Jahrestagung 2005 des ungarischen Vereins für Sozialgeschichte (István-Hajnal-Kreis)

Jahrestagung 2005 des ungarischen Vereins für Sozialgeschichte (István-Hajnal-Kreis)

Organisatoren
Komitatsarchiv Vas in Zusammenarbeit mit dem Kulturinstitut der ungarischen Minderheit in Slowenien
Ort
Vas
Land
Hungary
Vom - Bis
26.08.2005 - 27.08.2005
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Von
Juliane Brandt

Zum Thema „Der soziale Raum“ fand am 26. und 27. August die Jahrestagung 2005 des István-Hajnal-Kreises statt. Die Tagung wurde vom Komitatsarchiv Zala in Zusammenarbeit mit dem Kulturinstitut der ungarischen Minderheit in Slowenien organisiert und am Sitz des Kulturvereins in Alsólendva (Lendava/ Unterlimbach) durchgeführt. Ort der Eröffnung war die heute zum Museum umgestaltete Synagoge von Alsólendva, wo László Gönczi im Namen der Vertretung der ungarischen Minderheit ein Grußwort an die Teilnehmer richtete.

Anschließend würdigte Gábor Gyáni als Präsident des Vereins für Sozialgeschichte das Lebenswerk Gyula Bendas (1943-2005), der zu den Wegbereitern der sozialgeschichtlichen Forschung in Ungarn zählte und den István-Hajnal-Kreis in den 1980er-Jahren mit begründet hatte und wenige Tage zuvor verstorben war. Als Mitorganisator des „Atelier“ (eines französisch-ungarischen Zentrums von Nachwuchswissenschaftlern1), Mentor zahlreicher Doktoranden und lesewilliger Kollege sowie in vielen anderen formellen und vor allem informellen Funktionen entfaltete er eine Wirksamkeit, die weit über sein relativ schmales publiziertes Werk hinausgeht.2 Welchen Verlust Bendas früher Tod für den István-Hajnal-Kreis bedeutet, lässt sich noch kaum ermessen.

Das Plenum der Tagung und Teile der Panels des ersten Tages wurden ebenfalls in der Synagoge durchgeführt. Weitere Veranstaltungsorte waren das Bánffy-Zentrum des ungarischen Kulturinstituts und das Museum in der Burg. Die Vorträge im Plenum gaben eine Einführung in einzelwissenschaftliche Konzepte des Raumes und die Methodik seiner Untersuchung bzw. stellten diese an Beispielen vor. Angesichts des interdisziplinären Charakters des Rahmenthemas wurden sie nicht von Historikern, sondern von Vertretern der thematisch relevanten Nachbardisziplinen bestritten. Am ersten Tag folgten Sektionen zu den „Räumen der Gesellschaft“ (I. und II.), zum „Raum der Disziplinierung“ und zum „Raum der Architektur“. Am Samstag schlossen sich Panels über „Grenze, Region, Stadt und Raumpolitik“, über „symbolischen und repräsentierten Raum“ sowie zur „Anthropologie des Raumes“ an.

In der Plenarsitzung sprach József Nemes Nagy (ELTE Budapest) über „Kategorien des sozialen Raums und Untersuchungsansätze in der Regionalforschung“. Er diskutierte den Bezug verschiedener wissenschaftlicher Begrifflichkeiten aufeinander, stellte unter anderem absolute und relative, innere und äußere Raumbegriffe sowie verschiedene subjektive Raumkonzepte vor, und ging schließlich auf Prozesse der Bildung von Regionen ein. Insbesondere seine Ausführungen zu Ungleichheit und Ordnung wurden zum Bezugspunkt mehrerer späterer Referate und Diskussionen.

Anschließend stellte József Sisa (Kunstwissenschaftliches Institut der Akademie) sein gerade abgeschlossenes Habilitationsprojekt zu „Raum, Funktion und Repräsentation in den Schlössern des Historismus“ vor. Im Vergleich zu den maßgeblichen klassizistischen Vorläufern dieses Bautyps in Ungarn zeigte er die zunehmende Separation privater und repräsentativer Räume auf. Er unterschied Räume von Familie und Dienstboten, Räume mit allgemeinen bzw. privaten Funktionen sowie Räume von Männern und Frauen. Zudem thematisierte er den Einfluss neuer technischer Möglichkeiten des Haushalts auf die Raumnutzung. Unter dem Titel „Die Konstruktion des ungarischen nationalen Raumes“ analysierte Róbert Keményfi (Universität Debrencen) danach die Nutzung von Landkarten und deren Gestaltungsmöglichkeiten zur Demonstration und Reklamation nationaler Grenzen, wobei er den Schwerpunkt auf Ungarn im 19. und 20. Jahrhundert legte. Kornélia Faragó (Literaturwissenschaftliches Institut der Akademie) beschäftigte sich dann mit der „dynamischen Konzeption des städtischen Raumes im Roman“. An Beispielen, die allerdings sehr heterogenen Lebenswerken (u.a. L. Krasznahorkai, P. Nádas, E. Sinkó, J. Meliusz) und literarischen Epochen entnommen waren, zeigte sie, wie im Geschehen von Romanen Räume entworfen und existentielle Raumgefühle vermittelt werden.

Károly Halmos (ELTE) ging abschließend auf „Raum, Volkswirtschaftslehre und Raumgeschichte“ ein. An historischen Beispielen aus der Geschichte der Disziplin zeichnete er ein Spektrum von Raumkonzepten und deren Gewichtungen nach, die von der detaillierten Berücksichtigung geographischer Gegebenheiten, gegebener Möglichkeiten der Überwindung von Entfernungen und den daraus resultierenden Kosten (Smith) über das Verschwinden des Raumes in Theorien über abstrakte Partner (Ricardo) bis zur Betrachtung der Umstrukturierung von wechselseitigen Einflüssen sozial definierter geographischer Regionen (Keynes zu den Siedlerkolonien und ihren Mutterländern) und der erneuten wirtschaftsgeschichtlichen Beschäftigung mit geographischen Faktoren (Krugmann) reichten.

Im ersten Teilpanel zu den „Räumen der Gesellschaft“ analysierte Károly Goda (ELTE) anhand von zwei Soproner Verzeichnissen über Käufe und Verkäufe von Grundbesitz in der Stadt und im Umland sowie unter Bezugname auf die Zusammensetzung der Stadtführung (Zwölferrat) den Verlauf des Prozesses räumlicher Konzentration der städtischen Elite innerhalb der „Innenstadt“ des relativ kleinen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sopron 1480-1600. Trotz der Schwierigkeiten, die die schmale Quellenbasis für eine quantifizierende soziologische Auswertung bedeutet, lassen sich auch Zeiträume besonders intensiver Transaktionen ausmachen, deren ausgeprägteste in die Jahre um 1500, die Jahre 1524-25, und die Mitte der 1540er-Jahre fielen, und die zugleich Jahre deutlicher räumlicher Veränderungen im Kreise der Elite waren.

Erste Ergebnisse ihres Promotionsvorhabens stellten auch Ágnes Flóra (CEU Budapest) und Gergely Baics (Northwestern University Chicago) vor. Flóra untersuchte den „Marktplatz von Kolozsvár (Klausenburg) als Schauplatz der Repräsentation der städtischen Elite in der frühen Neuzeit“. Aus den sehr bruchstückhaften Quellen ließe sich vorerst nur belegen, dass die Inhaber zentraler Ämter vielfach im Viertel um den Markt ansässig waren und Personen, die neu in städtische Ämter aufstiegen, in der Regel im Jahr ihrer Wahl in die Gegend um den Marktplatz zogen. Wie sich beides bedingte, ob die Wahl in ein Amt die im Ortswechsel repräsentierte wirtschaftliche Potenz sozial anerkannte oder den Ortswechsel, gegebenenfalls über aus ihr folgende wirtschaftliche und geltungsmäßige Vorteile, ermöglichte oder auch einforderte, blieb offen. Baics beschäftigte sich mit Catherine Market, einem der wichtigsten Märkte New Yorks im frühen 19. Jahrhundert. Anhand des Gebrauchs des großstädtischen Platzes demonstrierte er mikrogeschichtlich – anhand der Gruppen der Händler, ihres Verhältnisses und ihrer Normen, anhand der Beziehung zwischen Markt, Stadtviertel und dessen sozialer und ethnischer Zusammensetzung, sowie der Beziehung zwischen Markt und Subkultur(en) - räumliche Erschienungsweisen und Teilprozesse der „great transformation“. Árpád Tóth stellte basierend auf seinen schon vorliegenden Untersuchungen zur bürgerlichen Kultur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - neue Ergebnisse zu „Schulsystem und Städtenetz“ im Westen Oberungarns vor. Bekanntlich stand damals einem relativ dichten Netz evangelischer Mittelschulen ein sehr dünnes Netz katholischer Einrichtungen gegenüber. Die konfessionell „Anderen“ in den evangelischen Schulen waren allerdings insgesamt in erster Linie noch vor den Katholiken jüdische Schüler. Diese bevorzugten wiederum die „großen Schulen“. kontinuierlich hoch (ca. 40%) war der Anteil von Schülern aus dem Ort. Wurde vor Ort eine Mittelschule gegründet, stieg auch die Zahl der Schüler aus dem Kreis der Einwohner – das „Angebot“ schuf hier die „Nachfrage".

Während sich die Mehrzahl der Untersuchungen zum Raum in der Geschichte Ungarns den Städten zuwendet, ging György Kövér (ELTE) auf ein Dorf ein. Am Falle Tiszaeszlárs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersuchte er den „dörflichen Raum und das ´konfessionelle Feld´“. Nach der großen Theiß-Flut von 1888 zog der alte Ortsteil in das Gebiet außerhalb des neu errichteten Dammes um, was im Zusammenhang mit der Verlegung der Kirchengebäude Konflikte zwischen den einstmals dominanten Reformierten und den in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugezogenen Katholiken produzierte. Zudem vergrößerte dieser Vorgang die Entfernung zu den traditionellen lokalen Bezugspunkten des Dorfes und verlagerte den Schwerpunkt seiner wirtschaftlichen Außenbeziehungen damit aus dem Umland von Tokaj in das nördliche Tiefland.

Das zweite Teilpanel zu den „Räumen der Gesellschaft“ eröffnete der Vortrag von László Kosárkó (Universität Miskolc) über „Markt und Korso“ und den sozialen Raumgebrauch in Miskolc 1859-1920. Das nach Straßenabschnitten sozial separierte Flanieren auf dem Korso am Platz des einstigen, Ende des 19. Jahrhundert an den Stadtrand platzierten, Marktes löste in diesem Zeitraum den Gang auf den Markt als dominante Form der Nutzung öffentlichen Raumes sowie der Selbstdarstellung ab; ein Vorgang, den der Referent in seinen informellen Regeln und äußeren Abläufen detailliert vorführen konnte. József Hudi (Ref. Kirchenarchiv, Pápa) rekonstruierte die „Raumnutzung der städtischen Arbeiterschaft in Pápa zu Beginn des 20. Jahrhunderts“. Pápa war alles andere als ein Zentrum der Industrialisierung Ungarns. Ab den 1890er-Jahren aber führte die Ansiedlung von Fabriken auch hier zur Entstehung einer Fabrikarbeiterschaft und zum Tätigwerden sozialdemokratischer Organisationen. Träger dieser Bestrebungen waren überwiegend die Arbeitskräfte der handwerklichen Kleinbetriebe und nicht Fabrikarbeiter. Während sie im Alltag eher an der Peripherie der Stadt lebte und arbeitete, verlegte die Arbeiterschaft ihre politischen Aktionen zunehmend in das Zentrum der Stadt. József Ö. Kovács (Universität Miskolc) beschäftigte sich mit „Milieus in der Provinz im Sozialismus“. Seine grundsätzlichen soziologischen Überlegungen zur Allgegenwart der Staatsmacht und deren gleichzeitiger Vergesellschaftung im Zuge ihres Ubiquitär-Werdens, zum fortbestehenden Abschließen sozialer Schichten nach unten und der Untersuchung dieser Bezüge als „sozialer Kraftraum“ berührten Probleme des sozialen oder historischen Raumes allerdings eher metaphorisch. Mit einem zeitgenössischen Zitat: “Der Platz hier gehört uns“ betitelte Tibor Valuch (ELTE) seinen Vortrag zu „Veränderungen des öffentlichen und privaten Raumes in Ungarn in den 1950er-Jahren und in der Kádár-Zeit“. In den ersten zwei Jahrzehnten nach 1945 unternahmen Ideologie und Propaganda massive Versuche, nicht nur den öffentlichen Raum umfassend zu prägen, sondern auch in die privaten Räume vorzudringen. Während sie auch die Übergangszone von alltäglicher Versorgung (beispielsweise Schaufenster der Läden) in zum Teil grotesker Weise umgestalten konnten, zeigte sich der private Wohnraum widersetzig. Hier dominierten weiterhin religiöse und familiäre „Reliquien“. Die Pseudo-Konsumgesellschaft der Kádárzeit drängte dann auch die Inbesitznahme des öffentlichen Raumes durch die Ideologie auf markant wahrnehmbare, aber nicht mehr dominante symbolische Zeichensetzungen zurück. Julianna Örsi (Finta-Museum Túrkeve) sprach schließlich über „die Begegnung historischer volkskundlicher Gruppen mit der Definition von Mikroregionen in unseren Tagen“. Am Beispiel Kumaniens (einer Teilregion des einstigen privilegierten jazygisch-kumanischen Distrikts im Donau-Theiß-Zwischenland) stellte sie die Kollisionen von traditionspflegerisch bestimmten, durch aktuelle Interessenbündnisse definierten „Regionen“ unterschiedlicher Größe und die sich aus den aktuellen Herausforderungen ergebenden Umorientierungen von Identitätskonstruktionen vor.

Einleitend zum Panel „Raum der Disziplinierung“ sprach András Szekeres (TU Budapest). Sein Vortrag trug den ambitionierten Titel „Von den Techniken der Disziplinierung zu den Taktiken der Aneignung: Foucault und De Certau über den Raum, und was wir damit tun können“. Der Referent beschränkte sich aber auf Foucault und skizzierte, wie in dessen Überlegungen zur Disziplinierung in den 1970er-Jahren auch Probleme des Raums thematisierten. Die Frage der historiographischen Nutzbarkeit dieser Gedanken blieb allerdings offen.

Veronika Novák (ELTE) untersuchte am Beispiel dreier mittelalterlicher französischer Städte während des hundertjährigen Krieges deren Maßnahmen zum Schutz ihrer Tore und die in diesem Prozeß herausgebildete mentale Landkarte: Auf dieser waren die benachbarten Orte und Gebiete, auf die die Stadt angewiesen war, weitaus deutlicher hervorgehoben als politische Machtzentren oder auch das Königreich Frankreich selbst. Roland Perényi (ELTE) rekonstruierte in seinem Beitrag den „Stadtplan“ des polizeilichen Beobachtungsdienstes in Budapest vor dem Ersten Weltkrieg. Anders als mitunter konstatiert war dieser Dienst nicht auf die Niederhaltung der Arbeiterbewegung orientiert, sondern konzentrierte sich auf die Innenstadt und die Wohngegenden der Mittelklasse und bezog die Vorstädte nur soweit ein, wie die dorthin abgedrängten Kriminellen wieder in die Stadt zurückstrebten. Csaba Héjj (Städtisches Archiv Budapest) versuchte anhand von Falldokumentationen des Freiwilligen Rettungsdienstes Budapests ab 1892 dessen Raumnutzung zu analysieren, obgleich sich eine bewusste Strategie nicht herausarbeiten ließ. „Die Budapester Straße ist keine Präriekneipe“ hatte Sándor Horváth (Historisches Institut der Akademie) seinen Vortrag betitelt. Gestützt auf Fachpresse und interne Dokumente untersuchte er Aspekte der Kontrolle des sozialen Raumes durch die Polizei in der Frühzeit des Sozialismus. Auch hier herrschte die Planwirtschaft: Es stand vorher fest, wie viele Verhaftungen bei einer Razzia zu erfolgen hatten, und der Einsatz der (Gewalt-)Mittel orientierte sich dann an dieser Vorgabe. Im Beitrag von Gyöngyi Farkas (Militärarchiv Budapest) über polizeiliche Beobachtungen im Umfeld einer vermeintlichen Verschwörung in Lajosmizse (einer Großgemeinde bei Kecskemét) zeichneten sich demgegenüber deutlicher die räumlichen Aspekte derartigen Vorgehens ab: Während die zeittypischen Schlangen vor den Geschäften und Menschenmengen auf Großveranstaltungen hervorragend zur Beobachtung und Kompromittierung von „Zielpersonen“ geeignet waren, blieben die Pfarre oder auch die Einzelgehöfte in der Wahrnehmung der Staatsorgane „verdächtige“, weil verschlossene Räume.

Das Panel „Der Raum der Architektur“ widmete sich Problemen der Entwicklung von gebauter Umwelt und des sozialen Umgangs mit ihr. Mária Kemény (Budapest) stellte einleitend den Prozess vor, in dem die Andrássy-Straße zur ewigen City Budapests wurde. Ferenc Vadas befasste sich mit der Baugeschichte des einstigen Rindermarktes, des späteren Armenhausplatzes und heutigen Rosenplatzes. Soziale, Bildungs-, kirchliche, Wohn- und zum Teil gewerbliche Funktionen prägten den Platz, der Ende des 19. Jahrhunderts sein Aussehen gewann, während Verwaltung, Handel oder Dienstleistungen ausgespart blieben, und auch der städtische Verkehr ihn weitgehend umging. So blieb er bis in die Gegenwart von Umstrukturierungen verschont und bewahrte sein vorstädtisches Erscheinungsbild. Mónika Pilkhoffer (Universität Pécs) untersuchte Veränderungen der gebauten Umwelt in Pécs an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Stadt ihr innerstädtisches bürgerliches Erscheinungsbild gewann. Anna Megyéri sprach über Raumnutzung am Beispiel Zalaegerszegs im 19. und 20. Jahrhundert. Katalin Baráth (ELTE) widmete ihren Beitrag grundsätzlichen Überlegungen zum Funktionieren des Rathauses als komplexem Zeichen.

Am Samstag fand ein Panel zum Thema „Grenze, Region, Stadt und Raumpolitik“ statt. Einleitend diskutierte Pál Beluszky (Institut für Regionalstudien der Akademie) seine „Untersuchungen des Städtenetzes durch Historiker und Geographen“. Basierend auf langjährigen Forschungen zu Stadttypen und Städtenetz in Ungarn und aufbauend auf dem mittlerweile erreichten Konsens einer nicht allein rechtlichen Definition der Stadt diskutierte er Leistungsfähigkeit und immanente Probleme folgender methodischer Ansätze: die Orientierung primär an der Menge der Zentren, am Gewicht städtischer Funktionen, am relativen Anteil dieser Funktionen innerhalb der Siedlung, am Maß der Urbanität, am Gewicht der Siedlung in ihrem Umland usw. Wie Beluszky anschließend an Beispielen belegte, führen Vergleiche zwischen Städten und räumlichen Teilbereichen des Städtenetzes angesichts der unterschiedlichen gewachsenen Siedlungsformen Ungarns (z.B. in der Tiefebene und in Transdanubien) nach Kriterien, die die Spezifik eines bestimmten Stadttypus in seinem Umfeld gut herausheben, insgesamt zu problematischen Ergebnissen, sodass weitere Forschungen erforderlich sind. József Suba (Militärhistorisches Institut) problematisierte „Ideologien der Abgrenzung des historischen und geographischen Raumes“ und ging in einem breit dokumentierten Vortrag auf den Begriff der Staatsgrenze und die Vorstellung „guter Grenzen“ im Werk ungarischer Geographen und Politiker ein. Gábor Czoch (Teleki-Institut) führte anhand von „Debatten um die Definition des Stadtgebiets in Ungarn in der Mitte des 19. Jahrhunderts“ vor, wie die ständische Vorstellung von der Stadt als Raum besonderer Privilegien und ein modernerer, demographischer Ansatz, der die faktische Entwicklung des städtischen Siedlungsgebiets zur Kenntnis nahm, miteinander kollidierten. Die Frage war nicht allein ein konzeptionelles Problem. Über die Definition der Einwohnerschaft und deren politischer Vertretung in der Stadt und im Landtag berührte sie auch unmittelbare Interessen, beispielsweise von adligen Einwohnern, oder über die Frage des Territoriums auch die symbolischen und wirtschaftlichen Interessen adliger Grundbesitzer, die letztlich selbst die Institution der Avitizität durch eine Neuregelung in Frage gestellt sahen.

Robert Győri (Institut für Regionalstudien der Akademie), der die Ergebnisse seines Habilitationsprojektes vorstellte, analysierte in einer mathematischen Auswertung statistischer Angaben zum Entwicklungsniveau von Siedlungen in Transdanubien zu Beginn des 20. Jahrhunderts die internen Entwicklungsunterschiede dieser Region und deren Ursachen bzw. feststellbare Korrelationen zu anderen Faktoren. Während gemeinhin konfessionelle Unterschiede (entlang der Differenz katholisch-protestantisch) oder ethnische Besonderheiten (die ´reichen schwäbischen Dörfer´) als Ursache angenommen werden, erbrachten Faktoranalyse und mehrstufige Regressionsanalyse in erster Linie eine Korrelation zur Entfernung – nicht von Budapest, sondern von Wien. An zweiter Stelle stand die Größe der Siedlung, an dritter der Anteil deutscher Einwohner. Die somit mathematisch-statistisch nachweisbare Bedeutung Wiens für die Entwicklungs(unterschiede) der Region erklärt auch den drastischen Rückgang der wirtschaftlichen und sonstigen Leistungsfähigkeit nach dem Ersten Weltkrieg und erneut nach dem Schließen des Eisernen Vorhangs. Győri bot so auch eine Erklärung für den erneuten deutlichen Aufschwung der Gegend in den Jahren nach 1989 und den aktuellen Entwicklungsvorsprung vor anderen Gebieten des Landes.

Jenő Darkó (Kossuth-Museum Cegléd) ging anschließend auf Entstehung und wahrscheinlichen Verlauf der ungarisch-byzantinischen Staatsgrenze ein. Der Vortrag von Gergely Horváth (ELTE) bot dann gleichsam eine Illustration zu den Ausführungen von G. Czoch über die aus ständischen Privilegien gespeisten Konflikte zwischen Siedlungen unterschiedlichen Typs bzw. zwischen adligen Privilegien und den Ansprüchen anderer Territorien und politischer Körperschaften. Er analysierte die Konflikte zwischen dem in Niederösterreich unmittelbar an der Grenze zu Ungarn gelegenen Bruck und dem angrenzenden Komitat Moson, auf dessen Gebiet Bruck in Nachfolge eines vorangehenden adligen Inhabers den Besitz Újfalú erworben hatte. Moson erhob – unter anderem unter Verweis auf königliche Bedingungen beim ursprünglichen Verkaufsakt – Anspruch auf Steuern und Leistungen nach dem Besitz auf seinem Grund zugunsten des Komitats, während Bruck sich als adliger Besitzer betrachtete und dies verweigerte. Der Konflikt, der stark genug war, um auch nichtadlige Personen einzubeziehen, auch wenn zwischen ihnen keinerlei ethnischer Unterschied bestand, schwelte ohne grundlegend neue Ergebnisse mehrere hundert Jahre und fand erst mit dem ständischen Zeitalter selbst ein Ende.

Judit Pál (Babes-Bólyai Universität Cluj) sprach über „Territorium und Politik“ mit Blick auf „die Frage der Neuordnung des Königsbodens nach 1867“. Spätestens mit dem Wegfall ständischer Privilegien hatten auch die ständischen Nationen ihre Existenzgrundlage verloren. Der territorial alles andere als zusammenhängende Königsboden, auf dem neben siebenbürgischen Sachsen auch Magyaren und Rumänen lebten, und der teilweise kleinräumig an Siedlungen anderer Nationalitäten angrenzte, bedeutete jedoch besonders große Herausforderungen für eine Neuordnung, zumal auch die politische Elite der Sachsen hinsichtlich des „Wie“ gespalten war. Nach verschiedenen gescheiterten Anläufen führte erst eine Entscheidung ´von oben´, nämlich die Eingliederung aller ehemals privilegierten Gebiete in ein Komitatssystem zu einer Neuregelung. Der Fall zeigt zudem, wie ein erfolgloser Staatsnationalismus imstande ist, auch an der Peripherie Nationalismen anzuheizen.

Dániel Szabó (Historisches Institut der Akadademie) untersuchte in seinem Vortrag den „Zusammenhang von politischem Raum und politischem Willen im Dualismus“. War das Adelskomitat vor 1848 zugleich eine politische Gemeinschaft gewesen, so galt dies für die Wahlbezirke der Zeit des Dualismus grundsätzlich nicht. Sie waren nach gewissen Kriterien (unter anderem die Zahl der Wahlberechtigten) abgesteckte und ab Ende der 1970er-Jahre auch nicht mehr ohne weiteres in ihrer räumlichen Erstreckung manipulierbare Bezirke, in denen die Wahlentscheidung aller berechtigten Einwohner des Landes technisch abgewickelt wurde. Dennoch sprach 1914 im Kontext einer möglichen Neuregelung des Wahlrechts ein Fachgutachten schließlich die Empfehlung aus, diese Bezirke nicht mehr zu verändern, da sie de facto zu Rahmen der jeweils gemeinsamen politischen Willensbildung und – in den Worten der Zeitgenossen – der politischen „Homogenisierung“ geworden waren. Damit hatte der Sache nach das Konzept des politischen Milieus, hier in räumlicher Bindung, in die ungarische Debatte Eingang gefunden.

Die am Anfang des Panels „Symbolischer und repräsentierter Raum“ stehenden Ausführungen von Márton Szilágyi (ELTE) über Mihály Csokonais „Tusculum“, führten vor, wie der Dichter der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Hause seiner Mutter in Debrecen lange vergebens versucht hatte, sich einen privaten Raum zu einer Lebensführung nach eigener Vorstellung zu schaffen, und wie ausgerechnet der Stadtbrand vom Juni 1802 ihm Gelegenheit dazu gab. Dieses Bestreben selbst wie auch die aus Briefen und Abrechnungen rekonstruierbare Ausgestaltung der eigenen Räume distanzierten sich nachdrücklich von den Traditionen seiner Umgebung, aus der er sein Tusculum jedoch dennoch nicht herauszulösen vermochte.

Boldizsár Vörös (Historisches Institut der Akademie) widmete sich einem Fall symbolischer Inbesitznahme eines Ortes während der ungarischen Räterepublik 1919: der Umwidmung der Pferderennbahn zu einem Garten für die Versorgung der städtischen Bevölkerung. Der Inbegriff herrschaftlicher Genußsucht und Verführung darbender Proletarier zum Leichtsinn wurde so zu einem Vorzeigeort anvisierter wirtschaftlicher Zielstrebigkeit und der Umerziehung der alten Ausbeuterklasse. Ob auf den Flächen jemals ein wirtschaftlich vertretbares Ergebnis erzielt wurde, ließ sich nicht klären, die propagandistische Auswertung der Aktion erfolgte, wie referiert, jedoch in aller Breite.

Der Vortrag von Éva Fisli (ELTE) beschäftigte sich mit Gedenktafeln des Zweiten Weltkrieges und untersuchte insbesondere, wie diese Erinnerungsorte in der Stadt Budapest verteilt waren. Csaba Csóti (Komitatsarchiv Somogy) wandte sich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu und untersuchte die Repräsentation politischen Raumgreifens im geographischen Raum im Komitat Somogy 1947. Barbara Papp (ELTE) beschäftigte sich mit Raumgebrauch, Identität und Absonderung in einer Großgemeinde jenseits der Theiß nach der Bodenreform der 1920er Jahre, bzw. der Verbindung von Bodenreform und symbolischem Raum. Vorrangig mit Methoden der Oral History belegte sie die räumliche und soziale Absonderung des alten Dorfes von der neuen Siedlung, die sich auch in den durch Schlägereien ausgehandelten Raumabgrenzungen der Jugendlichen beider Gruppen niederschlug.

In dem Panel „Anthropologie des Raumes“ referierte Zsolt Szijártó (Universität Pécs) einleitend über „Raum-Geschichten und Geschichts-Räume“. Am Beispiel der Pécser Kulturfestivals seit den 1930er-Jahren vollzog er nach, wie diese spezifische Weise der Nutzung des Raumes zur räumlichen Repräsentation der Stadt beigetragen hat. In die Betrachtung einbezogen wurde auch die diese Nutzung reflektierenden Selbstdarstellungen, die zumal seit den 1960er-Jahren gut dokumentiert sind. Jenő Bódi (Univ. Pécs, Kommunikationswiss.) unternahm anschließend einen Ausblick in die englische Forschungslandschaft und referierte Überlegungen zur Konstruktion des Raumes durch seine Nutzung. Der Tourismus und dessen typische Vertreter, der Rucksacktourist, der Teilnehmer organisierter Besichtigungen, mit ihren spezifischen Weisen der Raumkonstruktion dienten dabei als prägnante Fallbeispiele. Boglárka Bakó (Institut für Minderheitsforschung der Akademie) beschäftigte sich mit einem im Zuge von Feldforschungen beobachteten Konflikt in einem südsiebenbürgischen Dorf zwischen der mehrheitlich evangelischen Einwohnerschaft und einer schwärmerischen Sekte. Der Konflikt in dem sonst friedlich-separierten Nebeneinander entzündete sich an einem von den Sektenmitgliedern zum Karfreitag veranstalteten Passionsspiel und einem Umzug. Beide Gemeinschaften hatten offensichtlich grundverschiedene Vorstellungen von heiligem und profanem Raum bzw. heiliger und profaner Zeit. Während für die Evangelischen beides an feste Orte und Zeitpunkte gebunden war, konnten für die Sekte die Aktualisierung heiliger Texte und das Singen entsprechender Lieder jederzeit diesen besonderen Raum erschaffen. Das „Ineinanderfließen“ der beiden verschiedenen Räume gäbe also den Schlüssel für die Analyse der Konfliktes. Balázs Apor (EUI Florenz) analysierte den kommunistischen Führerkult in Ungarn 1948-1956. Auch der Fall des Kultes um Mátyás Rákosi läßt sich mit seinen räumlichen Arrangements, mit der Choreographie seiner Massenaufzüge und der Ausgestaltung öffentlicher Räume in ein Modell einordnen, in dem der Führer als Zentralfigur eines sakralen Raumes und als „unbewegter Beweger“ erscheint. Die in Ungarn schon 1945 einsetzende Benennung von Straßen und Plätzen nach Rákosi wiederum demonstrierte die Inbesitznahme des physischen Raumes, die Eroberung des Landes durch den siegreichen „Sozialismus“.

Die zahlreichen Anmeldungen zu der Tagung belegten das Interesse, welches das Thema bei Mitgliedern des Vereins für Sozialgeschichte wie interessierten Kollegen aus Nachbardisziplinen gefunden hatte. Dass dieses Interesse durch die Organisatoren sehr breit berücksichtigt worden war, ging mitunter auf Kosten eingehenderer Diskussionen. So blieben manche Probleme unkommentiert. Klarsichtige Analysen des sozialen Umgangs miteinander im Raum und dessen Repräsentationen standen neben informativen Lesarten einschlägiger Forschungsstände und durchaus interessanten, jedoch eigentlich auch unter andere Problemstellungen passenden Essays über die Natur der Macht im Sozialismus. Teilweise ging es um mikrohistorisch beobachtete Vorfälle, die sich mit Blick auf das Tagungsthema eben auch in einer räumlichen Dimension nachvollziehen ließen. Deutlich wurde dabei die Vielfalt einschlägiger Forschungen, aber auch die Begrenztheit des gegenwärtig erreichten Forschungsstandes. Als vergleichsweise gut bearbeitete Felder erwiesen sich die Stadtgeschichte Ungarn auf der Makroebene, in der mittlerweile begrifflich und konzeptionell weitgehende Übereinkunft zwischen Historikern und Geographen erreicht wurde. Gleiches gilt für den Problemkreis symbolischer Repräsentationen im Sozialismus, zu denen – im Unterschied zu den vielen offenen Fragen einer „traditionelle“ Sozialgeschichte dieser Epoche – in den letzten Jahren, aufbauend auf intensiven politikgeschichtlichen Vorarbeiten, nicht zuletzt im Umfeld des 1956er Insituts, viele interessante Forschungsprojekte durchgeführt wurden. Unterhalb der Makroebene angesiedelte Fragen der Stadtgeschichte und manche andere Probleme der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sozialgeschichte dagegen werden angesichts der Quellenlage sowie der Streuung aktueller Forschungen nicht so bald zu vergleichbaren Resultaten führen können. Die Ergebnisse der Diskussionen in den Panels wie im Anschluß an die Tagung dürften freilich auch in die Textfassungen der Beiträge eingehen, denn wie immer wird mit dem Reihentitel „Ständische Gesellschaft – bürgerliche Gesellschaft“ [„Rendi társadalom – polgári társadalom“] in der Herausgeberschaft der veranstaltenden Institution ein Tagungsband erscheinen und die Konferenzbeiträge dokumentieren.

Die Verfasserin dankt Ferenc Sohajda (Anthropologie des Raumes) und Roland Perényi (Raum der Disziplinierung) für ihre Zuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Siehe auch: http://www.atelier-centre.hu
2 Léptékváltó társadalomtörténet: Tanulmányok a 60 éves Benda Gyula tiszteletére [Sozialgeschichte im Maßstabswechsel: Studien zu Ehren des 60jährigen Gyula Benda]. Hgg. Zsolt K. Horváth, András Lugosi, Ferenc Sohajda. Budapest (Hermész Kör – Osiris) 2003.


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