Zeitgeschichte der Medizin ca. 1950 bis 2000

Zeitgeschichte der Medizin ca. 1950 bis 2000

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.10.2005 - 22.10.2005
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Von
Isabel Atzl; Sylvelyn Hähner-Rombach, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Ziel der ersten dezidiert auf die Zeitgeschichte der Medizin nach 1950 ausgerichteten Tagung des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung war es, einerseits einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung zu geben, andererseits die Möglichkeit zu bieten, Arbeiten zu ausgesuchten Themenbereichen zu diskutieren.
Die Tagung konzentrierte sich auf Bereiche, die teilweise noch wenig erforscht und sozialhistorisch von Interesse sind: 1. Patienten, 2. Pflege, 3. Gesundheit, Ökonomie und Wohlfahrtsstaat, 4. Alternativmedizin, 5. Prävention.
In seiner Begrüßung hob der stellvertretende Institutsleiter Martin Dinges darauf ab, daß die Robert Bosch Stiftung seit ihrer Gründung versucht habe, aktuelle Aspekte der Gesundheitsversorgung, der Gesundheitsökonomie und der Pflege zu beeinflussen. Das Robert-Bosch-Krankenhaus wie auch das Institut für Klinische Pharmakologie standen in ihrer Geschichte immer wieder für Innovation: sei es die Gründung des Krankenhauses als homöopathisches Krankenhaus, sei es die Einrichtung einer Herzchirurgie, sei es das geriatrische Rehabilitationszentrum als neueste Errungenschaft. Auch die Forschungsfelder des Instituts sind sozusagen zeitgeschichtlich „anfällig“: Geschichte der Homöopathie, der alternativen Heilweisen, der Patienten und der Pflege.

Die erste Sektion „Patienten“ begann mit einem Vortrag von Ralf Forsbach (Siegburg/Bonn) über „Die Achtundsechziger und das Arzt-Patient-Verhältnis“. Dabei sollte die Frage im Mittelpunkt stehen, ob die medizin-reformerischen Konzepte der frühen 1970er Jahre mit den Unruhen und den Forderungen der Studentenbewegung von 1968 in Zusammenhang stehen. Das Bild der engen Beziehungen zwischen Arzt und Patient hatte bereits durch Viktor von Weizsäcker Risse bekommen und hat sich auch in Folge der Achtundsechziger nicht prinzipiell vom Schlechten zum Guten entwickelt; dem stand schon die Technisierung der Medizin entgegen. Die Bewegung umfaßte mehrere Strömungen mit verschiedenen Ansätzen. Forsbach konzentrierte sich im weiteren jedoch vornehmlich auf die Rolle des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK), das in seinen arztkritischen Patienteninformationen zunehmend die gedankliche Nähe zu den 68ern offenbarte und sich in den 1970er-Jahren der RAF annäherte.
In der Diskussion wurde unter anderem darauf hingewiesen, daß das Umfeld der 68er Bewegung sehr heterogen war, also mehr beinhaltete als das SPK und die sogenannte „Patientenfront“ (PF). Ein besserer Bezugspunkt wäre Thure von Uexküll gewesen. Gefragt wurde auch nach den langfristigen Wirkungen, die sich besonders in der Psychiatriepolitik zeigten, aber ebenso in der Gründung von Gemeinschaftspraxen, der Entwicklung medizinkritischer Projekte und Zeitschriften. Die Rolle der Patienten im Verhältnis Arzt-Patient ist aufgrund der herangezogenen Quellen zu kurz gekommen. Aufschlußreich könnte hier eine Untersuchung über die Entwicklung der Selbsthilfegruppen sein.

Sylvelyn Hähner-Rombach (Stuttgart) stellte in ihrem Vortrag „Gesundheit und Krankheit in Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg 1946-1980“ eine bisher für die Medizingeschichte noch nicht erschlossene Quelle vor. Nach einem kurzen Überblick über die Petitionen konzentrierte sie sich auf die der Strafgefangenen, die mit Abstand die meisten Eingaben verfaßt haben. Deren Petitionen wurden in zwei große Kategorien unterteilt: Anspruch auf Gesundheits- und Krankheitsfürsorge und Instrumentalisierung von Krankheit, wobei gleich auf die Problematik solcher Kategorisierungen hingewiesen wurde. Weitere Probleme, auf die Hähner im Umgang mit den Petitionen aufmerksam machte, sind zum einen die zeitliche Nähe zu den Quellen, zum anderen die Beobachtung, daß einige der Petentengruppen, wie die Strafgefangenen, sozusagen per se suspekt sind und deshalb eine permanente Reflexion erfordern. Abschließend wurde das Konzept der sozialen Exklusion vorgestellt, mit dem die Vortragende hofft, zumindest den Großteil der sehr heterogenen Petitionen in den Griff zu bekommen.
Gefragt wurde nach den Folgen, die die Einreichung einer Petition für einen Gefangenen haben konnte, ob die Reformperiode Einfluß auf den Strafvollzug hatte, ob es bei den Petitionen auch um die Forderung nach gesetzlichen Änderungen ging und ob die Petenten im Untersuchungszeitraum „aufgeklärter“ wurden. Die Diskussion drehte sich um die Frage, ob diese Quelle als Zugang zu den Vorstellungen über Gesundheit geeignet sei sowie darum, daß der lange Zeitraum der Untersuchung auch die gesetzlichen Veränderungen und ihre Konsequenzen einbeziehen muß.

In der zweiten Sektion „Gesundheit, Ökonomie, Wohlfahrtsstaat“ präsentierte Thorsten Halling (Düsseldorf) den Versuch einer anderen Krankenhausgeschichte anläßlich des 100jährigen Bestehens des Klinikums Düsseldorf im Jahr 2007. In diesem Projekt, das er unter dem Titel „Klinik im Kontext. Ein Konzept einer modernen Krankenhausgeschichte am Beispiel des Universitätsklinikums Düsseldorfs“ vorstellte, soll eine Netzwerkanalyse in bezug auf die Kommunikation die Beziehungsgeflechte von Gesundheit, Wissenschaft, Lehre, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verdeutlichen. Die Fokussierung auf Netzwerke als roter Faden der Untersuchung biete die Chance, zu einer strukturorientierten Gesamtdarstellung zu gelangen, ohne dabei die Relevanz von Akteuren zu negieren. Letztere werden innerhalb des Projekts interviewt. Die Grundidee der kommunikativen Vernetzung soll auch neue Impulse für die Gattung der Festschrift setzen.
In der Diskussion wurde vor allem auf die „blinden“ Flecken der Netzwerke hingewiesen, also diejenigen Netzwerke der Macht, die außen vorbleiben, wie beispielsweise Rotarier-Treffen oder Berufungskommissionen. Gefragt wurde auch nach einer Historisierung von Netzwerken, nach Querschnittsuntersuchungen und der Verschiebung der Knoten.

Winfried Süß (München) fokussierte seinen Vortrag „Über unerwartete Nebenfolgen lange erwarteter Reformen: Gesundheitspolitik zwischen Expansion und Kostendämpfung (1966-1977)“ auf die Folgen der Modernisierung des Krankenhaussektors in den 1970er Jahren. Das heute weiterhin reformbedürftige System der Krankenhausfinanzierung resultiert aus den früheren Reformen, die zunächst als Lösung des jahrzehntelangen Problems der chronisch unterfinanzierten Krankenhäuser gedacht waren, jedoch zu einer Verdopplung der Gesamtaufwendungen innerhalb von fünf Jahren führten. Süß analysierte Kräftekonstellationen, Zusammenhangswissen und Zukunftserwartungen politischer Akteure anhand politikwissenschaftlicher, wissenssoziologischer und gesundheitsökonomischer Fragestellungen unter der Perspektive, daß Modernisierung nicht nur als Problembewältiger, sondern auch als Problemerzeuger fungiert. Der neue Modus der Finanzierung der Krankenhäuser bot keinen Anreiz zum Sparen, sondern führte zu einer Kostenexplosion im stationären Bereich. Die Verlierer dieser Entwicklung waren vor allem die Bundesregierung und die Krankenkassen.
Die Diskussion drehte sich unter anderem um die von Süß aufgestellte These, daß in der Bundesrepublik, im Gegensatz zu Großbritannien beispielsweise, beide großen Volksparteien sozialstaatsfreundlich waren und sozusagen eine Sozialpolitik in der Überbietungskonkurrenz betrieben. Hingewiesen wurde auch auf die positiven Konsequenzen der Krankenhauspolitik der 1970er-Jahre für die Patienten.

Die dritte Sektion „Prävention“ wurde mit dem Vortrag von Iris Borowy (Rostock) zu „Ernährung im 20. Jahrhundert. Diskurs zwischen Lifestyle, Sozialmedizin und internationaler Wirtschaftsstruktur“ eröffnet. Im 20. Jahrhundert wurde Ernährung durch die Entdeckung von Vitaminen und Spurenelementen und die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu einem zentralen Thema der medizinischen Forschung. In den 1930er-Jahren bemühte sich der Völkerbund, internationale und interdisziplinäre Untersuchungen zu initiieren und das Thema in zentralen Institutionen zu verankern. Dies ist zwar teilweise gelungen, die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Durchsetzung des Themas ist jedoch gescheitert. Gemeinsame Schwerpunkte der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), WHO und UNICEF, wie Ernährungsstandards oder Mangelerscheinungen, führten zwar zum Aufzeigen von Komponenten, die für die Ernährung wichtig sind, auf politische und ökonomische Rahmenbedingungen haben die Organisationen aber bis heute keinen wirklichen Einfluß.
Bei der Diskussion wurde angeregt, die Arbeit der internationalen Organisationen mit Hilfe der Bürokratie-Theorie zu analysieren und die politischen Aspekte des Hungers mehr in den Vordergrund zu rücken. Gefragt wurde nach der Verläßlichkeit der Daten in bezug auf Hunger(tote), dem Einfluß der Monokulturen auf den Hunger, nach der Instrumentalisierung des Hungerproblems, beispielsweise in der Gentechnik-Debatte, und der Rolle kirchlicher Organisationen.

Ulrike Thoms (Berlin) folgte in ihrem Vortrag „’Richtige Ernährung – gesunde Menschen’? Die Ernährungspolitik der DDR“ der Leitfrage, ob sich in der frühen Entwicklung der DDR im Vergleich zur BRD eine spezifische Ernährungspolitik ausmachen lasse. Dabei stieß sie auf eklatante Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Das Interesse an der Ernährung der Bürger – sichtbar an der Errichtung des „Instituts für Ernährung der Deutschen Akademie der Wissenschaften“ 1957 – stand einer schlechten Versorgung ebenso gegenüber wie die hehren Zielen einer guten Gemeinschaftsversorgung den mangelnden Umsetzungen. Ernährung wurde nicht nur als ein mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erforschendes Phänomen betrachtet, sondern in Zusammenhang gebracht mit politisch-ideologischen, kulturell-erzieherischen, ökonomisch-technischen und medizinisch-sozialen Maßnahmen. Eine der Folgen dieser Politik war die Einrichtung der Werksküchen, da die Gemeinschaftsverpflegung auch aufgrund der konkreten Interventionsmöglichkeit eine zentrale Bedeutung in der sozialistischen Ideologie hatte. Im Gegensatz zur BRD wurden in der DDR die sozioökonomischen Bedingungen von Ernährung mit einbezogen. Das änderte jedoch nichts an dem Grunddilemma der DDR, bis zuletzt eine Mangelgesellschaft zu sein, die die Aufholjagd gegenüber der BRD nicht gewinnen konnte.
In der Diskussion wurde gefragt nach den historischen Zäsuren in der Diskussion über die Ernährungsproblematik, den Intentionen der Ernährungspolitik – Stichwort ‚Ernährung als Bringschuld des Staates’ – und dem Schleichhandel, den es auch in der SBZ gab.

Über die Entwicklung der Sozialhygiene in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) referierte Udo Schagen (Berlin) mit seinem Beitrag „Sozialhygiene als Leitkonzept für Wissenschaft und Gesellschaft – Der Bruch mit biologischen Vorstellungen in der SBZ“. Schagen stellte die Entwicklung in drei Phasen vor. Der erste Schritt war durch den Bruch mit dem NS-Regime nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs charakterisiert, vor allem durch die Aufhebung der NS-Rasse-Gesetze seitens der sowjetischen Besatzungsmacht. Statt dessen sollte eine „Volksgesundheitspflege“ implementiert werden, die unter dem Slogan „Volksgesundheit statt Rassenwahn“ firmierte. Der zweite Schritt bestand im Aufbau von Lehrstühlen zur Sozialhygiene, die an die Inhalte der Disziplin vor ihrer Annäherung an die Rassenideologie anknüpften. Der dritte Schritt zeichnete sich durch den Versuch aus, neue Inhalte an den Universitäten zu verankern. Das zeigt sich beispielsweise in der Produktion von Lehrbüchern der Sozialhygiene für Studierende in den Jahren 1953-58. Schagens Fazit: Das Gesundheitswesen in der SBZ war nicht „sowjetisiert“, sondern griff auf die Wurzeln der Sozialhygiene der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, die nunmehr von der Eugenik befreit wurden.
Gefragt wurde unter anderem nach dem Einfluß der SED auf die Sozialhygiene – die Lehrstühle wurden politisch korrekt besetzt, die Rassenhygieniker wurden im vorauseilenden Andienen der Fakultäten entlassen – sowie nach dem Eingang der Eugenik in staatliche Maßnahmen, wie beispielsweise in die Eheberatung.

Auch der Beitrag von Sabine Schleiermacher (Berlin) befaßte sich mit der DDR. Ihr Vortrag „’Schutz der arbeitenden Frau’ und ‚Teilhabe am gesellschaftlichen Leben’: Die sozialpolitische Verankerung gesundheitlicher Sicherung von Frauen in der frühen DDR“ stützte sich vornehmlich auf das 1950 verabschiedete „Gesetz für Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“. Dabei ging es einerseits um die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, andererseits um den Gesundheitsschutz von Frauen am Arbeitsplatz. Letzterer sollte nicht nur den Bereich der Prävention umfassen, sondern auch garantierte medizinische Betreuung und soziale Leistungen beinhalten. In ihrem Vortrag umriß Schleiermacher die medizinischen, wirtschaftlichen und politischen Begründungen, die im Vorfeld des Gesetzes von Besatzungsbehörden, Gewerkschaften, Sozialhygienikern und Frauen vorgebracht wurden. Angestrebt war die Verknüpfung sozialistischer Vorstellungen von der Rolle der Frauen mit sozial- und gesundheitspolitischen Zielen.
Die Diskussion drehte sich vor allem um den sowjetischen Einfluß auf das Gesetz und die Rolle der Frauenverbände sowie die Frage, wie die Frauen dazu gebracht wurden, die Angebote auch zu nutzen.

Die „Veränderungen der ‚Fürsorge’ für Randgruppen in den 1960er-Jahren“ waren Thema des Vortrags von Sigrid Stöckel (Hannover). Die ursprünglich den Gesundheitsämtern zugeordnete Gesundheitsfürsorge ging in den 1960er und 1970er-Jahren in den Aufgabenbereich der niedergelassenen Ärzte über. Betroffen waren davon vor allem Familien mit Kindern sowie Jugendliche. Die Fürsorge für andere Personengruppen, wie Behinderte, Alkoholkranke, Geschlechts- und Tuberkulosekranke oder Obdachlose, verblieb dagegen den Gesundheits- und Sozialämtern. Dazu kamen Veränderungen des Konzepts der Fürsorge im Spannungsfeld von Vorsorge und Fürsorge, Inklusion und Exklusion. Daraus ergaben sich Auseinandersetzungen bezüglich der Zuständigkeitsbereiche von Individualärzten auf der einen Seite, Gesundheits- und Sozialämtern auf der anderen. In ihnen zeigen sich das unterschiedliche Verständnis von Zwangsmaßnahmen und die Steigerung des professionellen Selbstverständnisses auf seiten der Sozialarbeiter durch die Forderung des Primats in psychologischer und sozialer Fürsorge.
Gefragt wurde nach der Bedeutung der psychischen Hygiene sowie möglichen Zusammenhängen zwischen der Diskussion der Mediziner und Sozialarbeiter und derjenigen, die in der Gesellschaft (öffentliche Meinung) geführt wurde.

In der vierten Sektion zur Alternativmedizin stellte Bernd Grün (Tübingen) seine Forschungen zum Thema „Alternativmedizin an der Tübinger Medizinischen Fakultät nach 1945“ vor. Während die alternativen Heilweisen zur Zeit des Nationalsozialismus einen Aufschwung erlebten, was sich unter anderem darin zeigte, daß die Studienordnung von 1939 eine obligatorische Vorlesung über „Naturgemäße Heilmethoden“ und eine Heilkräuterexkursion vorsah - auch nahm die Zahl der Dissertationen zur Alternativmedizin zu -, fanden naturheilkundliche Themen nach 1945 in Forschung und Lehre wieder weniger Berücksichtigung. Es zeigten sich allerdings Unterschiede in den einzelnen Richtungen: Während die Homöopathie aus dem Kanon ganz herausfiel, konnte sich vor allem die Balneologie ab den 1960er-Jahren wieder etablieren. Weitere alternative Heilmethoden, wie Vollwerternährung und alternative Krebsbehandlungen, wurden zwar durchaus diskutiert, in der Folge aber abgelehnt. Dies schlug sich in der Lehre und der Besetzung von Lehrstühlen ebenso nieder wie in der Vergabe von Forschungsmitteln und Dissertationsthemen.
Die Diskussion drehte sich um die Frage, ob die Studierenden ein Interesse an der Alternativmedizin bekundeten, wie der Stand der Alternativmedizin an anderen Medizinischen Fakultäten war und welche Rolle Werner Kollaths Ernährungskonzept an der Universität Tübingen spielte.

Die fünfte Sektion zur Pflegegeschichte umfaßte vier Beiträge. Sabine Braunschweig (Basel) stellte ein von ihr durchgeführtes Projekt zur Wirkung des Einsatzes von Neuroleptika bei Psychiatriepatienten auf den Pflegealltag vor. Es stützt sich neben den schriftlichen Quellen, Krankengeschichten, Pflegerapporte und Jahresberichte, auch auf Interviews, die im Rahmen des Projekts mit ehemaligen Pflegekräften in der Psychiatrie durchgeführt wurden. Das Anfang der 1950er-Jahre eingeführte Mittel Chlorpromazin wurde von den Pflegenden im Rückblick zunächst als „Wundermittel“ bezeichnet. Auch in den schriftlichen Quellen findet sich ein dementsprechender Niederschlag. Die Verwendung von Adjektiven zur Beschreibung der Patientinnen und Patienten nach der Einnahme des neuen Medikaments, wie „ruhig“, „freundlich“, „nett“ und „dankbar“, nahm auffallend zu. Allerdings wurden mit der Zeit auch die Nebenwirkungen und Persönlichkeitsveränderungen der Kranken konstatiert. Dennoch führte die Vergabe von Psychopharmaka dazu, daß die psychiatrischen Einrichtungen etwas von ihrem Gefängnischarakter verloren, weil Mauern und Gitter entfernt wurden. Längerfristig änderte sich in der deutschsprachigen Schweiz auch die Ausbildung in der Psychiatriepflege, die der Krankenpflege angenähert wurde.
Gefragt wurde, ob der Einsatz der Neuroleptika mehr eine Bedarfs- oder eine Zwangsmedikation war und ob es Reaktionen seitens Betroffenengruppen auf den Einsatz der Psychopharmaka gab. Angeregt wurde eine semantische Untersuchung der Kommentare der Pflegenden auf die Veränderungen der Patienten durch die Medikamente.

Im Rahmen ihrer Forschungen zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte in der Krankenpflege befaßte sich Susanne Kreutzer (Berlin/Stuttgart) in ihrem Vortrag „’Früher waren wir immer da – heute ist alles getrennt’. Zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte der Krankenpflege nach 1945“ mit der Modernisierung in der Krankenpflege aus Sicht der Pflegenden. Die 1960er-Jahre markieren eine fundamentale Umbruchszeit in der Geschichte der Krankenpflege, in der Erfahrungswissen an Bedeutung verlor und eine theoretisch fundierte Ausbildung an Gewicht gewann. In einem Vergleich zwischen zwei Gruppen von Krankenschwestern, den Diakonissen der Henriettenstiftung in Hannover, die die Vorzüge des tradierten Konzeptes des „learning by doing“ betonen, und den im Wandlungsprozeß maßgeblich an der Professionalisierung der Pflege beteiligten Frauen, kam die Frage auf, wie die Modernisierung in der Pflege auf Ausbildung, Arbeitsbelastung und Patientenbetreuung wirkte, und was die veränderte Personalstruktur auslöste.
Gefragt wurde unter anderem nach dem Einfluß des Bedeutungswandels in der Prognostik im 20. Jahrhundert und dem Einfluß der Ärzte auf die veränderten Pflegeansprüche sowie nach den Veränderungen durch das Abgehen vom zölibatären Leben gerade in der sogenannten Restauration der 1950er-Jahre für die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung.

Norbert Friedrich (Düsseldorf) beschrieb mit seinem Vortrag „Krankenhausplanung und -bau in den sechziger Jahren – das Beispiel der diakonischen Krankenhäuser“ vor allem die ökonomischen Rahmenbedingungen, die für den Neubau des Florence-Nightingale-Krankenhauses in Kaiserswerth ausschlaggebend waren. Waren die Planungen dieses Krankenhauses in den 1960er-Jahren noch von Modernisierungshoffnungen geprägt, zeigten sich im Verlauf des Prozesses die Spannungen zwischen öffentlicher Gesundheitsfürsorge und eigener evangelischer Profilbildung immer stärker - vor allem, da die öffentlich Hand den Großteil der Kosten für den Krankenhausneubau übernehmen mußte. Als zunehmend problematisch hinsichtlich der damit verbundenen veränderten Arbeits- und Finanzierungsstruktur der evangelisch-diakonischen Krankenhäuser erwies sich auch, daß die Schwesternschaften immer kleiner wurden. Daraus folgten Änderungen in den Pflegekonzepten, die sich wegen der veränderten Personalstruktur von der ehemals konfessionellen Sichtweise entfernten.
Diskutiert wurde die Frage, was das Florence-Nightingale-Krankenhaus qualitativ zur Verbesserung der Pflege beigetragen hat, inwiefern es eine auf den Patienten orientierte Pflege gab und ob die konfessionellen Trägervereine mit dem Management von Großkliniken nicht überfordert gewesen waren.

Über die Veränderungen der Strukturen des Gesundheitswesens mit Blick auf die Versorgung Pflegebedürftiger berichtete Barbara Randzio (Bielefeld/Stuttgart) in ihrem Vortrag „Die ‚fünfte Säule’ – tragfähig oder dekorativ? 10 Jahre soziale Pflegeversicherung“. Im Zentrum der Diskussionen über die Finanzierung der Pflege steht das Verhältnis von Selbstsorge, gemeinschaftlicher Solidarität und sozialstaatlicher Verantwortung. 1995 wurde ein System eingeführt, das staatliche Finanzierung mit selbstorganisierter Pflege verbinden soll. Seitdem sind Angehörige von Pflegebedürftigen für die Verknüpfung unentgeltlicher und professioneller Hilfen verantwortlich und entscheiden als Vertragspartner über die jeweilige Kombination von Sach- und Geldleistungen der Versicherung. Die Anbieter professioneller Pflegeleistungen müssen sich im Korsett der finanziellen Gegebenheiten des Marktes profilieren. Streitpunkte sind dabei die Qualität und Transparenz von Leistungen der Pflegedienste. Zu beobachten ist, daß sich das Verhältnis ambulanter Pflegedienste, teil- und vollstationärer Pflege zugunsten der ambulanten Versorgung verändert. Erörtert wurde die Verbindung von staatlicher Sozialpolitik und Krankenpflege Mitte der 1990er-Jahre mit Blick auf die Geschichte der Pflege in der Bundesrepublik und der DDR.
In der Diskussion ging es darum, daß die Leistung pflegender Angehöriger von staatlicher Seite erstmals durch die Pflegeversicherung honoriert wurde. Über 90% der nun pflichtversicherten Pflegepersonen zwischen 1995 und 2004 waren Frauen. Die Auswirkungen der Pflegeversicherung zeigten sich nicht nur in der ambulanten, sondern vor allem in der stationären Versorgung. Hier entlastete die Pflegeversicherung die Kassen der örtlichen Sozialhilfeträger. Das Problem der Kostenverteilung wurde jedoch nicht gelöst. Zwar wurde der Bedarf an professionellen Dienstleistungen im Pflegebereich offenkundig, führte aber nicht flächendeckend zu einer Qualitätsverbesserung, sondern zu einer ökonomischen Differenzierung in der Pflege.

Den Abschluß der Tagung bildeten drei Projektvorstellungen. Daniel Schäfer (Institut für Geschichte der Medizin, Köln) stellte das Projekt „Konzeptionen und Funktionen von Gesundheit im Wandel (1970-2000) - Interdisziplinäre Analyse der Bereiche Medizin, Bioethik, Gesellschaft und Religion“ vor, das gemeinsam mit der Medizinethik in Hannover und der Moraltheologie in Freiburg geplant ist und 2006 beginnen soll. Dem dabei vor allem seinem eigenen Bereich zufallenden Thema der Gesundheitsdiskussion in der medizinischen Öffentlichkeit soll sich unter anderem durch die Diskussion von Präventivuntersuchungen genähert werden.

Mit der Entwicklung der deutschen Arzneimittelgesetzgebung befaßt sich ein neu anlaufendes Projekt des Instituts für Geschichte der Medizin in Freiburg, das Nicholas Eschenbruch unter dem Titel „Unbedenklich, wirksam, transparent? Pharmakologie und Arzneimittelgesetzgebung in Deutschland, ca. 1930-1985“ vorstellte. Ziel ist es, die neuere Geschichte der Pharmakologie in Deutschland in Beziehung zur Entwicklung der Arzneimittelgesetzgebung zu stellen. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Evidenzen für die drei zentralen Kategorien der Unbedenklichkeit, Wirksamkeit und Zusammensetzung von Arzneimitteln. Gefragt werden soll auch nach der Sonderstellung von Homöopathie und Naturheilverfahren sowie nach der Prävention von Arzneimittelschäden.

Isabel Atzl (Berlin) präsentierte das Projekt „Zeitzeugen Charité“ des Instituts für Geschichte der Medizin, Berlin, das sich nicht als Forschungsarbeit, sondern als Materialsammlung auf der Grundlage von Oral History versteht. Interviewt werden ehemalige Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter zu ihren Erinnerungen in bezug auf den Arbeitsalltag, den Mauerbau und die Wendejahre. Die subjektiven Blicke auf die Ereignisse sollen einen ersten Versuch der Annäherung an die schwierigen Umbruchzeiten darstellen.

Den zwanzigminütigen Vorträgen folgten ebenso lange, sehr lebhaft geführte Diskussionen, in denen immer wieder Fragen nach der Aussagekraft von Quellen sowie die Erschließung weiterer Quellenbestände für die jeweilige Fragestellung im Mittelpunkt standen. Insgesamt zeigte sich eine erfreuliche Entwicklung in der Geschichte der Pflege, die bis jetzt in der Zeitgeschichte der Medizin zu wenig Berücksichtigung fand.


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