziobiologie: der Driburger Kreis sieht fuer sein naechstes Treffen genuegend Anlaesse zu einer neuerlichen Reflexion ueber die Gegenstaende und Methoden der historischen Arbeit. Welches wissenschaftspolitische Verstaendnis haben wir von unserer Taetigkeit? Welches Bild von NTM vermitteln wir? Von welchen aktuell debattierten methodischen Innovationen in den Geisteswissenschaften (z.B. WF -Soziologie, Diskurs- und Metaphernanalyse - Literaturwissenschaften, feministische Theorie, Kulturgeschichte - Geschichtswissen-schaften, Ethnomethodologie - Kulturanthropologie) koennen wir fuer die historische Analyse von NTM profitieren und zu welchen Ergebnissen fuehren sie uns in unserem Verstaendnis von NTM? Welche Beitraege koennen und wollen wir leisten fuer ein besseres Verstaendnis z. B. der Institutionen (Labor, Universitaet, Institut, Disziplin), der Techniken der Wissensproduktion (Experiment-Theorie, Beweisen, Instrumentieren, Begruenden) und der Beziehungen zwischen Wissenschaft und OEffentlichkeit (Patronage, Popularisierung)? Erwuenscht sind erstens ueberblicksartige Auseinandersetzungen, die einzelne neuere Ansaetze und Ergebnisse vorstellen und diskutieren [Ueberlegungen dazu bieten T. Schlich (1998): Wissenschaft: Die Herstellung wissenschaftlicher Fakten als Thema der Geschichtsforschung, in N. Paul (Hg. u.a.): Medizingeschichte. Frankfurt a.M., 107-129; K. Handel, V. Hess (1998): Sozialgeschichte der Wissenschaften - ein Abenteuer? in: D. Siefkes (Hg. u.a.): Sozialgeschichte der Informatik. Wiesbaden, 13-33; M. Hagner/ H.-J. Rheinberger (1997): Plaedoyer fuer eine Wissenschaftsgeschichte des Experiments, in: Theory in Biosciences 116, 11-31; L. Daston (1998): Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivitaet, in: O. Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geistesw., Kulturw. Goettingen, 9-39]; zweitens vor allem auch die eigenen empirischen Arbeiten, in denen der methodische Rahmen der historischen Analyse explizit zur Diskussion gebracht wird, drittens sogenannte freie Vortraege, die sich nicht dem Tagungsthema verpflichtet fuehlen muessen.

Rainer Broemer (Goettingen) und Sybilla Nikolow (Cambridge UK)

Diejenigen die Fragen zum Rahmenthema haben, koennen Ruecksprache nehmen mit Rainer Broemer (Institut f. Wissenschaftsgeschichte, Univ. Goettingen, Humboldtallee 11, 37073 Goettingen, Tel. (0551) 39-9468, Fax -9748, E-mail Rainer.Broemer@gmx.de).


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: RAINER.BROEMER@LINK-GOE.de
Subject: Driburger Kreis Leipzig
Date: 13.5.1999


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