Die Judenvernichtung in den in das Dritte Reich eingegliederten polnischen Gebieten während des Zweiten Weltkriegs

Die Judenvernichtung in den in das Dritte Reich eingegliederten polnischen Gebieten während des Zweiten Weltkriegs

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Warschau; Institut des Nationalen Gedenkens, Polen
Ort
Kattowitz, Polen
Land
Poland
Vom - Bis
15.09.2005 - 17.09.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexa Stiller, Historisches Seminar, Universität Hannover

Die Tagung in Katowice hatte sich zum Ziel gesetzt, die Besonderheiten der Verfolgung und Ermordung der polnischen Juden in den nach dem Polenfeldzug 1939 vom deutschen Reich annektierten westpolnischen Gebieten herauszuarbeiten. Diese „eingegliederten Ostgebiete“ umfassten die neuen Reichsgaue Danzig-Westpreußen und das Wartheland, den Regierungsbezirk Zichenau, der an Ostpreußen angegliedert und Ost-Oberschlesien, welches zu Schlesien geschlagen wurde. Dort galt die Reichsmark, ein Großteil der reichsdeutschen Gesetze (so auch die Nürnberger Gesetze), das deutsche Verwaltungssystem (wenn auch in einer etwas modifizierten Form) und im August 1941 wurde sogar die Polizeigrenze aufgehoben. Dass die annektierten westpolnischen Gebiete nicht nur Ort der Genese des Holocaust, sondern ebenfalls Ort der Tat waren, wird oftmals übersehen. Die Vernichtungslager Auschwitz und Kulmhof befanden sich auf dem vom Deutschen Reich annektierten Territorium.

Die internationale Konferenz in Kattowitz knüpfte an die ebenfalls vom Deutschen Historischen Institut (DHI) im November 2002 organisierte Tagung zur ‘Aktion Reinhardt’ und dem Völkermord an den Juden im Generalgouvernement an.1 Organisiert wurde sie vom Deutschen Historischen Institut (DHI) Warschau in Zusammenarbeit mit dem Institut des Nationalen Gedenkens (IPN), unter dessen Dach nach wie vor die Hauptkommission für Ahndung von Verbrechen gegen die polnische Nation Ermittlungen gegen NS-Täter betreibt. Die beiden Institute haben sich zum Ziel gesetzt, die deutsch-polnischen Beziehungen zu stärken, indem besonders die Jahre 1939-1945 gemeinsam erforscht werden und arbeiten schon seit längerem in diversen Projekten zusammen.2

Das erste Panel zur “Rolle der eingegliederten Gebiete bei der Entschlussbildung zur Judenvernichtung” eröffnete Peter Longerich (London) mit einem Überblick über kontroverse Forschungsansätze und zukünftige Forschungstendenzen. Longerich diskutierte die beiden derzeitigen großen Kontroversen: Erstens die Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie hinsichtlich der Frage, wo die Initiative zum Massenmord entstand und zweitens die Frage nach der Motivation der Täter, ob die rassistische Ideologie oder ein rationales Kalkül vorherrschend war. Longerich verdeutlichte, dass sich bei beiden Fragestellungen diese scheinbar konträren Aspekte nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr plädierte er für ein dialektisches Herangehen bei kommenden Analysen. Der vermeintliche Widerspruch sei dabei der geeignete Ansatzpunkt. Die beiden folgenden Referate beschäftigten sich mit dem Versuch durch Vergleiche zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Jacek Młynarczyk (Warszawa) regte einen Vergleich der Rollen Arthur Greisers und Odilo Globocniks bei der Entscheidung zur Umsetzung der „Endlösung“ an. Ryszard Kaczmarek (Katowice) hingegen schlug einen Vergleich der vom Deutschen Reich während des Zweiten Weltkrieges annektierten Gebiete vor. Fokussiert auf die Situation der jüdischen Bevölkerung skizzierte er die Deportationspraxis im Elsass, Lothringen, Luxemburg und den polnischen Westgebieten.

Jochen Böhler (Warszawa) hielt den ersten Vortrag des zweiten Panels “Von der Entrechtung zur Vernichtung” und setzte sich mit der Rolle der Militärverwaltung in den ersten paar Wochen nach Kriegsbeginn auseinander. Er hob insbesondere antisemitische Übergriffe deutscher Soldaten und deren Beteiligung an Erschießungen hervor, sowie die Tatsache, dass Juden und Polen bereits von Beginn der Besatzung an unterschiedlich behandelt wurden. Jan Grabowski (Ottawa) und Michael Alberti (München) befassten sich mit der Verfolgung der Juden in jeweils einem der vier Teile der “eingegliederten Ostgebiete”. Grabowski rekonstruierte drei Phasen der Verfolgungspraxis im Regierungsbezirk Zichenau: Nach der Abschiebung folgte die Ghettoisierung, die in die Deportation der Juden in die Vernichtungslager ins Generalgouvernement mündete. Die Verfolgung der polnischen Juden im “Warthegau” lief ähnlich ab. Alberti beschrieb die Geschehnisse von den ersten Erschießungen in der Anfangszeit der Besatzung über die Entrechtung, Ghettoisierung und Zwangsarbeit bis hin zum Massenmord im Vernichtungslager Kulmhof. Er konstatierte ein Spannungsverhältnis zwischen Wehrmachtsinteressen und kriegswichtigen Bau- und Arbeitsmaßnahmen sowie der antisemitischen Ideologie. Eine entscheidende Rolle spielte Albertis Meinung nach Arthur Greiser, der Reichsstatthalter und Gauleiter des Warthelandes, der den Massenmord zwar in Gang setzte, dies aber nicht ohne Himmlers Einwilligung tat. Greiser, so Alberti, verfolgte vor allem ein ökonomisches Kalkül, was dazu führte, dass im Wartheland vorerst die arbeitsfähigen Juden verschont wurden, um sie weiterhin ausbeuten zu können. Ebenfalls von einer weit reichenden Einigkeit der politischen Ziele im Wartheland – Entjudung, Entpolonisierung und Eindeutschung – zwischen der Zivilverwaltung und dem Höheren SS- und Polizeiführer sowie dem Inspekteur der Sicherheitspolizei – sprach Klaus-Michael Mallmann (Ludwigsburg). In seinem Referat über “die Stapo Litzmannstadt und die Shoa” betrachtete er den Wechsel in der Leitung der Stapoleitstelle im April 1942. Mit der Berufung Bradfischs positionierte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, einen Mann im Wartheland, der sich bei der “Endlösung” als Führer eines Einsatzkommandos der Einsatzgruppe B in der Sowjetunion “bewährt” hatte. Damit werde deutlich, so Mallmann, dass die Konfliktlinien – auch im Bereich der Vernichtungspolitik – im Wartheland nicht innerhalb der Gauverwaltung, sondern zwischen Gau- und Reichsinstanzen bzw. konkret dem Reichssicherheitshauptamt verliefen.

Den Auftakt für das dritte Panel am zweiten Tagungstag zum Thema “Vernichtungs- und Konzentrationslager in den eingegliederten Ostgebieten” machte Peter Klein (Berlin) mit einem Vortrag über “Kulmhof und Pabianice”. Klein analysierte Abrechnungen, die “Hinweise auf die Planung und die Verantwortung für ein Vernichtungs- und Verwertungslager im Reichsgau Wartheland” liefern. Anhand von Dokumenten bewies er die Existenz eines Sonderkontos zur “Endlösung der Judenfrage”. Dies wurde nicht vom Reichssicherheitshauptamt oder den wartheländischen SS- oder SD-Instanzen geführt, sondern erstaunlicherweise von der Ghettoverwaltung im Auftrag der Abteilung I (Allgemeine und Innere Verwaltung) der Reichsstatthalterei. Daraus schließt Klein, dass auch die Leitung des Massenmords im Warthegau in den Händen der Verwaltung lag, das heißt letztendlich in Greisers Verantwortung. Somit könne gesagt werden, dass die Initiative für die Einrichtung des Vernichtungslagers Kulmhof vor Ort entsprang. Einschränkend nimmt aber auch Klein an, dass die Legitimation ex post aus Berlin eingeholt wurde. Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau beschrieb Wacław Długoborski (Katowice). Er hob hervor, dass es auch in Oberschlesien unterschiedliche Ansichten über die Durchführung der „Endlösung“ gab: Die Gauverwaltung wollte zunächst die Arbeitskraft der Juden ausnutzen, während der „Eichmann-Apparat“ zielstrebig an der Vernichtung der europäischen Juden arbeitete. Anna Ziółkowska (Żadikowo) referierte über die wenig bekannten “Zwangsarbeitslager für Juden im Warthegau”. Neben Juden aus dem Wartheland mussten Juden aus Deutschland, Tschechien und Luxemburg am Wiederaufbau der Infrastruktur des Warthelands arbeiten. Im Auftrag der Reichsstatthalterei bauten sie Wasserwege, Bahnstrecken und die Reichsautobahn aus. Interessant waren ihre Ausführungen über die Bewachung der Lager: Die Wachmannschaften stellte nicht der Polizei- und SS-Apparat, sondern eine Privatfirma namens "Wach- und Schließgesellschaft". Im August 1943 wurden diese Arbeitslager liquidiert und die Verbliebenen nach Auschwitz deportiert. “Die Judenvernichtung im Konzentrationslager Stutthof” behandelte Danuta Drywa (Sztutowo) in ihrem Vortag. Drywa hob Albert Forsters (Reichsstatthalter und Gauleiter des Reichsgaues Danzig-Westpreußen) antisemitische Einstellung hervor und legte dar, dass sich die Morde an den Juden in Stutthof auf zwei Zeiträume konzentrierten: die Anfangsphase des Lagers und die Endphase, wo Gaskammern in Stutthof gebaut und eingesetzt wurden. Insgesamt wird die Zahl der im Lager Stutthof umgekommenen Juden auf 63.000-65.000 geschätzt.

Das vierte Panel stellte die jüdischen Reaktionen in den Mittelpunkt. Dan Michman (Jerusalem) ging in seinem Vortrag der Frage nach, ob die Judenräte, die Ghettos und die Ermordung der Juden “drei aufeinander bezogene oder getrennte Bestandteile der antijüdischen Politik” gewesen sind. Michman widerlegte die intentionalistische These des kausalen Zusammenhangs und kam zu dem Schluss, dass sowohl die Judenräte als auch die Ghettos als reine Instrumente der Politik zu betrachten sind und damit nicht als notwendige Voraussetzungen für die Entscheidung zur “Endlösung” gewertet werden können. Julian Baranowski (Łódź) unternahm den Versuch einer Einschätzung von Chaim Mordechaj Rumkowski. Er diskutierte die kontroversen Standpunkte, die den Vorsitzenden des Judenrats des Ghetto Łódź entweder als Retter oder als Kollaborateur sehen. Der Vortrag von Aleksandra Namysło (Katowice) über den “Einfluss der Leitung der Zentrale der Jüdischen Ältestenräte Ostoberschlesiens auf das Verhalten der jüdischen Bevölkerung angesichts der Vernichtung” brachte neue Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Rumkowski und Moshe Merin, dem Leiter der Zentrale der jüdischen Ältestenräte in Ostoberschlesien, wie auch zwischen Merin und der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland im Herbst 1941 ans Licht. Sara Bender (Haifa) widerlegte in ihrem Beitrag den Mythos des Białystoker Ghettoaufstandes. Der so genannte Aufstand ist ihrer Analyse nach nicht als solcher zu werten, denn die Untergrundorganisation wurde mit der Liquidation des Lagers überrascht, so dass sie zu keiner bewaffneten Operation in der Lage war. Damit kommt sie zu dem Ergebnis, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto ein singuläres Ereignis war.

Das abschließende Panel am dritten Tag behandelte “Reaktionen und Strafverfolgung”. Es wurde von Dorota Siepracka (Łódź) mit einem Beitrag über “die Einstellung der christlichen Bevölkerung des ‘Warthegaus’ zur Judenvernichtung” eingeleitet. Das Verhalten zu den Juden variierte von Unterstützungsleistungen, wie zum Beispiel dem Zustecken von Nahrungsmitteln, bis hin zur Gewalt gegen Juden. Zudem "verbündeten" sich gelegentlich Polen und “Volksdeutsche” gegen Juden. Ihr Fazit ist, dass die polnische Bevölkerung im Wartheland nicht ausdrücklich antisemitisch war. Zu einem etwas anderen Ergebnis kommt hingegen Dariusz Libionka (Lublin). Er referierte über die “Haltung des polnischen Untergrundstaates” gegenüber der Ermordung der Juden und erörterte die Frage, wieso die Untergrundpresse erst am 1. März 1943 ausführlich über die Vergasungen in Kulmhof berichtete, obwohl die vollen Ausmaße der Ermordungen bereits ein Jahr zuvor bekannt waren. Technische Gründe der Informationsübermittlung spielten dabei keine Rolle, viel eher nahmen Verbrechen, die gegen Juden begangen wurden, generell nicht den gleichen Raum in der Berichterstattung ein wie die Verbrechen gegen Polen. Zudem sei aus den Dokumenten eine weitgehende Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Juden herauszulesen; es gab Stimmen in der Untergrundpresse, die die Juden als Feinde der Polen betrachteten. Auch der folgende Vortrag ging der Frage nach, wie auf die Nachrichten von der Vernichtung der Juden reagiert wurde. Gerhard L. Weinberg (Chapel Hill) behandelte die Reaktionen der Alliierten. Zwischen Sommer 1941 und Sommer 1942 erfuhren alle Alliierten nacheinander von dem Ausmaß des Völkermords. Detailliert beschrieb er die Gründe, die ein militärisches Eingreifen zu einem früheren Zeitpunkt unmöglich machten. Die beiden letzten Beiträge widmeten sich der Strafverfolgung. Zwei Staatsanwälte berichteten aus der Praxis der Verfolgung von NS-Tätern und zogen ein Resümee der Ahndung von NS-Verbrechen in Deutschland und Polen. Joachim Riedel (Ludwigsburg) betrachtete die Strafverfolgung in Deutschland in Hinblick auf die Judenvernichtung in den “eingegliederten Ostgebieten”. Er hob besonders die Zusammenarbeit zwischen der “Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen” in Ludwigsburg und der polnischen “Hauptkommission für Ahndung von Verbrechen gegen die polnische Nation” in Warschau hervor, ohne deren Dokumente oftmals in Deutschland keine Ermittlungsverfahren aufgrund von Beweismangel möglich gewesen wären. Witold Kulesza (Warszawa), Direktor der Hauptkommission, beschrieb die justizielle Verfolgung der Kriegsverbrecher vor polnischen Gerichten. Die Tatbestände waren bereits im August 1944 per Gesetz festgelegt worden: Teilnahme an Morden, Beteiligung an Verbrechen zum Schaden der polnischen Bevölkerung oder des polnischen Staates und Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation. Insgesamt wurde in Polen gegen 80.000 Personen ermittelt, es gab 14. 000 Urteile, wovon 4.500 gegen “Volksdeutsche” verhängt wurden.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion bei der insbesondere Forschungsdesiderate aufgezeigt wurden: Bislang fehlt immer noch eine Monographie zu Kulmhof. Eine Biographie zu Arthur Greiser ist nun endlich im Entstehen (die amerikanische Historikerin Cathrine Epstein, die daran arbeitet, war ebenfalls auf der Konferenz anwesend). Warum das Ghetto Lodz (im Unterschied zu allen anderen Ghettos) so lange bestand, bleibt eine immer noch unbeantwortete Frage (Bender), hier müsse besonders Himmlers neue Position als Reichsinnenminister eingehender studiert werden (Klein). In den Blick kommen müssen auch die “Volksdeutschen”, denn die Frage, in welchem Maße sie Nutznießer waren, ist nach wie vor ungeklärt (Długoborski). Kritisch wurde bemerkt, dass es eine “Nationalisierung” der Perspektiven auf den Holocaust gibt, die auch im Hinblick auf die Tagung nebeneinander standen und bislang noch nicht zusammengeführt werden konnten (Grabowski, Longerich). Dies ist eine Aufgabe für kommende Projekte, wenn auch keine leichte. Neue Erkenntnisse könnte ein Vergleich der “eingegliederten Ostgebiete” untereinander und mit dem Generalgouvernement erbringen (Mallmann, Longerich). Auch müsse das Spannungsverhältnis zwischen Reichs- und Gauinstanzen eingehender untersucht werden (Klein). Der Zweite Weltkrieg sei zudem das Tableau jeglicher Geschehnisse zwischen 1939 und 1945 und könne aus diesem Grund nicht außer Acht gelassen werden (Weinberg). Insgesamt waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich dahingehend einig, dass die Erforschung des Holocaust zu anderen Themen wie eben dem Krieg, der Kriegswirtschaft, der Ernährungs-, Arbeits- und der Siedlungspolitik in Beziehung gesetzt werden muss. Denn – und das kann mittlerweile als unbestritten gelten – der Holocaust ist nur multikausal erklärbar.

Anmerkungen:
1 Im letzten Jahr erschien der Tagungsband: Bogdan Musial (Hg.), "Aktion Reinhardt". Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004.
2 Zu nennen ist hier vor allem die Ausstellung “Größte Härte... - Verbrechen der Wehrmacht in Polen September-Oktober 1939”, die, nachdem sie als erstes in Polen gezeigt wurde, von April bis August 2005 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin und von September bis Oktober 2005 in den Räumlichkeiten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn zu sehen war. Zweitens die gemeinsam organisierte Tagung “Polen unter deutscher und sowjetischer Besatzung 1939-1945” im Februar 2005 in Posen.


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