Medizinische Theorie und therapeutische Praxis im sozialen und religiösen Kontext des 18. Jahrhunderts

Medizinische Theorie und therapeutische Praxis im sozialen und religiösen Kontext des 18. Jahrhunderts

Organisatoren
PD Dr. Jürgen Helm, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Prof. Dr. Renate Wilson, Bloomberg School of Public Health, John Hopkins University, Baltimore
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.10.2005 - 08.10.2005
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Von
Christina Vanja, Kassel

Die im Jahre 1698 als Armen- und Waisenanstalt durch den pietistischen Theologen August Hermann Francke (1663-1727) gegründeten Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale entwickelten sich im 18. Jahrhundert zu einer weltberühmten pädagogischen und sozialen Einrichtung. Zum historischen Gebäudeensemble gehörten auch Krankenhaus und Apotheke sowie eine Druckerei, in der nicht nur theologische Schriften, sondern in erheblichem Umfang auch medizinische Bücher sowie Anleitungszettel zum Gebrauch der in alle Welt versandten Halleschen Medikamente hergestellt wurden. Besonderen Bezug nahmen die Franckeschen Anstalten in dieser Zeit überdies auf die berühmte medizinische Fakultät der Universität Halle und ihre Protagonisten, darunter vor allem Georg Ernst Stahl (1660-1734).

Der besonderen Bedeutung der Medizin im Hallenser Pietismus hat seit der Neueröffnung der Stiftung als Kultur- und Wissenschaftsinstitution im Jahre 1992 auch das Tagungsprogramm vor Ort stets in besonderem Maße Rechnung getragen. In diese Tradition ordnete sich die von Jürgen Helm und Renate Wilson geleitete Tagung im Oktober dieses Jahres ein. Als Thema wurde das komplexe Verhältnis von medizinischer Theorie und therapeutischer Praxis gewählt, das sich gerade im 18. Jahrhundert durch Vielfalt und Wandel physiologischer und pathologischer Konzepte als besonders vielschichtig und divergent darstellt. Überdies handelte es sich um eine Zeit, in der die Entscheidungen für bestimmte therapeutische Praktiken nur zum Teil von theoretisch begründeten Voten abhingen. Eine gewichtige Bedeutung besaßen vielmehr ebenso Erfahrungen, "Vorlieben" und ökonomische Überlegungen der Patienten und Patientinnen und die für sie wichtigen, z. B. pietistischen Informationsnetzwerke.

Einen besonderen Schwerpunkt der Tagung bildete die Entwicklung des Arzneimittelschatzes und der arzneilichen Therapie, auch über die Hallesche Medikamentenexpedition hinaus. Einen zweiten herausragenden Aspekt der Tagung stellte mit Pennsylvania als Einwanderungsgebiet besonders für deutsche Pietisten die transatlantische Perspektive dar. Hierzu besteht bereits seit Längerem ein von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördertes Koordinationsprojekt, das Forschungen zur frühneuzeitlichen Medizin in Deutschland und in den USA zusammenführt.

In der 1. Sitzung zum Thema Patienten und Ärzte: Theorie und Praxis in der Medizin stellte zunächst Michael Stolberg (Würzburg) seine Studien zum Therapeutischen Pluralismus aus der Patientensicht vor. Vor allem anhand von Patientenbriefen und autobiographischen Texten machte Stolberg deutlich, wie Kranke und ihre Angehörigen im 18. Jahrhundert die oft widersprüchlichen Auffassungen und Empfehlungen ihrer Ärzte wahrnahmen und wie sie damit umgingen. Die Erfahrung, dass Ärzte zu völlig unterschiedlichen Urteilen über die Diagnose und die wirksame Behandlung der Krankheit kamen, war fast alltäglich und wirkte sehr verunsichernd, zumal die Betroffenen befürchteten, dass eine falsche Therapie ihre Gesundheit noch zusätzlich zerrütten werde. Allerdings sahen sie die Ursache für die Uneinigkeit der Ärzte nicht in der Vielfalt der zeitgenössischen medizinischen Theorien, sondern im individuellen Urteilsvermögen der einzelnen Ärzte. Als positive Perspektive blieb auf diesem Hintergrund stets die Hoffnung auf einen Arzt, der den Patienten mit besonderem diagnostischem und therapeutischem Geschick doch noch von seiner Krankheit befreien werde. Andernfalls mussten sich die Kranken selbst für eine ärztliche Meinung entscheiden. Die mangelnde Gewissheit wurde damit ein Stück weit durch ein Mehr an Autonomie kompensiert.

Ebenfalls um den schriftlichen Dialog zwischen Arzt und Patient ging es im Vortrag von Marion Maria Ruisinger (Erlangen) mit dem Thema Blutkreislauf und Aderlass. Ein Beitrag zum Verhältnis von medizinischer Theorie und ärztlicher Praxis im frühen 18. Jahrhundert. Der Auswertung der chirurgischen Schriften Lorenz Heisters (1683-1758) und seiner Konziliarkorrespondenz stellte die Referentin grundsätzliche Überlegungen zur Frage voraus, in welcher Hinsicht sich die Vorstellungen vom Aderlass durch die Entdeckung des Blutkreislaufes (William Harvey, 1628) geändert hatten. Traditionell wurden dem Aderlass auf der Basis der Physiologie Galens quantitative (die Menge des im Körper befindlichen Blutes wird reduziert), qualitative ("böse Feuchtigkeiten" werden abgeleitet), sich auf die Binnenströmung im Körper auswirkende (stockende Feuchtigkeiten werden zum Fließen gebracht, belastete Organe von angestauten Säften befreit; beim Aderlass sind bestimmte Venen einzelnen Körperteilen zugeordnet) sowie präventive Eigenschaften zugesprochen. Durch die Entdeckung des Blutkreislaufes wurde nur die Vorstellung einer Binnenströmung obsolet; entsprechend kam es nicht zur allgemeinen Abkehr vom Aderlass, sondern allein zum Bruch mit dem bisher gültigen, ausgefeilten System der Lassort-Differenzierung. Bei ihrer Frage, ob sich nun auch die Aderlasspraxis im frühen 18. Jahrhundert geändert habe, bezog sich die Referentin besonders auf das Verhältnis von "Venenschlägern", d.h. handwerklich ausgebildeten Wundärzten, und derjenigen Frauen und Männer, die sich zur Ader ließen. Bereits in Lorenz Heisters 1719 erschienener "Chirurgie" findet sich ein Hinweis auf die Diskrepanz zwischen dem Wunsch des Laien und dem besseren Wissen des Chirurgen, dem Heister empfahl, pragmatisch dem Kundenwunsch Folge zu leisten. Die Kranken zogen demnach weiterhin einen Aderlass nach der präharveyanischen Methode vor und ließen es sich nicht nehmen, persönlich die Vene zu bestimmen, die geschlagen werden sollte. Dieser Erhalt von Patientenautonomie wurde insbesondere dadurch begünstigt, dass auch gesunde Kunden den Wundarzt zum (präventiven) Aderlass bestellten. Die Verankerung des Aderlasses in einem überwiegend außertherapeutischen Kontext trug somit wesentlich zum Überleben der traditionellen Praxis bei.

Mit der Veränderung der Gesundheitsregeln im Verlaufe des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich Karin Stukenbrock (Halle) in ihrem Vortrag "Und wenn man seine Gesundheit liebt, die Medicos und Artzneyen fliehen" - Zum Verhältnis von medizinischer Theorie und diätetischer Praxis. Ausgehend vom Begriff "Diätetica" in Zedlers Universallexikon von 1734, der nicht allein eine gesunde Lebensordnung, sondern auch die Arzneikunst als Lehrerin umschließt, stellte die Referentin zwei Schriften ins Zentrum ihrer Überlegungen. Nämlich die "Kurzgefaßte Diätetik oder hinlänglicher Unterricht wie ein Mensch durch ordentliche Lebensart, auch wenige und wohlfeile Mittel sich lange Zeit gesund und beim Leben erhalten könne" von Friedrich Hoffmann (1660-1742), posthum im Jahre 1744 erschienen, und die "Medicinischen Fastenpredigten oder Vorlesungen über Körper- und Seelen-Diätetik, zur Verbesserung der Sitten" aus den Jahren 1793 und 1794 von Franz Anton Mai (1742-1814). In dem umfangreichen medizinischen Werk des Hallenser "Iatromechanikers" Hoffmann, der Krankheiten als Störungen in den normalen Bewegungen der festen und flüssigen Teile des Körpers verstand, nahm die Diätetik einen entsprechend breiten Raum ein. Seine "Kurzgefaßte Diätetik" richtete sich insbesondere an die "Unbemittelten und auf dem Lande Lebenden" , für die er sieben knappe Regeln zusammenstellte, darunter auch die kuriose Warnung vor Ärzten und Arzneien. In Anlehnung an die "sex res non naturales" warnte Hoffmann vor Exzessen und empfahl, wie traditionell üblich, ein Maßhalten in jeder Hinsicht. Bei Krankheit allerdings konnte die Umstellung der Lebensgewohnheit durchaus eine kurative Wirkung haben. So regte eine Erhöhung der körperlichen Aktivität z. B. die Säfte an und "Befördert den Lauf der Säfte durch alle Gänge". Großen physiologischen Einfluss besaßen ebenso die Nahrungsmittel; vor allem Alkohol und sehr feste, salzige, saure, scharfe und fettige Speisen waren zu vermeiden. Insgesamt unterschieden sich Hoffmanns Empfehlungen kaum von den Verhaltensregeln des 15. Jahrhunderts, auffallend sei nur seine häufige Bezugnahme auf die Kreisbewegung des Blutes. Im Unterschied zum Ordinarius aus Halle hatte Mai nicht zufällig in Heidelberg seit 1785 die "Lehrstühle der Medizinischen Institutionen und der Hebammenkunst" inne, denn er hatte sich im Kontakt mit Johann Peter Frank ("System einer vollständigen medicinischen Policey") schon früh für "gesunde" Fürsorgeeinrichtungen eingesetzt und u. a. die Gründung einer Krankenwärterschule initiiert. Auch Mai knüpfte an die antiken Lebensordnungslehren an, der Aufklärer zielte mit seinen Fastenpredigten jedoch nicht mehr nur auf die Gesundheit des Einzelnen, sondern auch auf Moral, Sittlichkeit und Wohlfahrt des Staatswesens. Deshalb werden bei Mai neue Themen besprochen, wie das Verhalten der Eheleute, die menschliche Fortpflanzung, Schwanger- und Mutterschaft, die Gewohnheiten von Jugendlichen und nicht zuletzt die Zugehörigkeit zu einer Nation. Somit werden bei Mai am Ende des Jahrhunderts die herkömmlichen Gesundheitsregeln mit neuen politischen Kategorien verknüpft.

Menschliche Gewebe und Organe als Bestandteil einer rationalen Medizin im 18. Jahrhundert standen im Zentrum des sich anschließenden Vortrages von Robert Jütte (Stuttgart). Was uns heute wie ein Gräuelmärchen anmuten mag, war, so zeigte dieser Überblick, im 18. Jahrhundert gängige Praxis. Meist waren es zum Tode verurteilte Verbrecher, die als Arzneistofflieferanten missbraucht wurden. Begehrt waren neben dem Schädel, den Daumen und dem Fett (axungia hominis) auch Haut und Knochen eines nicht natürlich verstorbenen Menschen. Aus diesen Körperteilen wurden relativ kostbare und als hochwirksam eingeschätzte Arzneien hergestellt, die gegen eine Vielzahl von Krankheiten helfen sollten. "Mumia" fand sich noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den offiziellen Arzneibüchern als Heilmittel für unterschiedliche Indikationen (Milzstechen, Husten, Blähungen etc.). Stücke der relativ teuren Menschenhaut wurde bei schweren Geburten (der Bauch wurde damit gebunden) oder als edles Wundpflaster gebraucht. "Armsünderfett" mischte man vor allem Salben bei, Knochenpulver (auch Zähne zählten zu den Knochen) diente zur Bereitung von äußerlich anwendbaren Ölen z. B. gegen die Podagra. Die Hirnschale fand insbesondere Verwendung bei der Herstellung von Anti-Epileptica, aber auch in weiteren Arzneien gegen Kopfkrankheiten, Kropf, Gelbsucht und Vergiftungen. Auch das menschliche Herz und frisches Blut halfen als Arzneien gegen die Epilepsie. Alle diese Kuren mit Leichenfett, Menschenhaut etc. verstanden die Zeitgenossen allerdings keineswegs als Teil einer magischen Praxis; ganz im Gegenteil betonten Scharfrichter ebenso wie Universitätsprofessoren deren Rationalität im Sinne der damals herrschenden humoralpathologischen Medizin, aber auch der naturphilosophischen Vorstellungen eines Paracelsus, die sich einer großen Beliebtheit erfreuten. Ein Problem entstand erst, als sich das medizinische Paradigma zu ändern begann und seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eine neue Weltsicht und auch Körpervorstellung immer mehr an Einfluss gewann: Der von der Seele getrennte Leib (Descartes), das Maschinenmodell des Körpers (Lamettrie) waren Ausdruck einer neuen rationalistischen Weltsicht, die den Weg zu einer naturwissenschaftlichen Medizin freimachte. Eine rationale Therapie musste fortan auf den von der Physiologie und anderen medizinischen Grundlagenfächern experimentell gefundenen Erkenntnissen beruhen. In diesem System hatte die Erfahrungsmedizin, aber auch das Analogiedenken, keinen Platz mehr, sodass im Zeitalter der Aufklärung bald auch die Leichenteile aus der therapeutischen Medizin verschwanden - allerdings nur, um dann im 20. Jahrhundert unter neuen Vorzeichen der Rationalität als Organ- und Gewebetransplantationen, Plazentatherapie oder einer Behandlung mit Wachstumshormonen erneut gepriesen zu werden.

Um die verschlungenen Wege der Medikalisierung ging es auch im Vortrag von Mary Lindemann (Miami, Floria, USA) Medical Theory and Legal Competency. Consilia and Responsa in the Eighteenth Century. Am Beispiel Hamburgs stellte die Referentin die Frage, welchen Einfluss medizinische Experten, d.h. vor allem studierte Ärzte und Universitätsprofessoren, tatsächlich auf Gerichtsentscheidungen hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit von Delinquenten nehmen konnten. Im Ergebnis ist zumindest für die Hansestadt eine deutliche Differenzierung gegenüber landläufigen Modernisierungskonzepten angebracht. In Hamburg bestanden nämlich keinerlei Standards im Umgang mit kriminellen Geisteskranken. Bei den überlieferten Verhandlungen zwischen 1720 und 1750 wurde z. B. in keinem Falle vom Gericht (wohl jedoch von der Mutter eines Angeklagten) ein universitäres Gutachten eingeholt. Dagegen hatte der soziale Stand des Straftäters stets eine große Bedeutung und begünstigte unübersehbar die Angehörigen der Oberschichten. Auch die Ansichten von Angehörigen und Nachbarn fanden ausführlich Eingang in die Gerichtsprotokolle, während die seltenen universitären Atteste (sie stammten aus Göttingen), schlicht übergangen wurden. Die Richter stellten sich eigene Kriterien zusammen. So war "Raserei" für sie kein Beweis für die Geisteskrankheit eines Mörders. Eine große Veränderung brachte auch die zweite Jahrhunderthälfte ("Aufklärung") nicht. Selbst die örtlichen Amtsärzte spielten in den Prozessen am Ende des 18. Jahrhundert selten eine Rolle. Manche Kindmörderin wurde so erst gar nicht auf ihren Geisteszustand hin untersucht, und nur gelegentlich erfolgte durch die "Autorität" der Angehörigen, und nicht nach Expertenrat, die Einweisung in das Hamburger Pesthaus. Ein Göttinger Rechtsgutachten erreichte allein die "Begnadigung" einer Kindsmörderin zu mindestens zehn Jahren Zuchthaus. Manche Angeklagten entschuldigten ihre Tat selbst mit ihrem melancholischen Geisteszustand. Diese Darstellung wies das Hamburger Gericht jedoch mehrfach zurück, indem die Richter zwischen "Schwermuth" und "Unmuth" - letztere entlastete den Täter nicht - unterschieden. Ebenso wurden Mörder mit dem Tode bestraft, wenn sie zur Zeit der ärztlichen Untersuchung bereits wieder bei Verstande waren oder (ein von Johann Christian Reil vertretenes Konzept) an einem "fixen Wahn" (Monomanie) litten und damit nur punktuell verrückt zu sein schienen. So wurden Delinquenten sogar gerädert, die Mediziner im Rückblick aus späterer Zeit als zweifellos geisteskrank einstuften. Hinter dieser auffallenden Ablehnung von ärztlicher Expertise durch die Hamburger Gerichte sieht Lindemann insbesondere die Angst der Stadtoberen vor Einmischung in ihre republikanischen Freiheiten. Letztlich verhinderten in Hamburg also ganz verschiedene Faktoren eine Medikalisierung im Umgang mit geisteskranken Delinquenten, dazu zählte bemerkenswerter Weise auch das neue psychiatrische Konzept der "Monomanie".

In der 2. Sitzung Europäische Medizin in Nordamerika stellte zunächst Renate Wilson (Baltimore, Maryland, USA) unter dem Titel The Transmission of Early Modern Therapeutic Traditions Based on the Example of Two Medical Manuscripts from the American Colonial Period ein amerikanisches Editionsprojekt vor. Auf der Webseite http://contentdm. collphyphil.org/formularies/ können neuerdings zwei für die "pietistische Medizin" der in Pennsylvania ansässigen so genannten Schwenkfelder (einer ursprünglich aus Schlesien stammenden Gemeinde) besonders wichtige Manuskripte eingesehen werden. Es handelt sich um die "Medicina Pensylvania oder der Pennsylvanische Land-Artz" von George de Benneville (1703-1793), einem Arzt hugenottischer Herkunft, und um die "Remediorum Specimina aliquot ex praxi" des aus Schlesien stammenden Mediziners Abraham Wagner (1715-1763). Die beiden Manuskripte stammen aus der Zeit zwischen 1740 und 1780 und enthalten ein breit gefächertes und technisch detailliert beschriebenes Repertoire an Rezepturen mit pflanzlichen und chemischen Substanzen. Die im Original dreisprachigen Texte (Latein, Englisch und Deutsch), die sich vor allem an Mittelspersonen, aber auch an praktische (Selbst-)Heiler im pietistischen Umfeld richteten, nehmen ihrerseits zu zahlreichen medizinischen Autoritären, insbesondere jedoch auf die Franckeschen Stiftungen in Halle Bezug. Die Absicht der Autoren lag dabei nicht zuletzt in der Herstellung von Übersichtlichkeit angesichts der vielfältigen praktischen, theoretischen und terminologischen Veränderungen in der Medizin des 18. Jahrhunderts. In Bezug auf die komplexen Zusammenhänge, in denen beide Texte stehen, bietet die Edition zusammen mit ihrer Transkription zugleich zahlreiche wissenschaftliche Anmerkungen und umfangreiche Hintergrundsinformationen, so dass die gesamte "medizinische Welt" der beiden im kolonialen Amerika tätigen Ärzte recherchiert werden kann.

Ein Beispiel für die vielfältigen Auswertungsmöglichkeiten der Texte bot anschließend Jole Shackelford (St. Paul, Minnesota, USA) in seiner Studie über Uroscopy and German Chemiatric Theory in Eighteenth-Century Pennsylvania Medicine. In das Zentrum seiner Überlegungen stellte Shackelford die "Medicina Pensylvania" (um 1770) von George de Benneville. Dieser widmete immerhin 40 von 170 Seiten den "tartarischen" Krankheiten und der u. a. für ihre Diagnose bedeutsamen Harnschau. "Tartar" nämlich wurde als eine Unreinheit verstanden, die letztlich mit dem Essen und Trinken aus der Erde bzw. dem Wasser aufgenommen würde. Die Partikel führten beim Menschen, sofern sie nicht separiert und ausgeschieden worden seien, zu den entsprechenden "Steinleiden". Die Annahme, derartige Tartare oder Salze seien im Urin erkennbar, begründete die Uroskopie, die zugleich Hinweise auf den Zustand einzelner Organe (Magen, Leber etc.) und die Qualität der Körpersäfte (salzig, süß, bitter oder sauer) geben konnte. Bei de Benneville werden alle diese Interpretationsangebote aufgrund der Farbe und sichtbaren Qualität (z. B. Trübung) des Harns den Lesern in Übersichtstabellen vorgestellt. Eine detaillierte Textanalyse zeige schließlich, dass die Quellen für de Bennevilles Uroskopie bis in das 16. und frühe 17. Jahrhundert, vor allem aber auf Paracelsus zurückreichten. Insbesondere hatte de Benneville offensichtlich die Schriften des deutschen Arztes Johann Hayne (in deutscher Übersetzung 1620 erschienen) studiert. Im Ergebnis erweist sich somit die praktische "pietistische" Medizin des späten 18. Jahrhunderts noch in einer fortdauernden Tradition chemischer Krankheits- und Therapiekonzepte, die auf die Paracelsische Heilkunst des frühen 16. Jahrhunderts zurückgeführt werden kann.

Die 3. Sitzung widmete sich dem Thema Religiosität und religiöse Netzwerke. Elisabeth Quast (Göttingen) zeichnete in ihrem Vortrag Adelige Patientinnen der Brüder Richter. Ihre Tätigkeit im Halleschen Reformwerk anhand des Briefwechsels zwischen den Hallenser Waisenhausärzten Christian Friedrich und Christian Sigismund Richter mit Baron Carl Hildebrand v. Canstein aus dem frühen 18. Jahrhundert (1699-1711) nach, in welcher Weise gerade die rund 200 bis 250 pietistischen Patientinnen der Richterbrüder im Berliner Raum die Franckeschen Anstalten unterstützen. Es handelte sich um Hofdamen in der unmittelbaren Nähe des preußischen Königs, um Landadelige mit festen Kontakten u. a. zu den Höfen in Berlin und Dresden sowie um einige für die Richterbrüder publizistisch tätige Frauen. Das für die Prosperität der Franckeschen Unternehmungen durchaus bedeutsame Engagement der Standesvertreterinnen war äußerst vielfältig. Sie sammelten Geld, aber auch Schmuck, der für die Zubereitung der berühmten "Essentia Dulcis", dem Geheimmittel der Franckeschen Apotheke, Verwendung fand. Zu einer unmittelbaren Zuarbeit durch Beschäftigung von Waisenkindern mit dem Pillendrehen und Verpacken im Verlagssystem kam es jedoch offensichtlich erst im späteren 18. Jahrhundert. Vor allem propagierten die adeligen Frauen die ihnen applizierten Arzneien und dokumentierten deren erfolgreiche Anwendung als "Musterpatientinnen". Diese Berichte fanden immer wieder Eingang in die Selbstdarstellungen der Hallenser Mediziner und dienten u.a. der Abwehr von Kritik, die z. B. Georg Ernst Stahl an der Franckeschen Goldtinktur übte. Nicht zuletzt konnte das Networking der Damen auch den Privilegienwünschen Franckes (z. B. um Errichtung und Betreibung einer Silberscheideanstalt) Nachhaltigkeit verschaffen. Dass diese Frauen die Franckeschen Stiftung derart engagiert unterstützten, führte Quast vor allem auf ihre Religiosität zurück. Die Patientinnen, die zum Teil sogar den Radikalpietisten nahe standen, sahen gerade in den Anstalten zu Halle einen wichtigen Ansatz zur erwünschten Reform des Protestantismus.

Nähere Erläuterungen zu Abraham Wagner and George de Benneville: Physicians of Body and Soul. German Practitioners in Colonial Pennsylvania gab im nächsten Referat Allen Viehmeyer (Youngstown, Ohio, USA). Beide Glaubensemigranten waren als Pietisten und Ärzte nördlich von Philadelphia im Südosten von Pennsylvania tätig. In diesem Gebiet hatten sich bereits in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts die Angehörigen der Schwenkfelder Gemeinde niedergelassen, einer Kongregation, die bis heute (ca. 2.600 Mitglieder) besteht. Gründer der Bewegung war Caspar Schwenckfeld von Ossig (1489-1561), ein Schlesischer Adeliger, der sowohl mit Rom als auch mit Wittenberg in einen Glaubenskonflikt geriet und sich schließlich in Süddeutschland als Exilant niederließ. Auch Abraham Wagner stammte aus Schlesien (Harpersdorf). Vermutlich wurde er von dem Arzt Melchior Hübner betreut, der sich seinerseits auf die Tradition einer Schwenkfelder Heilkunde bezog. Den Anlass zur Emigration der Schwenkfelder gab die Niederlassung von Jesuiten in Harpersdorf Ende 1719. Gegen deren Missionierungsversuche bat die Gemeinde in Wien vergeblich um Toleranz. Über Sachsen (Herrenhut/Berthelsdorf und Görlitz) reiste die Auswanderergruppe schließlich bis nach Übersee, wo nun auch Wagner in einer überwiegend ländlichen Gegend als Mediziner praktizierte. Wagners Nachbar George de Benneville dagegen stammte von einer Hugenottischen Familie ab, die sich aus Glaubensgründen in London niedergelassen hatte. Er lebte einige Zeit als Prediger in Frankreich, Holland und Deutschland, bevor er 1741 in Philadelphia ankam. Vermutlich war er in Deutschland als Mediziner ausgebildet worden. Im Unterschied zu dem sesshaften und eher zurückhaltenden Wagner setzte Benneville auch in Amerika sein Wanderpredigerleben fort.

Im dritten Referat dieser Sektion vermittelte Fritz Krafft (Marburg) bildreich das Thema Postmortale ‚Medizin' im Protestantismus. Aus physikotheologischer Sicht, die im Sinne Martin Luthers von einer Providentia Gottes ausging, wuchsen die zu spezifischen Arzneien zu verarbeitenden Kräuter jeweils dort, wo die mit ihnen zu heilende Krankheit auftrat. Erst Gottes "Krafft" und Absicht verlieh den Arzneien dann auch ihre heilende Wirkung. Diese Überzeugung ging im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zurück, nachdem ihr insbesondere Immanuel Kant (1781) durch die Proklamierung eines ausschließlich kausalen Wissenschaftsbegriffs den Boden entzogen hatte. In den vorhergehenden Dekaden galt dieses ausschließlich auf Ursache und Wirkung orientierte Denken jedoch noch nicht, sodass es sich, so der Referent, keineswegs um einen schlauen Werbetrick handelte, wenn August Hermann Francke verkündete, die von der Waisenhaus-Apotheke vertriebenen neuen Arzneien besäßen durch das Eingreifen Gottes und seinen besonderen göttlichen Segen ihre heilende Wirkung, selbst da, wo andere (zudem weniger wohlfeile) Mittel versagten. Vielmehr griff Francke hier nur die ältere Ikonographie Christi als Arzneibereiter auf, welche sich wiederum auf das biblische Buch "Jesus Sirach" bezog. In seiner Bibelübersetzung hatte Luther 1532 dieses Buch nicht nur in einen seiner Zeit verständlichen Text übertragen, vielmehr hatte er den Begriff ‚Apotheker' verwendet und zudem diesen Berufsstand neben denjenigen des Arztes gestellt. Erst der Apotheker machte durch seine ihm von Gott verliehene Kunst aus den ‚pharmaka' heilsame Arzneien. Eine Weiterentwicklung dieser Vorstellung zu einem erweiterten medizinischen und pharmazeutischen Programm sieht Krafft in den Darstellungen auf der Lemgoer Rats-Apotheke. In Bildzitaten verknüpfe sich hier nämlich die traditionelle, auf Hippokrates und Galenos zurückgehende humoralpathologische mit der neuen, von Paracelsus (der neben Galen, Hippokrates u. a. ebenfalls bildlich dargestellt ist) initiierten Chymiatria auf chemischen Grundlagen, die für den in der Apotheke agierenden Apotheker reklamiert wird. Gerade dieser chemische Arzneien bereitende Apotheker jedoch war in der Folgezeit dem Arzt gleichgestellt, wie es auch die hessische Medizinalordnung von 1616 zeigt. Diese soziale Aufwertung des Apothekers schlug sich letztlich aber auch in einer emblematischen Verbildlichung oder Visualisierung des christlichen Erlösungsgedankens gemäß lutherischer Rechtfertigungslehre durch Christus als arzneibereitenden Apotheker nieder. Auf zahlreichen Abbildungen findet sich entsprechend bis weit in das 18. Jahrhundert hinein Christus als ‚himmlischer' Apotheker mit einer "Seelen-Apothek", der dem ‚leiblichen' Apotheker mit dessen Rezeptur zur Seite steht. Gegen den Tod ist letztlich zwar kein Kraut gewachsen, aber Gottes Wort, das ewiges Leben verheißt.

Die 4. und letzte Sitzung wandte sich der Pharmakotherapie zwischen Theorie und Empirie zu. Zunächst beschäftigte sich John K. Crellin (St. John's, Newfoundland, Kanada) mit der Frage Extemporaneous Prescriptions and Eighteenth-Century Medicine. How Much Theory, Empiricism and Art in Evaluating Clinical Effectiveness? Dabei stand erneut Abraham Wagner im Zentrum der Betrachtung. Bei dessen theoretisch durchaus fundierten medizinischen Abhandlungen stand Georg Ernst Stahl ganz offensichtlich Pate. Sogar spezifische Medikationen gingen auf den Vitalisten aus Halle zurück. Wagner war aber auch genau mit denjenigen Hallenser Präparaten (Bezoar, Arcanum, Salpeter, temperierendes Pulver) vertraut, die sich mit Stahls Konzept verbanden. Auch Wagners kluger Einsatz des Aderlassens, von Peruanischer Rinde und Opium war Stahls Vorgehen verwandt. Der zweite große Hallenser Mediziner, Friedrich Hoffmann, war vor allem durch seinen Lebensbalsam für Wagner von Bedeutung. Zweifellos waren für den Schwenkfelder Arzt jedoch auch die eigenen klinischen Erfahrungen relevant und regten ihn zu wichtigen Modifikationen in der Praxis an. Für eine Reihe von Arzneien legte er sogar eigene Zubereitungsrezepte vor. Auch wenn er keine systematischen Forschungen betrieb, so die Schlussfolgerung Crellins, suchte Wagner dennoch stets einen eigenen Weg zwischen den medizinischen Autoritäten, auf die er sich bezog, seinen eigenen theoretischen Konzepten und schließlich seinen alltäglichen praktischen Erfahrungen, ein Verhalten, das modernen klinischen Vorgehensweisen durchaus vergleichbar sei.

Anschließend stellte Andreas Holger Maehle (Durham, UK) seine Forschungen zum Thema Erfahrung, Experiment und Theorie: Zur Legitimierung und Kritik pharmakotherapeutischer Praktiken im 17. und 18. Jahrhundert vor. Während die allgemeine Medizinhistoriographie die theoretischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts oft als Spekulation diskreditiere, sei es wichtig, die entsprechenden Experimente nicht mit modernen Maßstäben im Sinne von Verifikation oder Falsifikation definierter Hypothesen zu beurteilen. Vielmehr seien die therapeutischen Methoden und Theorien zur Wirkungsweise von Medikamenten im 18. Jahrhundert von der Evidenz zeitgenössischer Therapieversuche sowie pharmakologischer Experimente getragen (oder zumindest beeinflusst) gewesen. An drei Beispielen erörterte Maehle diese These: der Therapie mit Opium - also einem traditionellen Mittel -, der Behandlung mit Chinarinde als neuer Droge und dem Umgang mit so genannten "(harn)steinauflösenden" Medikamenten oder Lithontriptica als Geheimmittel, drei Therapien, zu denen seit dem späten 17. Jahrhundert bereits außerordentlich viel veröffentlicht worden war. Anhand der drei Arzneimittel zeigte der Referent auf, wie pharmakotherapeutische Praktiken schon in dieser Zeit zum Gegenstand eines internationalen Diskurses wurden. Therapeutische Beobachtungen und Versuche, Tierexperimente und ‚in vitro'-Versuche wurden eingesetzt, um in diesem Diskurs Argumente zur Rechtfertigung oder zur Kritik bestimmter Praktiken zu gewinnen. Hierbei ging es nicht nur um den Nachweis der Wirksamkeit (oder Unwirksamkeit) eines Mittels, sondern auch um ein rationales Verständnis seiner Wirkungsweise und damit verbunden, um seinen richtigen, differenzierten Gebrauch. Auch konnten sich neue Indikationsbereiche in diesem Forschungsprozess eröffnen. Was sich somit für das 18. Jahrhundert abzeichnete, war eine Art von "Protopharmakologie", die als sich entwickelnde Wissenschaft zunehmend Gewicht neben den professionellen, sozialen und religiösen Motivierungen der Arzneimittelbehandlungen gewann.

Mit dem letzten Vortrag kehrte Jürgen Helm (Halle) an den Tagungs- und thematischen Ausgangsort des Symposiums zurück: Die "Medikamente des Waisenhauses": Ein Beispiel für die Etablierung und Verbreitung therapeutischer Praktiken im 18. Jahrhundert. Apotheke und Medikamentenversandt, die so genannte Medikamentenexpedition, hatten sich auf der rechtlichen Grundlage eines kurfürstlichen Privilegs vom Jahr 1698 in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten wirtschaftlichen Standbein der Franckeschen Anstalten entwickelt. Es handelte sich gewissermaßen um ein pharmazeutisches Großunternehmen mit internationalen Geschäftsbeziehungen. Dazu trugen auf der Anbieterseite die marktgängigen Verkaufsformate (Haus-, Feld- und Reiseapotheke) ebenso wie eine nach heutigen Maßstäben fast professionell zu nennende Werbekampagne, die der Internationalität der Absatzmärkte Rechnung trug, bei. Auf der Seite der Nachfragenden war zum einen die unkomplizierte Therapie mit den Medikamenten, die mit den vielfach gedruckten Anleitungen auch ohne Konsultation eines Arztes möglich war, bedeutsam. Zum anderen erhöhte natürlich auch die Herkunft der Arzneien ihre Bedeutung: In Gruppierungen, die dem Pietismus nahe standen, genossen die Arzneien aus den Franckeschen Anstalten zweifellos allein der Herkunft wegen einen guten Ruf. Auf Basis der Auswertung der Sammlung der von Quast bereits erwähnten Briefe, die zwischen 1701 und 1711 von den Waisenhausärzten Gebrüder Richter an Baron v. Cannstein gesandt wurden, zeigte Helm im Weiteren, wie die verantwortlichen Mediziner den Gebrauch und Nutzen der von ihnen vertriebenen Medikamente im Einzelnen begründeten und welche Argumentationen sie auch gegenüber Kritik einsetzten. Die Waisenhausärzte bewegten sich demnach mit ihren therapeutischen Anweisungen weitgehend im Rahmen sehr allgemeiner Überlegungen, von denen sowohl das ärztliche als auch das laienmedizinische Denken in der Frühen Neuzeit geprägt war. Durchaus empfahlen sie auch Drogen aus der traditionellen ‚materia medica'. Die gedruckten Schriften zu den Arzneien, die vornehmlich dem Verkaufsschlager ‚Essentia dulcis' gewidmet waren, zeigten hingegen ein anderes, sich veränderndes Bild. Dieses Medikament wurde seit 1703 in einen engen Zusammenhang mit der medizinischen Theorie Georg Ernst Stahls gestellt. Die Essenz erschien nun als das Therapeutikum zur Unterstützung der im Sinne Stahls verstandenen Natur oder Seele des Menschen. Die Vermutung liegt nahe, dass man mit der Autorität Stahl eine Art akademischer Rückendeckung für das zeitgenössisch sehr umstrittene Medikament suchte. Stahl selbst nahm nur einen Placebo-Effekt aufgrund des großen Vertrauens in die Wirksamkeit dieser Arznei an. Zu Veränderungen in der medizinischen Praxis vor allem kam es trotz Kritik bemerkenswerter Weise jedoch nicht vor.

Im Ergebnis hat die von lebhaften Diskussionen begleitete Tagung, an der Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen und Nationen beteiligt waren, die Sozialgeschichte der Medizin gleich in mehrfacher Hinsicht bereichert: Insbesondere die Beiträge zu Halle und Pennsylvania haben das Wissen um die so genannte pietistische Medizin zugleich differenziert und relativiert. Sie zeigten eine "pietistische" Praxis, die auch ältere medizinische Traditionen (vor allem auf Paracelsus zurückgehende) fortsetzte oder über weite Strecken dem zeitgenössischen Usus der Ärzte folgte. Verbindungen wurden u. a. zum noch im 18. Jahrhundert gültigen Bild von Christus als Apotheker ebenso wie zu diätetischen Lebensregeln und zur herkömmlichen Humoralpathologie deutlich. Sehr interessant waren die auch über den Pietismus hinausgehenden Beiträge zu Fragen der immer noch zu selten behandelten Patientengeschichte. In allen vorgestellten Studien zeigten sich diese "Leidenden" (darunter viele Frauen) sogar als ausgesprochen aktiv nicht nur hinsichtlich der Wahl von Ärzten und Therapien, sondern auch bei der Unterstützung der von ihnen präferierten Hallenser Medikamentenexpedition. Dass dieses beachtliche pietistische Wirtschaftsunternehmen jedoch keineswegs durchgängig der "Rationalität" der frühneuzeitlichen Medizin (auch diese Frage diskutierten mehrere spannende Beiträge) folgte, sondern zumindest punktuell eine Gewinnmaximierung ohne Verbesserung des Warenangebotes versuchte, zeigte der Blick auf die Werbestrategien. Die hier diskutierte Verbindung von Medizin, Ökonomie und Öffentlichkeitsarbeit könnte ebenfalls einer vielseitigeren Geschichtsschreibung als Vorbild dienen. In jedem Fall erweist sich auch nach dieser Tagung das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Medizin als viel komplizierter, als es herkömmliche Modernisierungskonzepte suggerieren. Es bleibt daher zu hoffen, dass weitere Symposien in Halle oder an anderem Orte die vielfältigen Anregungen dieser Tagung aufgreifen werden.

Die Publikation der Tagung ist bis 2007 vorgesehen.


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