Nation - Europa - Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800

Nation - Europa - Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800

Organisatoren
Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner; Prof. Dr. Claudia Brinker-von der Heyde; Prof. Dr. Andreas Gardt; Prof. Dr. Franziska Sick (Universität Kassel)
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2005 - 17.09.2005
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Von
Theo Broekmann, Universität Kassel, Fachbereich 05: Gesellschaftswissenschaften, Mittelalterliche Geschichte

Fragen nicht nur nach der Bewahrung einer nationalen, sondern auch nach einer eigenen europäischen Identität besitzen in den politischen Debatten der jüngsten Gegenwart vor dem Hintergrund eines unaufhaltsamen Globalisierungsprozesses, möglicher EU-Erweiterungen und der Diskussionen um den Begriff "Alteuropa" Aktualität und Brisanz. Das damit einhergehende neuerliche wissenschaftliche Interesse am Europa- und Nationenbegriff prägte auch die interdisziplinär ausgerichtete und gut besuchte Tagung "Nation - Europa - Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800", zu der INGRID BAUMGÄRTNER (Mittelalterliche Geschichte), CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE (Germanistische Mediävistik), ANDREAS GARDT (Germanistische Sprachwissenschaft) und FRANZISKA SICK (Romanistische Literaturwissenschaft) nach Kassel eingeladen hatten. Leitthema der Tagung war die Frage nach der Rolle, die die Begriffe ‚Nation', ‚Europa', ‚Welt' in der Diskussion über die unterschiedlichen Formen der Identität spielen. Kritisch ins Visier genommen wurden Identitätskonstruktionen von Europa und Nation vom hohen Mittelalter bis in die Zeit um 1800, wenngleich die Perspektive in einigen Vorträgen auch bis ins 21. Jahrhundert verlängert wurde.

Den Anfang machten drei Vorträge, die von je unterschiedlichen Blickwinkeln aus - sprachhistorisch, begriffsanalytisch und methodenreflexiv - in das Thema einführten. JÜRGEN TRABANT, Berlin ("Die Liebe der Sprache und die Sprache der Welt"), sprach über die Verflechtungen von Identitäts- und Sprachdiskurs, ein Thema, das im Verlauf der Tagung in anderen Beiträgen (Hermanns, Garber, Schiewe) aufgegriffen und diskutiert wurde. Trabant ging dabei zurück zu den Wurzeln des identitären Diskurses über Sprache in Europa und damit zu Dante und seinen beiden Werken De vulgari eloquentia und dem Convivio. Trabant zufolge begründete Dante seine identitäre Liebesbindung an seine eigene Sprache mit einer zeitlichen und ethnischen Nähe zu seiner Person: Dante argumentiere, er habe die italica loquela als erste Sprache gelernt und sie sei die Sprache seiner gens. Herkunft und zeitlicher Primat der Erstsprache spielten zwar auch im politisch aufgeladenen sprachlichen Identitätsdiskurs des 20. Jahrhunderts (Skunabb-Kangas/Philipson) eine zentrale Rolle, doch machte Trabant auch die Unterschiede zum neuzeitlichen identitären Diskurs deutlich. Mit der Überwindung der traditionellen aristotelischen Sprachtheorie verschärfte sich der sprachliche Identitätsdiskurs insofern, als nun die Sprachnation über eine Kommunikationsgemeinschaft hinaus auch zu einer Kognitionsgemeinschaft geworden sei. Die sprachbezogenen politischen Auseinandersetzungen der letzten zweihundert Jahre basierten genau auf dieser verschärften, ans Denken geknüpften Form des Identitären.

Jede Identitätsgeschichte sei letztlich auch Mentalitätsgeschichte. Von dieser These ausgehend näherte sich FRITZ HERMANNS, Heidelberg ("Identitätsgeschichte als Mentalitätsgeschichte"), über Definitionsangebote zu den zentralen Begriffen ‚Identität' und ‚Mentalität' und über verschiedene Vorschläge, ‚Identität' zu kategorisieren, dem Tagungsthema. Die Identität eines Menschen verstand Hermanns als die Gesamtheit seiner jeweils relevanten Eigenschaften. Danach habe man in aller Regel eine Vielzahl von je nach Kontext und Relevanzerwartung sich ändernden Partialidentitäten zu berücksichtigen. Hermanns bot neben der Unterscheidung von Total- und Partialidentität eine Reihe weiterer begrifflicher Oppositionen als zu nutzendes Beschreibungs- und Analyseinstrumentarium an. Dass Identitätsforschung und Mentalitätsgeschichte inhaltlich aufeinander zulaufen, verdeutlichte Hermanns in actu durch Überlegungen zur deutsch-nationalen Identität und Mentalität des 19. Jahrhunderts anhand der bekannten Verse "Des Deutschen Vaterland" von Ernst Moritz Arndt.

OLAF ASBACH, Hamburg ("Konstruktionen einer politischen Identität Europas"), widmete sich in seiner kritischen Würdigung der aktuellen Europaforschung wichtigen methodischen Problemen. Kann man sich aus den Fallstricken herauswinden, die die politische Virulenz des Themas und der bestehende Bedarf an ‚Narrativen der (europäischen) Identität' dem Wissenschaftler schaffen? Asbach verwies auf zwei Gefahren: Zum einen auf die offene Flanke für die politisch-ideologische Instrumentalisierung historischer Forschung, vergleichbar jener im Zuge der Ausbildung nationaler Identitäten. Zum anderen wies Asbach darauf hin, dass unter der Maßgabe politischer Erwartungen oder Befürchtungen viele Ansätze zu einem im Identitäts- und Ursprungsdenken befangenen Vorgehen tendierten, bei dem Europa entweder als politische Idee oder als historisch-kulturelle Einheit aus der Vergangenheit heraus rekonstruiert würde, wobei der Mythos ‚Europa' eine nahezu beliebige historische Gestalt annähme. Auch das flexible Ausweichen auf ein Konzept, das ein Europa aus der Pluralität der unterschiedlichen Kulturen und der inneren Vielfalt entwirft, biete nur eine Scheinlösung, denn auch hier werde letztlich eine kulturelle Essenz geschaffen, die Europa in seiner Besonderheit präge. Aus den genannten Gründen hätten ‚identifikatorische Europakonzepte' in der Wissenschaft nichts zu suchen. Statt dessen könne es immer nur um eine historisch-kritische Erforschung zeitgebundener europäischer Identitätskonstruktionen gehen.

Von ‚Europa' kaum eine Spur? Im Gegensatz zu den frühneuzeitlichen Kollegen, die auf der Suche nach Identitätskonstrukten, in denen ‚Europa' eine Rolle spielte, fündig wurden, offenbarte sich in den drei Referaten zur mittelalterlichen Geschichte eine Leerstelle. So betonte VOLKER SCIOR, Osnabrück ("Identifikation und Abgrenzung"), dass früh- und hochmittelalterliche Historiographen selten eine Vorstellung von Europa - sei es als geographische oder historische Einheit oder als Wertegemeinschaft - besaßen. Die in der Vergangenheit viel bemühten Textstellen, die Karl den Großen als pater europae rühmen, eigneten sich genauso wenig wie die wenigen anderen mittelalterlichen Belege für die Suche nach einem ‚Europa im Mittelalter'. Im Falle Karls des Großen handele es sich - wie die Forschung herausgestellt habe - eher um einen ‚Verlegenheits- und Ausweichbegriff', um den negativ besetzten Ausdruck occidens zu umgehen. Einziges zeitgenössisches Identitätsmuster von wirklich raum- und zeitübergreifender Perspektive sei die christianitas gewesen, die grundlegend und situativ nicht veränderbar gewesen sei. Daneben seien eher regionale - viel mehr noch als pränationale - Teilidentitäten von Bedeutung gewesen. Mittelalterliche Geschichtsschreiber identifizierten sich in erster Linie über die Zugehörigkeit zu ihrem Bistum, dem Kloster oder einer ähnlichen Institution, deren wechselvolle Geschichte sie parteiisch und apologetisch verfolgten.

Mit einem ähnlichen Negativ-Befund eröffnete auch HARTMUT KUGLER, Erlangen ("Identifikationsmuster in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kartographie"), sein Referat. Die Suche nach kartographischen Identifikationsmustern von Europa, Nation oder anderen partialräumigen Einheiten finde im Reservoir der Mappa-mundi-Skizzen keine zureichende Angriffsfläche. Wie aber geschehe Identifikation durch räumlich-geographische Zuordnung? Hartmut Kugler fand Antworten in drei mittelalterlichen Welt- und Europakarten: in der Europakarte aus dem Liber Floridus des Lambert von Saint-Omer aus dem frühen 12. Jahrhundert (Genter Exemplar) sowie der ‚Romwegekarte' (um 1500) und der ‚Reichsstraßenkarte' (1501) des Nürnbergers Erhard Etzlaub. Die erste Karte sei ein Produkt einer vita contemplativa, ein Ideenbild und ein Versuch, eine systematisch durchgegliederte christliche Weltordnung zu imaginieren, der der Zeichner selbst angehörte; "Identifikation durch Zugehörigkeit" lautete die Formel, mit der Kugler diesen Umstand zu umschreiben versuchte. Mit "Identifikation durch Erreichbarkeit" brachte Kugler ein zweites Identifikationsmuster ins Spiel, mit dem die Überwindung mittelalterlicher Darstellungsprinzipen und die Durchsetzung der Regeln von Maß und Zahl und der Geometrie in den Karten des Nürnbergers Erhard Etzlaub begrifflich gefasst werden sollte.

Auch FOLKER REICHERT, Stuttgart ("Marco Polos Identitäten"), stieß in seiner Fallstudie zu den unterschiedlichen Teilidentitäten Marco Polos zunächst auf ähnliche Befunde wie Volker Scior. Drei Ebenen von Identität konnte Reichert ausmachen: Marco Polo sei zuallererst lateinischer Christ gewesen. Rom und die römische Kirche blieben immer die Mitte seiner christlichen Welt. Auf einer zweiten Ebene könne man Marco Polo im Kulturraum Nord- und Mittelitaliens verorten. Als Kriterium biete sich die Rezeptionsweite seines Reiseberichtes an, doch handele es sich hier um eine Fremdzuschreibung durch die Wissenschaft. Marco Polo habe sich selbst viel eher als sajes et noble citaiens de Venece gesehen. Verlassen wurden die typisch mittelalterlichen Bahnen, als Reichert im Hinblick auf Marco Polos Aufenthalt am mongolischen Hof diesen als ‚kulturellen Überläufer' vorstellte. Marco Polo sei keineswegs ein ‚merchant adventurer' gewesen, er habe am Mongolenhof wohl eher zu den simuren (‚Leute mit Sonderstatus') gezählt. Als solcher integrierte er sich in die mongolische Gesellschaft, orientierte sich kulturell nach oben zur Schicht der mongolischen Eroberer, übernahm Gebräuche und Stereotype und grenzte sich nach unten gegenüber den Chinesen ab, so dass man im Falle Marco Polos von einem ‚enkulturierten Mongolen' sprechen könne.

Phänomene der Enkulturation und der Wandel von europäischen Identitätsmustern in der außereuropäischen Fremde standen auch in dem ersten Vortrag zur frühen Neuzeit von RENATE DÜRR, Frankfurt ("Wechselseitiger Kulturtransfer: die europäische Debatte über den Jesuitenstaat in Paraguay"), im Vordergrund. Ausgangspunkt des Referates über das Verhältnis der Jesuiten zu den Guaranì in den Reduktionen von Paraguay (1609-1768) waren Ergebnisse der ‚postcolonial studies', die mit der traditionellen Sicht, wonach die Unterweisung der Indianer in den grundlegenden Werten der europäischen Kultur und des Christentums allein als ein einseitiger Werteexport verstanden wurde, brechen. Hieran anknüpfend stellte Dürr das Leben in den Reduktionen als Kompromiß zweier Kulturen dar: Indianer und Europäer veränderten sich Dürr zufolge in diesem Kulturkontakt. Die bisherigen Schwierigkeiten, dies zu erkennen, seien quellenbedingt. Die Berichte der Jesuiten folgten gattungsimmanenten Abfassungsregeln. In ihnen kämen nur die ‚expliziten' Dimensionen jesuitischer Identität im Expansionsprozeß, Produkt der ‚corporate identity' der Gesellschaft Jesu, zum Vorschein. Dürr sprach sich deswegen für eine Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Dimensionen jesuitischer Identität aus, was künftig neben der Text- auch eine Handlungs- und Strukturanalyse der Jesuitenquellen erfordere.

Im Hinblick auf das Tagungsthema betonte KLAUS GARBER, Osnabrück ("Die Geburt des nationalen Gedankens in der Krise des christlichen Europas"), in seinem Vortrag die Bedeutung der Frühen Neuzeit. Die Früheneuzeitforschung habe das Potential für eine Erneuerung der eingeschliffenen Diskurse und könne durch die Einführung von Theoremen, die sich gänzlich anders ausnähmen als die im 19. und 20. Jahrhundert geprägten, Bewegung in die Debatte bringen. Das antikegeleitete klassizistische Dichten der Frühen Neuzeit habe sichergestellt, dass Europa nicht nur im Lateinischen, sondern auch in den Nationalsprachen ein Form des Dichtens pflegte, die einen ständigen Transfer über die nationalen Grenzen hinweg erlaubte. Da die europäische Literatur jener Zeit intertextuell wie nie vorher und nie wieder nachher ausgerichtet gewesen sei, sei hier eine Dichte europäisch ausgerichteten kulturellen Handelns zu konstatieren, für die es keine anderweitige Parallele gäbe. Nicht nur das Neulateinische, sondern eben auch die auf der Antike fußenden modernen Nationalsprachen und Literaturen bildeten ungeachtet der linguistischen Differenzierung eine universale Koine, in der ein zukünftiges Europa ein kulturelles Unterpfand von seltener symbolischer Kraft besäße. Die Ausarbeitung einer frühneuzeitlichen Literaturgeschichte unter diesem Leitgedanken scheine daher ein Gebot der Stunde.

Auch PETER HANENBERG, Viseu/Portugal ("Die Entdeckung und Gestaltung europäischer Identität in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit"), verschaffte der Frühen Neuzeit und ihrer Literatur Aktualität durch Parallelisierung mit gegenwärtigen Trends und Entwicklungen. Hanenberg betonte die Fruchtbarkeit des Begriffes der ‚Europäisierung' nicht für eine genauere Beschreibung der Globalisierung, sondern auch für die Beschreibung literaturgeschichtlicher Phänomene der Frühen Neuzeit, die dem Globalisierungsprozess inhärent seien. In der frühneuzeitlichen Literatur sei eine ‚Europäisierung' an verschiedenen Stellen zu beobachten, dort nämlich, wo das Gemeinsame Europas und die Differenz zum Nicht-Europäischen nachhaltig erstmalig ins Bewusstsein träten. Ausgehend vom portugiesischen Nationaldichter Luís de Camões und seinen ‚Luisiaden' schlug Hanenberg einen literaturgeschichtlichen Bogen bis zu Lessings ‚Nathan der Weise', um Gemeinsamkeiten und Entwicklungsstufen der ‚Europäisierung' in der frühneuzeitlichen Literatur sichtbar zu machen. Bezeichnend sei das doppelte Gesicht der ersten literarischen Konstruktionen ‚europäischer Identität' in der Frühen Neuzeit: Die Wahrnehmung von Europas religiöser und politischer Zerrissenheit und Vielgestaltigkeit im Innern und dennoch, wie bei Camões, das Empfinden seiner weltpolitischen Rolle in der Verbreitung der ‚wahren' Religion und Kultur in die Welt.

Aus sprachhistorischer Perspektive beleuchtete ANDREAS GARDT, Kassel ("Volk und Nation - zur Begriffs- und Diskursgeschichte"), den frühneuzeitlichen Nationsgedanken. Dazu stellte Gardt das von ihm mitinitiierte enzyklopädische Wörterbuchprojekt "Sprachtheorie in Barock und Aufklärung" vor, um anhand der Lemmata ‚Nation/Volk' Methodenfragen, Auswahlkriterien, Funktion und Adressaten des Projektes zu diskutieren. Grundlage des Projektes sind ca. 880 Texte unterschiedlicher Textsorten vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts (rhetorische, sprachhistorische, sprachpflegerische und sprachdidaktische Texte, Poetiken, Enzyklopädien und Lexika), mit denen in dem kulturgeschichtlich ausgerichteten Wörterbuchprojekt eine historische Semantik aller erfassbaren sprachbezogenen Begriffe erstellt werden soll.

Frühneuzeitliche Akzente setze auch der Vortrag von KIRSTEN MAHLKE, Konstanz ("Nation und Mythos: Gallier als neue Franzosen im frühneuzeitlichen Frankreich"). Ihre Antwort auf die Frage nach dem französischen Nationsverständnis führte Mahlke über das Epochedatum des Jahres 1789 - für gewöhnlich untrennbar mit dem Begriff der Nation verbunden - zurück in das 16. Jahrhundert der gelehrten Juristen und damit in eine Zeit, in der in Frankreich das Recht als wissenschaftliche Disziplin erst methodisch entwickelt worden sei. Die Ausbildung der Fachdisziplin falle, so Mahlke, auffälligerweise zusammen mit einer Häufung historischer und poetischer Texte, die den Galliermythos zur Ursprungserzählung der französischen Nation oder des französischen Volkes umfunktionierten. Für das Aufleben des Galliermythos als Ursprungslegende der französischen Nation machte Mahlke Defizite der herkömmlichen Ursprungsmythen verantwortlich, die viele gesellschaftliche Gruppen wie etwa die bürgerlichen Juristen nicht einbezögen. Der selbst kreierte Galliermythos, in dem Druiden als die wahren Kulturbringer und Wertebewahrer und als würdige Urahnen der Rechtsgelehrten auftraten, schuf den Juristen Abhilfe und Frankreich eine Vorstellung von Nation lange vor der Revolution.

Nationale Identitätsstiftung geschieht nicht zuletzt durch Sprache. Auch JÜRGEN SCHIEWE, Greifswald ("Identitätskonstruktionen um 1800"), nahm diesen Gedanken als letzter Referent noch einmal auf, um nach dessen Fortleben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu fragen. Mit Leibniz, Campe und Arndt brachte Schiewe drei Personen ins Spiel, die eigene Akzente zu setzen wussten. Im Unterschied zu den bisher gebotenen frühneuzeitlichen Beispielen war es hier nicht die von Leibnitz als zu leichtgewichtig bewertete Dichtung, über die eine nationale Identität gestiftet werden sollte. Dies könne Leibnitz zufolge nur eine ‚deutsche' Wissenschaftssprache leisten. Schiewe plädierte in diesem Zusammenhang dafür, die Beziehung zwischen Sprachenwechsel und Austausch des Denkstils vergleichend für Europa nachzugehen und die Funktion von Wissenschaft als identitätsstiftendes Merkmal im Rahmen von Europäisierung, Nationalisierung und Reeuropäisierung bzw. Globalisierung intensiver zu betrachten. Verwiesen Leibniz und Campe noch auf Frankreich als großes Vorbild, so diagnostizierte Schiewe für Ernst Moritz Arndt eine gedankliche Kehrtwende: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei die Fortschrittsgläubigkeit Deutschlands an der Seite Frankreichs durch den Hass gegen andere Völker ersetzt worden, der bei Arndt zur notwendigen Bedingung der Möglichkeit wurde, eine Identität der Deutschen wieder herzustellen.

Eine intensive Schlussdiskussion fasste nicht nur die vielen wichtigen Ergebnisse des Symposiums, das aus Mitteln der Zentralen Forschungsförderung der Universität Kassel finanziert wurde, zusammen, sondern stellte auch Weichen für die Zukunft. Nach Meinung zahlreicher Teilnehmer erwies sich das Tagungsthema als außerordentlich tragfähig für eine weitere interdisziplinäre Zusammenarbeit. Über den Tagungsband hinaus, in dem die Referate bereits 2006 veröffentlicht werden sollen, sind deshalb weitergehende inhaltliche und institutionelle Vernetzungen und Kooperationen geplant und für einige Teilprojekte sogar bereits konkret vereinbart worden. Die Veranstalter wollen deshalb noch einmal ausdrücklich (auch über den Kreis der Tagungsteilnehmer hinaus) thematisch interessierte Wissenschaftler anderer Universitäten und weiterer Fächer (wie Ethnologie und Geographie) ermuntern, an der Programmatik orientierte Forschungsprojekte einzubringen und in einem möglichen Forschungsverbund mitzuwirken.

Kontakt

Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner
FB 05: Gesellschaftswissenschaften
Universität Kassel
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