4. Medieval History Seminar

4. Medieval History Seminar

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut, Washington D.C.
Ort
Venedig
Land
Italy
Vom - Bis
20.10.2005 - 22.10.2005
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Von
Michael Brauer, Berlin

Vom 20. bis 22. Oktober 2005 fand zum vierten Mal das "Medieval History Seminar" (MHS) statt, ein transatlantisches Doktorandenseminar, das vom Deutschen Historischen Institut Washington ausgerichtet wird.1 In diesem Jahr tagten die 14 amerikanischen und deutschen Teilnehmer unter Leitung der Mentoren Michael Borgolte (Humboldt-Universität zu Berlin), Johannes Fried (Goethe-Universität Frankfurt), Patrick J. Geary (University of California Los Angeles) und Barbara Rosenwein (Loyola University, Chicago) im würdigen Rahmen des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Mit dem Tagungsort beschäftigte sich auch der Eröffnungsvortrag von Prof. Daniela Rando (Università degli Studi di Pavia): "'La mer gothique': Venedigs Mittelalter in der Moderne".

Das MHS steht unter keinem Oberthema, sondern besticht gerade durch seine Vielfalt, da hier die jeweiligen Dissertationen bzw. Ausschnitte aus ihnen im Mittelpunkt stehen. Auch für andere Tagungen empfehlenswert ist die Praxis, keine Vorträge zu halten, sondern im voraus Aufsätze zu schreiben, die von allen im Vorfeld gelesen und bei der Tagung durch einen anderen Teilnehmer kommentiert werden. Eine weitere Besonderheit ist die Zweisprachigkeit, da die Teilnehmer jeweils in ihrer Muttersprache schreiben und diskutieren. Auch wenn 14 Beiträge kein repräsentatives Sample darstellen, lassen sich doch einige Beobachtungen über die Dissertationen der kommenden Jahre anstellen. So steht bei der regionalen Ausrichtung nicht das (nordalpine) Reich an erster Stelle, sondern Frankreich (4), gefolgt von Italien (3), dann erst das Reich, England, Preußen und Spanien (je einmal), die Arbeiten sind also nicht auf die Nationalgeschichte, aber meist auf das Abendland orientiert. In methodisch-theoretischer Hinsicht kristallisierten sich in der Diskussion drei große Komplexe heraus, die hier als Gliederung dienen sollen.

Ein Schwerpunkt war Politik in den Dimensionen von Repräsentation und Gedächtnis. Alizah Holstein (Cornell University) legte dar, daß im Rom des 14. Jahrhunderts der Bezug zur imperialen Vergangenheit als Kompensation für das nach Avignon gegangene Papsttum gesucht wurde. Das konnte durch mythologische Erzählungen geschehen, aber auch, so die Hauptthese, politisch instrumentalisiert werden: So verstand es Sciarra Colonna, der Capitano del popolo, durch sein Engagement für Kaiser und (Gegen-)Papst das Prestige der Vergangenheit nach Rom zu bringen und seine eigene Position zu stärken. - Christoph Weber (Münster) interpretierte die heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters als "eine eigene Sprache der Politik", indem er darlegte, wie drei ähnliche, aber unabhängig voneinander entstandene Kreuzfahnen für ganz entgegengesetzte Zwecke, einmal gegen die alten Eliten, einmal zur Festigung einer Dynastie, gebraucht werden konnten. - Anja Lutz (Hamburg) untersuchte mit einem interdisziplinären Ansatz, welche "images" Ludwigs des Heiligen in verschiedenen Miniaturenzyklen geprägt wurden. Während Ludwig in den Texten als "Heiliger" beschrieben wurde, betonten die Bilder stärker den "König" oder "Ritter". Die Auftraggeberin, Jeanne II. de Navarre, habe die Manuskripte dabei als "Instrument in ihrem politischen Kampf um Land und Herrschaft in Frankreich" eingesetzt. - Barbara Schlieben (Frankfurt/Main) präsentierte eine Studie, in der sie die Auffassung von Alfons X. als ungenügendem Herrscher als Konstrukt des 14. Jahrhunderts auswies. Die Hauptquelle für diese Sicht, die Crónica de Cuatro Reyes, sei mit Alfons XI. als Fluchtpunkt konzipiert, gegenüber dem die vorherigen Könige, einschließlich Alfons X., als Negativfolie dienen mußten. Diese Neuinterpretation stellte sogar die Faktizität der in der spanischen Geschichte bekannten Verschwörung von Lerma (1270) in Frage, die von zeitgenössischen Quellen nicht bestätigt sei. - Insgesamt bestätigten diese Beiträge, daß in der politischen und Verfassungsgeschichte weiterhin neue Erkenntnisse zu erwarten sind, wenn Fragen nach den symbolischen Dimensionen von Herrschaft und historischer Erinnerung gestellt werden.

Eine Reihe von Beiträgen befaßte sich mit sozialen, intellektuellen und religiösen Praktiken. Mirko Breitenstein (Dresden) untersuchte das Noviziat bei Cluniazensern, Cisterziensern und Franziskanern als Praxis der Sozialisation, "die den neu Eintretenden in den Status des Religiosen und die damit verbundenen Kompetenzen und Anforderungen ‚einlernt'", aber gleichzeitig auch konfliktträchtiges Wissen aus der "Welt" fernhält. - Spirituellen Praktiken bei den spätmittelalterlichen Kartäusern wandte sich Sara Ritchey (University of Chicago) zu. Dabei stellte sie die These auf, daß die Gartenpflege auf einer praktischen wie auf einer allegorischen Ebene der Kontemplation diente, also zum einen in den tatsächlichen Gärten, zum anderen durch eine "book-based spirituality", bei der vielfältige Pflanzenmotive in den Handschriften den Ausgangspunkt geistiger Übungen bildeten. - Zwei Beiträge befaßten sich mit intellektuellen Praktiken: Alex Novikoff (University of Pennsylvania) zeichnete den Einfluß Anselms von Canterbury auf die Genese der Gattungen Dialog und Disputation nach und skizzierte dann ihre Bedeutung für die Renaissance des 12. Jahrhunderts. - Jennifer C. Edwards (University of Illinois, Urbana-Champaign) befaßte sich mit einem Disput um eine Äbtissinnen-Wahl in Ste-Croix, Poitiers, im 13. Jahrhundert. Dabei stand nicht die formale Technik des Disputs im Zentrum, sondern vielmehr die Frage, welche rhetorischen Strategien bei einer päpstlichen Appellation in solchen Fällen am erfolgversprechendsten waren, nämlich vor allem technische Argumente (Veruntreuung von Vermögen, unkanonische Wahl). - Bei Miriam Czock (Bochum), "Schutz und Schändung von Kirchen im frühen Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung der Werke Gregors von Tours", ging es um Praktiken gegenüber dem Sakralraum Kirche. - Soziale Aufstiegspraktiken waren das Thema von Florian Hartmann (Bonn): "Hadrian I. (772-795): Frühmittelalterliches Adelspapsttum und die Geburt des Kirchenstaates". Er zeigte, wie sich stadtrömische Adlige über das Instrument der Kornlieferungen für die Bevölkerung in der päpstlichen Verwaltung etablierten.

Das dritte wiederkehrende Thema war Textualität, genauer: die Frage nach der Relation von Text und "Realität", nach Gebrauch und Manipulation von Texten. Damien Kempf (The Johns Hopkins University) erschloß ein extremes Beispiel textlicher Transformation: Ausgangspunkt war Paulus Diaconus' Geschichte der Bischöfe von Metz vom Ende des 9. Jahrhunderts. Am Ende des 10. Jahrhunderts erweiterten die Mönche von St-Clement die Lebensbeschreibung des Clemens in diesem Text, um den Anspruch auf die Reliquien "ihres" Heiligen in der Auseinandersetzung mit der Kathedrale von Metz zu bekräftigen. In der Folgezeit wurde diese Interpolation als eigenständiger Text, als Vita Clementis, überliefert, wogegen der "Urtext", die Geschichte der Bischöfe, in Vergessenheit geriet. - Überhaupt erst verständlich machte Thomas Cramer (University of Washington) einen historischen Text, indem er einen historischen Kontext anlegte: Aldhelm von Malmesburys Traktat De virginitate aus dem 7. Jahrhundert wurde von ihm als Verteidigung des Doppelklosters für Männer und Frauen gegen die Anfeindungen des Erzbischofs Theodor von Canterbury interpretiert. Dazu entwickelte Aldhelm ein neues Konzept weiblicher Heiligkeit, das der Keuschheit einen höheren Rang als der Jungfräulichkeit einräumte, und die Idee einer "chaste marriage", die von intellektueller Ebenbürtigkeit und gemeinsamer Predigt geprägt ist. - Michael Brauer (Humboldt-Universität zu Berlin) erforschte die "Bockheiligung" in Preußen. Dabei ließ sich eine heidnische Praxis der Altbewohner nicht zweifelsfrei nachweisen, vielmehr war die "Bockheiligung" eine Erfindung der Reformation, in der ältere Traditionen in Richtung auf eine "Abgötterei" zugespitzt wurden. (Selbstbericht) - Der materiellen Seite der Textualität wandte sich Matt Wranovix (Yale University) zu, indem er die Bücherausstattung des Pfarrklerus in der Diözese Eichstätt im 15. Jahrhundert erforschte. Auf statistischer Grundlage konnte er das Bild vom Niedergang des vorreformatorischen Klerus zurückweisen und darlegen, daß die meisten Bücher einen praktischen Nutzen für Sakramente und Predigt hatten.

Von allen Anwesenden wurde die Veranstaltung als Erfolg bewertet, was nicht zuletzt der perfekten Organisation durch den Direktor des Deutschen Studienzentrums in Venedig, Uwe Israel, und Jonathan Skolnik vom DHI Washington geschuldet war.

Anmerkung:
1 Siehe die Berichte zum MHS II (Benjamin Scheller, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=133) und III (Jörg Feuchter, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=402).


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