Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel 1850-2000

Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel 1850-2000

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2005 - 14.10.2005
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Von
Susanne Hoffmann, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

"Diagnose: Mann?" - derzeit zeichnet Männer in modernen Industriegesellschaften eine ca. sechs Jahre kürzere Lebenserwartung als Frauen aus; ihre Mortalität übersteigt in nahezu allen Lebensaltern jene von Frauen. Zu einem interdisziplinären Workshop mit dem Thema "Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel 1850-2000" trafen sich zwischen dem 12. und 14. Oktober 2005 am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart rund 20 Nachwuchswissenschaftler und Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten (darunter Historiker, Mediziner, Soziologen, Psychologen, Psychotherapeuten sowie ein Ingenieur). Ziel der Tagung sollte sein, mögliche Erklärungsansätze der männlichen Übersterblichkeit zu diskutieren, eine Zwischenbilanz über den bisherigen Ertrag des jüngst florierenden Forschungsfeldes Männergesundheit zu ziehen, aber auch die eigene Agenda kritisch zu reflektieren. Der Schwerpunkt lag auf dem deutschsprachigen Raum.

Die Beiträge des Workshops eröffneten dem Zuhörer ein breites Spektrum an methodischen Zugangsweisen zum Thema Männergesundheit, die zudem häufig enge Disziplinengrenzen transzendierten: An die Seite quantitativer Forschungsansätze traten qualitative, auf Makroebene angesiedelte Untersuchungen erhielten ein Gegengewicht durch Mikrostudien mit kleinen Fallzahlen, neben die Analyse gesellschaftlicher Diskurse trat die subjektorienterte Auswertung von Selbstzeugnissen, schließlich ergänzten salutogenetisch orientierte Betrachtungen gesundheitlicher Ressourcenpotentiale die pathogenetische Risikoperspektive. Ansätze eines geschlechtervergleichenden Vorgehens kennzeichneten mehrere Tagungsbeiträge, jedoch wurden diese nur selten systematisch eingesetzt; auch das Geschlechterverhältnis in seiner relationalen Dimension fand als analytisches Instrument bisher nur spärlich Berücksichtigung.

In seinem Einleitungsreferat bot MARTIN DINGES (Stuttgart) einen Überblick über den aktuellen Stand der männerspezifischen Gesundheitsforschung. In diesem Zusammenhang konstatierte er eine erfreulich rege Forschungsaktivität in den Bereichen Biomedizin, Gesundheitswissenschaft und Epidemiologie, formulierte jedoch als ein Desiderat die stärkere Integration einer historischen Perspektive. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas Männergesundheit zeichne sich aktuell durch drei Paradigmenverschiebungen aus, so Dinges Bezug nehmend auf Toni Faltermaier: von biomedizinischen hin zu bio-psycho-sozialen Erklärungsmodellen, von einer risiko-orientierten hin zu einer salutogenetischen Sichtweise sowie durch eine zunehmende Überwindung dichotomer gender-Konzeptionen. Am Beispiel der Nutzung des medizinischen Angebots durch Männer und Frauen seit dem 16. Jahrhundert (welches sich bis ins 19. Jahrhundert, im Gegensatz zu heute, relativ ausgeglichen gestaltete) veranschaulichte Dinges, inwiefern historische Beiträge, durch das Aufzeigen alternativer Handlungs- und Argumentationsweisen, die aktuelle gesundheitspolitische Debatte bereichern könnten.

Die Frage, wie der jeweilige Erkenntnisbeitrag biologischer (bzw. genetischer oder gehirnphysiologischer) und sozio-kultureller Erklärungsansätze für den Wandel des Gesundheitszustandes und -verhaltens von Männern einzuschätzen sei, zog sich wie eine roter Faden durch die Diskussionen beider Sitzungstage - eine Beobachtung, die PHILIPP OSTEN (Stuttgart) in seinen Abschlussthesen herausstellte. Eine abschließende Antwort auf diese Frage konnte freilich auch in Stuttgart nicht erarbeitet werden. Gelänge es jedoch, die Interaktion und Veränderbarkeit beider Faktoren stärker zu betonen, so die Überlegungen einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops, dann stellte dies eine Chance für gesundheitspolitische Interventionsmöglichkeiten sowie für kulturwissenschaftlich orientierte Forschungsprojekte dar. Als ein weiterer regelmäßiger Anknüpfungspunkt für Debatten erwies sich die gesellschaftliche Reichweite bzw. Relevanz der identifizierten gesundheitsrelevanten Aspekte von Männlichkeit im Hinblick auf die jeweiligen historischen Abschnitte. Viele Nachfragen bezogen sich darauf. Die Rede von "Männlichkeiten und Gesundheit" im Plural, so eine unausgesprochene Bilanz der Veranstaltung, wäre daher dem Tagungsgegenstand möglicherweise eher angemessen.

Seinen thematischen Einstieg nahm der Workshop in der ersten Sektion mit einem historisch-demographischen Überblick über die Geschichte der geringeren Lebenserwartung von Männern: In kritischer Auseinandersetzung mit einer schwedischen Fallstudie zum 19. Jahrhundert plädierte der Historiker ANDREAS WEIGL (Wien) einleitend, unter Verweis auf die Kontinuität männlicher Übersterblichkeit zwischen vor-industriellem und industriellem Schweden, für eine stärkere Berücksichtigung biologisch-genetischer Faktoren bei der Erklärung der männlichen Übersterblichkeit.

Aufgegriffen wurde dieser Punkt in dem daran anschließenden Vortrag VOLKER HANDKEs (Berlin), einem Ingenieur des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, der verschiedene, in der Literatur diskutierte, Erklärungsansätze der kürzeren Lebenserwartung von Männern erörterte. Handke interpretierte Studien zur geschlechtsspezifischen Lebenserwartung von Klosterpopulationen dahingehend, dass biologische Gegebenheiten maximal ein bis zwei Jahre der erhöhten Mortalität von Männern erklären könnten. Er forderte aus diesem Anlass zu einer multikausalen und transdisziplinären Modellbildung auf.

Eine höhere Sterblichkeit neugeborener Jungen konnte auch der Historiker ALOIS UNTERKIRCHER (Innsbruck) im Zuge seiner geschlechtervergleichenden Auswertung der Sterbebücher zweier Südtiroler Täler beobachten. Er setzte diese Angaben in Bezug zu Behandlungsdaten in den Praxisjournalen des Südtiroler Arztes Franz von Ottenthal (1818-1899). Während einerseits fest stehe, dass Ottenthal im ersten Lebensjahr mehr Jungen als Mädchen behandelt habe, machte Unterkircher auf die Schwierigkeiten aufmerksam, diesen Umstand zu interpretieren. Der Einfluss sozio-kulturell geprägter Verhaltensweisen (etwa Unterschiede in der Bereitschaft Säuglinge ärztlich behandeln zu lassen je nach Geschlecht oder Stellung in der Generationenfolge) müsse erst in weiteren Detailstudien geklärt werden.

In ihrem kritischen Kommentar wies SYLVIA SCHRAUT (Mannheim) als Sektionsleiterin auf die methodischen Probleme bei der Auswertung aggregierter Daten hin. Denn neben die zeitgenössischen Motive, die historischer Statistiken beeinflussten, würden in der Interpretation solcher Zahlen stets aktuelle Motive treten.

Die beiden Nachmittagssektionen des ersten Tages widmeten sich historischen und aktuellen Aspekten der Andrologie. Dem Zuhörer eröffnete sich dabei die Möglichkeit, die diskursiven Konjunkturen medizinischer und humanwissenschaftlicher Deutungsangebote des männlichen Körpers über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren nachzuvollziehen. Methodisch verband alle fünf Beiträge ein konstruktivistischer Zugriff auf das Thema Männergesundheit, aus wissenschaftsgeschichtlicher bzw. wissenssoziologischer Perspektive.

Die Historikerin CHRISTINA BENNINGHAUS (Bielefeld) führte anhand normativer Quellen in den praktischen Umgang mit dem neu entdeckten - gynäkologischen - Problem der Sterilität des Mannes im ausgehenden 19. Jahrhundert ein. Objektiv diagnostiziert werden konnte diese mittels einer mikroskopischen Samenanalyse (lediglich vor dem Rat zur Masturbation zum Zwecke der Gewinnung des Untersuchungsmaterials schreckten die Ärzte zurück). Da eine Therapie für sterile Männer seinerzeit noch nicht existierte, die Vorstellung eines inhärent virilen Spermas jedoch an Bedeutung gewann, bot sich laut Benninghaus für die betroffenen Männer einzig die "mannhafte Akzeptanz der Kinderlosigkeit" als Weg, um die bedrohte Männlichkeit abzusichern.

Die lange Vorgeschichte der gegen Ende des 19. Jahrhunderts (erneut) aufgegriffen Idee eines männlichen Klimakteriums zeichnete der Medizinhistoriker MICHAEL STOLBERG (Würzburg) in seiner Präsentation nach. Die Vorstellung periodisch wiederkehrender "klimakterischer" Jahre sei demnach seit der Antike, speziell im 16. und 17. Jahrhundert, weit verbreitet gewesen, und erst im 18. Jahrhundert in Vergessenheit geraten. Eine eindeutige geschlechtsspezifische Zuordnung habe dabei jedoch nicht stattgefunden. Als eine medizinihistorische Besonderheit stellte Stolberg den Umstand heraus, dass bei der Neu-Konzeptualisierung einer "klimakterischen Krankheit" des Mannes im 19. Jahrhundert die Veränderungen des weiblichen Körpers als Maßstab gedient hätten. Auf Grund dieser Nähe zum Weiblichen dürfte es sich bei dem männlichen Klimakterium jedoch um ein für Männer relativ unvorteilhaftes medizinisches Deutungsangebot ihres Körpers, mit entsprechend geringer Anziehungskraft, gehandelt haben - ein Punkt der in der Diskussion mehrfach angemerkt wurde.

Im chronologischen Anschluss an Stolbergs Beobachtungen verfolgte der Historiker HANS-GEORG HOFER (Freiburg) den ärztlichen Diskurs um die männlichen Wechseljahre inklusive seiner Bedeutungsverschiebungen und Brüche im 20. Jahrhundert weiter. Endokrinologische Erklärungsansätze des männlichen Alterns, die man in den 1920er und 1930er Jahren mit Nachdruck untersucht habe, seien in den folgenden 50 Jahren in Vergessenheit geraten, um in den 1990er Jahren vom medialen und medizinischen Diskurs erneut aufgegriffen zu werden. Hofer stellte die These zur Debatte, dass die Stoßrichtung der heutigen Andrologie in der Umkehrung männlicher Alterungsprozesse liege, womit sie das Konzept einer "hegemonialen Männlichkeit" (Connell) stütze.

Den letzten Punkt Hofers griff TORSTEN WÖLLMANN (Dortmund) auf, der sich mit der Andrologie in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren in wissenssoziologischer Perspektive auseinander setzte. Die Andrologie leiste, so die zentrale These Wöllmanns, mit der Medikalisierung des männlichen Körpers (die auf kulturell idealisierten Aspekten von Männlichkeit aufbaue) die Übersetzung des Systems der Zweigeschlechtlichkeit in die Medizin und damit einen Beitrag zur Bestandssicherung der männlichen Hegemonie. In der Diskussion artikulierten mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihr Unbehagen gegenüber der stark somatisch und an den männlichen Reproduktionsorganen ausgerichteten Perspektive der Andrologie.

Zur Selbstreflexion regten schließlich MICHAEL MEUSERs (Köln) Anmerkungen über den Defizit- und Opferdiskurs in der derzeitigen Männergesundheitsforschung an. Dieser pathologisiere den männlichen Körper und männliche Verhaltensweisen, Frauen dienten dabei als die idealisierte Norm. Meuser (wie im Übrigen auch Wöllmann) interpretierte die aktuellen Debatte um die Männergesundheit ferner als Produkt einer gegenwärtig stattfindenden Transformation der Geschlechterordnung. Die Impulse Meusers wurden in einer regen Diskussion aufgegriffen. Die Differenz zwischen gesundheitswissenschaftlicher und -politischer Rhethorik einerseits und dem Alltagshandeln von Männern anderseits kam dabei mehrmals zur Sprache, auch wurden Stimmen nach einer inhaltlichen Weiterentwicklung des Männergesundheitsdiskurses weg von der Opferperspektive laut, wie sie die Frauenforschung seit längerem vollzogen habe.

Der zweite Tag des Workshops war dem Gesundheits- und Krankheitsverhalten von Männern in spezifischen alters- oder krankheitsbedingten Lebensphasen gewidmet. Subjektorientierte Zugangsweisen, und damit gesundheitsbezogene Selbstdeutungen von Männern, nahmen dabei einen breiteren Raum ein, als dies am Vortag der Fall war.

In den Referaten der ersten Sektion standen Männer im jungen und mittleren Lebensalter im Mittelpunkt. Die Historikerin SONJA LEVSEN (Tübingen) erörterte den Wandel studentischer Männlichkeitsideale vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Tübingen und Cambridge. Sie arbeitete die veränderte Einstellung deutscher Studenten nach 1918 heraus. Denn während der wilhelminische Student die eigene Männlichkeit noch primär beim Mensurfechten sowie dem gemeinsamen exzessiven Trinken zu beweisen hatte, fand dies in späteren Jahren (in Anlehnung an den Gesundheitsdiskurs der völkischen Jugendbewegung) im Rahmen sportlicher Körperertüchtigung statt. Levsens Vortrag verdeutlichte damit nicht nur die enge Verbindung der Kategorien Geschlecht und Nation, so Michael Meuser in seinem Kommentar, sondern auch, im Sinne Pierre Bourdieus, die Funktion des Wettbewerbs für die Herstellung männlicher Gemeinschaft.

NICOLE SCHWEIG (Stuttgart) stellte daraufhin ihre exemplarische Fallstudie zum Gesundheitsverhalten zweier Männer aus der Oberschicht anhand privater Briefwechsel zwischen 1840 und 1950 vor. Für das Gesundheitsverständnis beider Männer habe die Arbeitsfähigkeit eine zentrale Rolle gespielt; zudem instrumentalisierten sie jeweils ihr Schreiben über Gesundheit kommunikativ. Doch während sich das Gesundheitshandeln Werner von Siemens' (1816-1892) durch Umsicht und Verantwortung ausgezeichnet habe, habe der jüngere Otto von Zwiedinick-Südenhorst (1871-1957) demonstrativ Härte gegenüber dem eigenen Körper zur Schau gestellt. Einen Einfluss des Familienstandes auf das Gesundheitsverhalten der Männer (beide waren zweimal verheiratet) konnte Schweig jedoch nicht beobachten. In der Diskussion rief die Verbindung von Körperlichkeit und Beziehungsfähigkeit in den Briefwechseln großes Interesse hervor, insbesondere der Hamburger Psychotherapeut Reinhard Lindner machte darauf aufmerksam.

In seinem Vortrag über geschlechtsspezifische Differenzen bei der gesellschaftlichen Sanktionierung des Alkoholkonsums im Deutschen Kaiserreich griff der Historiker HASSO SPODE (Berlin) den (bereits in den Beiträgen von Weigl und Levsen angesprochenen) Aspekt einer engen Verbindung von Männlichkeit und Alkoholkonsum erneut auf. Um 1900 habe eine diskursive Umdeutung des Alkohols vom Nahrungs- zum Genussmittel stattgefunden, die mit einer Pathologisierung des männlichen Vieltrinkens einhergegangen sei. Vor diesem Hintergrund entwickelte Spode seine These einer gesellschaftlichen Ungleichbehandlung des Alkoholkonsums von Männern und Frauen, die er als "nahezu ubiquitäre" kulturelle Überreaktion auf biologische geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Alkoholverarbeitung interpretierte. Unklarheit im Plenum löste zunächst die vermeintliche Diskrepanz zwischen zeitgenössischem und heutigem Wissen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Verarbeitungsweisen von Alkohol aus, die jedoch mit dem Konzept eines alltagsweltlichen Erfahrungswissens beseitigt werden konnte.

Gesundheitsverhalten und Präventionsmöglichkeiten von Männern im mittleren und hohen Lebensalter waren das Thema der fünften Sektion des Workshops. Alle drei Referate untermauerten den zentralen Stellenwert der Arbeit für das Gesundheitshandeln von Männern, der sich bereits in Schweigs Beitrag angedeutet hatte. Zu Recht mahnte Gabriela Imboden in diesem Zusammenhang an, Arbeit nicht unreflektiert mit Erwerbsarbeit gleich zu setzten, da auch andere Formen der Arbeit (z.B. Familienarbeit) zu bedenken seien. Pessimistisch interpretierte Andreas Weigl die männliche Arbeitsorientierung in seinem Kommentar, da sie ein Hemmnis für gesundheitspolitische Präventionsmaßnahmen darstelle - eine Bewertung die von den anderen kontrovers aufgenommen wurde.

Den thematischen Einstieg in die Sektion machte SUSANNE HOFFMANN (Stuttgart). Auf der Basis fünf unveröffentlichter Lebensgeschichten aus dem Bereich der popularen Autobiographik ging es um die Bedeutung der Erwerbsarbeit als Risiko und Ressource für die physische und psychische Gesundheit arbeitender Männer zwischen 1910 und 1990. Eine salutogenetische Herangehensweise bildete den Rahmen für Hoffmanns historische Analyse. Deutlich herausgearbeitet werden konnte, dass Männer in ihren Selbstdeutungen einer entsprechend gestalteten Arbeitstätigkeit durchaus ein gesundheitsförderndes Potenzial beimessen.

Ebenfalls an salutogenetischen Prozessen interessiert zeigte sich der Gesundheitspsychologe TONI FALTERMAIER (Flensburg). In seiner Präsentation führte er die These aus, dass Männer im mittleren Lebensalter besonders empfänglich für gesundheitsfördernde Maßnahmen seien. Denn in dieser Lebensphase böten häufig Umbrüche in den zentralen, gesundheitsrelevanten Bereichen männlicher Identität (Stärke, Berufsarbeit, Körper und familiäre Beziehungen) Anlass zur verstärkten Selbstreflexion. Hieran könnte die Gesundheitsprävention produktiv anknüpfen, indem sie realistische Handlungsalternativen aufzeige. Mehrere Wortmeldungen bezogen sich auf das vermeintlich ausgeprägtere "instrumentuelle" Körperverständnis von Männern: nicht nur der Begriff, auch seine starke geschlechsspezifische Polarisierung wurde problematisiert.

Um Demographie, Epidemiologie und Krankheitsverhalten alter, d.h. über 55-jähriger, männlicher Patienten, der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, ging es in dem Vortrag von SIMONE MOSES (Stuttgart). Bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes habe deren Anteil an der Gesamtpatientenschaft stetig zugenommen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer immer breitere Bevölkerungskreise umfassenden Sozialversicherung. Einen Einfluss des Familienstandes auf die Einweisungpraxis konnte auch Moses nicht beobachten - alte Männer wurden also keineswegs ins Krankenhaus "abgeschoben". Vielmehr erhofften sich viele von ihrem Klinikaufentalt eine baldmögliche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.

Die Frage, ob psychische Krankheiten besonders unmännlich seien, stellte schließlich das Rahmenthema der sechsten und letzten Sektion der Tagung dar. Der Historiker JÜRGEN SCHMIDT (Berlin) verglich die Autobiographien von Arbeitern und Bürgern aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Bei der Rezeption des Neurasthenie-Diskurses, der Eingang hauptsächlich in die Texte bürgerlicher Autoren, allenfalls noch in die der Arbeiterführer fand, zeigten sich klassenspezifische Unterschiede. Die Darstellung psychischer Krankheit konnte dabei eingesetzt werden, so die Interpretation Schmidts, um hegemoniale Männlichkeitsentwürfe autobiographisch abzustützen. Daneben konnte auch die heroische Überwindung psychischer Leiden - durch Härte und Disziplin - der kommunikativen Ausgestaltung von Männlichkeit dienen.

Vergleichbare Schlüsse zog GABRIELA IMBODEN (Basel) hinsichtlich der Kastrationspraxis rückfälliger Sexualstraftätern in der Schweiz zwischen 1930 und 1960, die die Historikerin auf Grundlage medizinischer und rechtlicher Diskurse beleuchtete. Die Männlichkeit der Betroffenen (die oftmals als "infantil" bezeichnet wurden) sollte mittels der Entmannung wieder hergestellt werden. Sie sollte die Männer dazu befähigen, die (sozial erwünschte) Kontrolle über den eigenen Geschlechtstrieb wieder zu erlangen. In der Diskussion kam kritisch zur Sprache, dass die Kastration im Grunde nicht auf Selbstkontrolle abgezielt, sie insofern nicht der Wiederherstellung von Männlichkeit gedient haben könne. Auch hätten Sexualstraftäter eine marginale Form der Männlichkeit repräsentiert. Daher kam der Vorschlag auf, den Diskurs unter den Aspekten seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit und Funktionalität zu betrachten.

Die "Unmännlichkeit" der Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft spielte für den medialen und medizinischen Diskurs der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle, so CHRISTIANE WINKLER (London). Dieser Mangel an Mannsein habe sich für die Zeitgenossen, neben der körperlichen Schwäche, nicht zuletzt in psychischen Veränderungen manifestiert (etwa Inaktivität, Depressivität oder Unselbstständigkeit). Die negative Wahrnehmung der Heimkehrer sei zudem verschärft worden durch den Kontrast mit dem Bild der aktiven Frau, die den familiären Nachkriegsalltag tatkräftig organisiert habe. Die externen Zuschreibungen an diese Gruppe von Männern stellte Winkler (zusammen mit der gemeinsamen prägenden Erfahrung und der Existenz einer internen Gruppendidentität) als einen Baustein für die Konzeptualisierung der Heimkehrer als eine distinkte historische Generation zu Debatte.

Den Hintergrund des letzten Vortrages dieses Tages bildete die statistisch beobachtbare, deutlich erhöhte und mit steigendem Alter zunehmende Suizidalität von Männern. Der Psychiater und Psychotherapeut REINHARD LINDNER (Hamburg) stellte ein Modell mit vier Idealtypen suizidaler Männer vor, welches er im Rahmen eines qualitativen Forschungsansatz entwickelt hatte. Er hob dabei die Rolle frühkindlicher Trennungs- und Ablehnungserfahrungen für die suizidale Dynamik hervor, welche sich bei Jungen und Mädchen entwicklungspsychologisch unterschiedlich gestalteten und sich im psychotherapeutischen Behandlungsgeschehen wiederholten. Dem konkreten Verlust der ökonomischen oder beruflichen Unabhängigkeit komme daher bei der Selbsttötung von Männern eine eher untergeordnete Bedeutung bei - eine These die im Plenum mit Interesse aufgenommen wurde.

Eine abschließende Therapie angesichts der "Diagnose: Mann", wollte man eine Bilanz der beiden Tage ziehen, wurde auch im Rahmen des Stuttgarter Workshops nicht gefunden. Die zahlreichen Diskussionen in angenehmer, produktiver und wohlorganisierter Arbeitsatmosphäre leisteten vielmehr einen Beitrag zur Weiterentwicklung individueller und kollektiver Fragestellungen zur Gesundheit von Männern. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist für das Jahr 2007, als Beiheft zur Zeitschrift Medizin, Gesellschaft und Geschichte, geplant.


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