Krise des Regierens in den 1970er Jahren? Deutsche und westeuropäische Perspektiven

Krise des Regierens in den 1970er Jahren? Deutsche und westeuropäische Perspektiven

Organisatoren
Wissenschaftliche Nachwuchsgruppe der VolkswagenStiftung "Regieren im 20. Jahrhundert" am Seminar für Zeitgeschichte Tübingen, Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.10.2005 - 14.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Dannenbaum, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Claudius Kienzle, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Sabine Kirsch, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die siebziger Jahre werden häufig als Krisenjahrzehnt bezeichnet. Die Herausforderungen staatlichen Handelns durch neue ökonomische, soziale und internationale Probleme sowie die Frage nach der Tragfähigkeit dieser Krisendeutung standen im Mittelpunkt einer Tagung, die von der Wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe der Volkswagen-Stiftung „Regieren im 20. Jahrhundert“ veranstaltet wurde. Der methodische Anspruch, eine Neue Politikgeschichte zu schreiben, die neben kulturgeschichtlich inspirierten „weichen“ Faktoren auch wieder den „Staat“ in den Blick nimmt, begründet den interdisziplinären Charakter des Projekts. Da Zeithistoriker mit den 1970er-Jahren in ein Themengebiet vorstoßen, das bereits von den Sozialwissenschaften bearbeitet wurde, stellt sich hier die Frage nach Zusammenarbeit ganz neu. Die Tagung trug dem Rechnung, indem die geschichtswissenschaftlichen Vorträge überwiegend von Vertretern der Politikwissenschaft kommentiert wurden.

In seinem Eingangsvortrag unternahm es Ulrich Herbert (Freiburg) die „zweite Moderne“ in einen weiteren historischen Rahmen einzuordnen. Er machte zunächst die Veränderungen in den 1970ern anhand von zehn Punkten fest, unter anderem dem Ende der industriellen Arbeitsgesellschaft, der internationalen Entspannungspolitik, gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen und dem strukturellen Wandel von Migrationsprozessen. Ausgehend von der Frage, wann die Phänomene, die in den 1970ern gebündelt zu Ende gingen, ihren Ausgang genommen hatten, markierte Herbert die Zeit zwischen 1890 und 1914 als relevante Phase für den Beginn der „ersten Moderne“. Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts interpretierte er als Reaktion auf die Herausforderung durch die radikalen Veränderungen während dieser Zeitspanne, insbesondere als Reaktion auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Die „zweite Moderne“ hingegen sei nicht mehr von diesem Widerspruch sondern von Problemen wie der Überdehnung des Staates gekennzeichnet. In der anschließenden Diskussion tauchte bereits ein gewisses Unbehagen gegenüber einer zu flächigen Verwendung des Krisenbegriffes auf. Dieser Punkt wurde auch in späteren Debatten wieder aufgegriffen.

I. Sektion: Ende des Booms – Krise der Industriegesellschaft

Die Vorträge der ersten Sektion befassten sich mit den sozioökonomischen Grundlagen der Epochenzäsur der 1970er-Jahre. Werner Bührer (München) veranschaulichte die wirtschaftlichen Krisenphänomene (Stagflation, steigende Arbeitslosigkeit, etc.) in der Bundesrepublik und in Westeuropa während dieser Zeit. Er kam zu dem Schluss, dass diese vor dem Hintergrund des Booms zwar als Krise wahrgenommen wurden, in einer längeren historischen Perspektive aber eher eine „Rückkehr zur Normalität“ bedeuteten. Die Politik reagierte auf die wirtschaftlichen Probleme mit einem Schwenk hin zur Angebotspolitik. Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen) spitzte diese Aussagen in seinem Kommentar zu und konstatierte für die Zeit zwischen den 1960er und 1980er-Jahren den Niedergang des montanindustriellen Gesellschaftsmodells, die Herausforderung des Nationalstaates durch die Globalisierung und einen damit verbundenen Paradigmenwechsel von einer keynesianisch-etatistischen zu einer neoliberal-marktwirtschaftlichen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie. In der Diskussion wurde jedoch angemahnt, bei der Frage nach dem Paradigmenwechsel von der Nachfrage- zur Angebotspolitik zwischen der rhetorisch-semantischen und der politisch-praktischen Ebene zu differenzieren, da in der Praxis bis heute keynesianische Handlungsmuster vorhanden seien.

André Steiner (Potsdam) beschrieb in seinem Beitrag die Rückkehr der DDR-Wirtschaftspolitik zu klassisch-planwirtschaftlichen Mustern in den 1970ern. Ziel war es, mit dem Ausbau des Konsum- und Sozialprogramms den Lebensstandard anzuheben und so die Arbeitsproduktivität zu steigern. Die ökonomische Entwicklung der 1970er-Jahre wurde in der DDR nicht als Krise wahrgenommen. Der auf Kosten der Substanz steigende Lebensstandard führte im Gegenteil zu einer Aufbruchstimmung und erzeugte „die Illusion des verwirklichten modernen Sozialstaates“. Erst Anfang der 1980er-Jahre stieg in der Bevölkerung die Unzufriedenheit und wurde die Führung sich der krisenhaften Situation bewusst. Anselm Doering-Manteuffel griff dies in seinem Kommentar auf und machte die parallele Entwicklung in der Bundesrepublik deutlich. Auch hier sei der starke Ausbau und Durchgriff des Sozialstaates in den 1970er-Jahren auf der Grundlage und aus Hochrechnungen der Boomjahre erfolgt.

Bereits in dieser Sektion deutete sich das komplexe Zusammenspiel von strukturellen Brüchen, Verfestigung überkommener Denkweisen (Leistungsansprüche an den Staat) und einem Experimentieren mit neuen Denkweisen an, das die 1970er kennzeichnete und differenziert zu analysieren ist. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Fragestellungen an die 1970er-Jahre ihren Bezugspunkt in der Gegenwart haben, wurde davor gewarnt, Gegenwartswahrnehmungen unreflektiert auf die 1970er zu übertragen.

Sektion II: Konsensgesellschaft und industrielle Beziehungen

Die zweite Sektion nahm die gesellschaftlichen Konsensmodelle dreier westeuropäischer Industriestaaten unter die Lupe, die durch die transnationale Veränderungsdynamik des ökonomischen Strukturwandels der 1960er-Jahre unter Druck geraten waren.
Zunächst untersuchte Andrea Rehling (Tübingen) die Konzertierte Aktion in der Bundesrepublik als Versuch, über die Globalsteuerung der Wirtschaft den Hauptintegrationsmechanismus der frühen Bundesrepublik – die wirtschaftliche Prosperität – wiederherzustellen und damit einen Legitimationsverlust des Staates zu verhindern. Das Scheitern der Konzertierten Aktion führte sie auf grundlegende Veränderungen im ökonomischen Sektor, im ideell-konzeptionellen Setting und bei den sozialmoralischen Prämissen zurück und nannte als maßgeblichen Grund die Unfähigkeit der Akteure, diese Veränderungen zu rezipieren und angemessene Handlungsstrategien zu entwickeln. Wegen des Gleichklangs von internationaler wirtschaftlicher Strukturkrise und der Ablösung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses sah Rehling in den 1970er-Jahren den Beginn einer neuen Epoche. Für das Fallbeispiel Großbritannien erörterte Dominik Geppert (London) das tiefgreifende Krisenbewusstsein und den daraus hervorgehenden radikalen Politikwechsel am Ende der 1970er und führte dies auf die spezifische Ausprägung der britischen Nachkriegsordnung zurück. Die offensichtlichen Defizite der keynesianischen Steuerungsmechanismen wirkten beunruhigend, die Struktur der britischen Wirtschafts- und Sozialordnung mit seiner hohen Staatsbeteiligung und dem steuerfinanzierten Sozialsystem entfaltete unmittelbarere Folgen als in der Bundesrepublik. Die zunehmende Unzufriedenheit in den Mittelschichten konnte Margaret Thatcher für ihre Politik der Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft nutzen. Neben den korporatistisch-kontinentalen Typus Deutschlands und das rudimentär-steuerfinanzierte angelsächsische Modell stellte anschließend Norbert Götz (Greifswald) den sozialdemokratischen Typus des schwedischen Sozialstaats. Als dessen wichtigste Bestandteile betonte Götz den Monopolanspruch der sozialdemokratischen Partei, eine etablierte Konsensgesellschaft bereits seit der Jahrhundertwende sowie das die Lohn- und Arbeitsmarktpolitik regelnde Rehn-Meidner-Modell. Unter dem Eindruck des Wertewandels in den 1970er-Jahren artikulierte sich zunehmender Widerstand gegen dieses technokratische Steuerungsmodell, das infolgedessen durch einen neuen, überwiegend strukturkonservativen Konsens abgelöst wurde.

In seinem Kommentar suchte Josef Schmid (Tübingen) nach Möglichkeiten, aus den drei Fallstudien einen Vergleich mit generalisierendem Mehrwert zu machen. Er mahnte an, drei Ebenen von Krisen – Interessen, Institutionen und Interpretationen – sowie drei Arten des Konsens zu unterscheiden: die Kooperation der relevanten Akteure, die Koordinierung verschiedener Politikfelder und die Integration der staatlichen Organisationsmittel. Die anschließende Diskussion konzentrierte sich auf die Frage nach dem Erfolgsmodell Deutschland und die Rolle der konzertierten Aktion, die ein gutes Beispiel für das schwierige Verhältnis von Ereignis- und Wahrnehmungsebene bot.

III. Sektion: Politische Gewalt, Kriminalität und staatliches Handeln

Die dritte Sektion behandelte den Umgang des Staates mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen. Stephan Scheiper (Tübingen), der krankheitsbedingt fehlte und dessen Beitrag von Gabriele Metzler referiert wurde, befasste sich mit der Reaktion des bundesrepublikanischen Staates auf den Linksterrorismus. Aus dem Wandel des Staatsverständnisses in den 1960er-Jahren und der Reformpolitik der Regierung Brandt entstand Anfang der 1970er-Jahre eine „Krise des Regierens“, da der Staat seine an sich selbst gestellten Ansprüche nicht zu erfüllen vermochte. Auf dieser Grundlage entwickelte Scheiper zwei Thesen. Die harten und teilweise überzogenen staatlichen Reaktionen auf die politische Gewalt der 1970er-Jahre waren nicht allein auf die Bekämpfung des Terrorismus bezogen, sondern galten auch der Bewältigung der Krise des Regierens. Mit der entschlossenen Bekämpfung des Linksterrorismus, dem Ausbau exekutiver Kompetenzen sowie der Konzentration der Rechtspolitik auf den Erhalt des Bestehenden gelang es den politischen Akteuren staatliche Handlungsräume neu zuzuschneiden.

Klaus Weinhauer (Bielefeld) weitete in seinem vergleichenden Beitrag „Drogenkonsum in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1970er-Jahren: zwischen Selbsthilfe und Staat“ die Betrachtungsperspektive. Anfang der 1970er-Jahre zerbrachen subkulturelle „Underground“-Netzwerke, die sich im Jahrzehnt zuvor ausgebreitet hatten. Die Heroinszene zersplitterte sich und wurde zum öffentlichen Schreckbild. Gerade im Vergleich mit Großbritannien, wo die Antidrogenpolitik sehr stark auf die Kommunikation zwischen staatlichen Organen und Selbsthilfegruppen setzte, war sie in der Bundesrepublik hoch politisiert. Aufgrund der Problemkonzentration ab 1977/78 wurde auch hier die polizeilich geprägte, autoritäre Politik durch kommunikative und zivilgesellschaftliche Strategien abgelöst. Im Hinblick auf die geschichtswissenschaftliche Forschung zu den 1970er-Jahren mahnte Weinhauer an, nicht zu stark vom Staat, sondern mehr von der Gesellschaft und ihrer Selbstorganisation her zu denken.

Gerade die Themen der hochpolitischen wie der hochindividualisierten Delinquenz reizten das Auditorium, sich anhand der Vorträge dem übergeordneten Tagungsthema nach der „Krise des Regierens“ zuzuwenden, wobei Meinungsverschiedenheiten deutlich zu erkennen waren. In seinem Kommentar widersprach Rupert von Plottnitz (Frankfurt am Main) der These von einer Krise des Regierens in den 1970er-Jahren. Weder habe es eine massenhafte Entfremdung der Bevölkerung von den Regierenden noch schwere Regierungskrisen gegeben.
Metzler hielt hingegen daran fest, dass die Entwicklung der 1970er-Jahre von den politischen Akteuren als Krise des Regierens wahrgenommen wurde, teilweise mit dramatischen Vergleichen zur Weimarer Republik. Sie verteidigte auch die These von der Überreaktion des Staates: Da alle strafrechtlichen Mittel zur Verfolgung der Terroristen vorhanden waren, seien die hektischen Rechtsänderungen nicht notwendig gewesen. Bei der Frage nach der Bewertung der Bedrohung hakte Ulrich Herbert ein und bezeichnete die Bedrohung gerade in Bezug auf den internationalen Zusammenhang des Terrorismus als durchaus real. Er bemerkte weiter, dass die Liberalisierung nicht zurückgenommen, sondern vielmehr in den 1980er-Jahren durchgesetzt worden sei. Dagegen wandte Metzler ein, dass das Prinzip Liberalisierung insofern preisgegeben wurde, als die Grundidee eines bestimmten Rechtsverständnisses, mehr Demokratie zu wagen, zurückgenommen wurde. Den Liberalisierungsdiskurs Ende der 1970er-Jahre bezeichnete sie als neue Phase, da es hier um neue Probleme gegangen sei: beim Beispiel Drogenpolitik etwa um die Frage der Grenzen staatlicher Eingriffe in die Gesellschaft.

IV. Die Neue Unübersichtlichkeit: Krisendiskurse und neue Politikbegriffe

Auch in den Beiträgen der folgenden Sektion ging es um Grenzen, und zwar die Grenzen der Kapazität und der Legitimierung politischen Handelns. Wieder näherten sich die beiden Beiträge ihrem Thema aus sehr unterschiedlichen Richtungen an: Zuerst beschäftigte sich Gabriele Metzler mit dem sozialwissenschaftlichen Diskurs über die „Unregierbarkeit“ westlicher Gesellschaften, der in den 1970ern-Jahren über das gesamte politischen Spektrum hinweg geführt wurde. Auch wenn sich die Stoßrichtung eher linker und eher rechter Strömungen im Einzelnen unterschied, ging es im Kern um die Diagnose, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften nicht mehr vom Staat gesteuert werden konnten und diese daher unregierbar geworden seien. In den 1980ern sei diese Skepsis vor allem durch einen Wandel in der Wahrnehmung überwunden worden, indem man die Pluralisierung und die erhöhte Komplexität politischer Vorgänge nicht mehr als bedrohlich empfand, sondern als Normalität akzeptierte.
Am Beispiel der Neuen Sozialen Bewegungen untersuchte Jens Ivo Engels danach neue Formen des Politischen aus der Perspektive konkreter politischer Praktiken. Seine zentrale Aussage lautete, dass die Neuen Sozialen Bewegungen zwar das Regieren nicht fundamental verändert, wohl aber das politische Leben mit ironisierenden Protestformen und ihrem bewusst eingesetzten „zivilen Ungehorsam“ um eine neue Form der Beteiligung bereichert haben. Als interessantestes Analyseobjekt markierte Engels das Verhältnis dieser Bewegungen zum Staat, das mit dem Versuch, staatliches Handeln gezielt zu delegitimieren, sowie dem Anspruch, das Gemeinwohl selbst zu repräsentieren auf der einen, der finanziellen Abhängigkeit vom Staat und ihrer institutionellen Einbettung auf der anderen Seite sehr widersprüchlich erscheine. So habe die Bürgerbewegung zwar temporär eine Krise des Regierens ausgelöst, repräsentativ-demokratischer Verfahren jedoch nicht dauerhaft delegitimiert.

Mit Blick auf die Unregierbarkeitsdebatten regte der Kommentator Winfried Thaa (Trier) an, stärker zu differenzieren zwischen denjenigen, deren Unregierbarkeitsdiagnose noch davon ausging, dass der Staat in der Lage sei, Krisen zu lösen (z.B. Habermas) und der späteren konservativen Debatte, die die Steuerungsfähigkeit des Staates grundsätzlich angezweifelt habe. Für die Entdramatisierung des Krisendiskurses in den 1980ern, die von beiden Referenten angesprochen worden war, sah Thaa zwei Ursachen: erstens, die „Renaturierung der Ökonomie“ in dem Sinne, dass dem Markt wieder stärker freier Lauf gelassen wurde, zweitens, dass der politische Konflikt als Normalität akzeptiert wurde. Auch in dieser Sektion setzte sich die Diskussion über die Frage nach der Krise des Regierens unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen von Wahrnehmung und Ereignis fort, indem Ulrich Herbert die Meinung vertrat, dass sich in der Praxis der Staatsbegriff der lernfähigen Verwaltung (Thomas Ellwein) durchgesetzt habe, und die eigentlichen Regierungskrisen nicht in den traditionellen Politikfeldern, wie z.B. der Wirtschaftspolitik, stattgefunden haben, sondern eher in neuen Problemfeldern wie der Ausländer- und Asylpolitik.

V. Ende des Nationalstaates?

Die fünfte und letzte Sektion beschäftigte sich mit den Wechselwirkungen von internationalen Prozessen und dem Funktionswandel von (National-)Staaten. Zunächst thematisierte Alexander Nützenadel (Köln) die Globalisierung als historischen Prozess und interpretierte die 1970er-Jahre als Übergangsperiode und Krisenzeit der internationalen Ordnung. Dies manifestierte sich einerseits in einem „neuen Internationalismus“. Andererseits verbanden sich internationale Krisendiskurse (wie der über die Grenzen des Wachstums) mit den eigenen Krisenhorizonten und der veränderten Selbstwahrnehmung im Nord-Süd-Gefälle. Auch wenn die nationalen Handlungsmöglichkeiten durch diese Entwicklungen stark beschränkt wurden, hielt Nützenadel die Rede vom Ende des Nationalstaates für verfrüht. Eckart Conze (Marburg) der am Beispiel des europäischen Integrationsprozesses das politische Handeln in supranationalen Organisationen analysierte, formulierte ebenfalls ein Fragezeichen hinter der These vom Ende des Nationalstaates, indem er unter Bezug auf Alan Milward die Bedeutung der nationalen Komponente im politischen System der EG/EU betonte. Die Renationalisierung Europas in den 1970er-Jahren hatte dabei zu einer Stärkung des intergouvernementalen Prinzips und zu einer Entsupranationalisierung der europäischen Integration geführt.

Der Kommentator Edgar Grande (München) stellte nicht zuletzt im Bezug auf das Gesamtthema der Tagung für die 1970er-Jahre einen Wandel von aktiver Reformpolitik hin zu reaktivem Krisenmanagement fest. Zugleich erinnerte er an das durchaus aktuelle Paradoxon europäischer Politik, wonach Souveränitätsverzicht für die Nationalstaaten auch einen Zugewinn an Handlungsfähigkeit erbringen kann. Im Anschluss an diese Diagnose wurde gefragt, ob man den Krisenbefund für die 1970er-Jahre nicht relativieren und eher von einem Jahrzehnt des Alarmismus sprechen müsste.

Mit ihrem breiten Themenspektrum und den forschungsorientierten Diskussionen bot die Tagung einen sehr guten Zugang zum Stand der Forschung über die 1970er-Jahre in der Bundesrepublik. Gerade weil sie sich einem noch recht neuen Forschungsfeld widmete und im Titel bereits ein dezidiertes Deutungsangebot formulierte, war nicht zu erwarten, dass bereits homogene und abschließende Erkenntnisse festzuhalten sein würden. Die lebhaften und zum Teil kontroversen Diskussionen spiegelten deutlich den Bedarf an weiteren Untersuchungen wider, Deutungsunterschiede zwischen den Wahrnehmungen der 1970er aus Zeitzeugen- und Wissenschaftlersicht konnten nicht immer durch empirisch abgesicherte Ergebnisse aufgelöst werden. Dass die Gültigkeit der Krisendeutung immer wieder angezweifelt wurde, spricht daher weniger gegen die These von der "Krise des Regierens" als dafür, dass sich in den 1970ern zeitgenössische Krisendiskurse mit Entwicklungen vermischten, die sich erst in der Rückschau als Teil einer krisenhaften Umbruchssituation interpretieren lassen. So lässt sich aus der Tagung auch das Fazit ziehen, dass gerade in der Diskrepanz zwischen Erwartungen und strukturellen Rahmenbedingungen, intendierten Handlungsfolgen und tatsächlichen Ergebnissen die Bedeutung dieses Jahrzehnts zu liegen scheint. Mit der Grenze des staatlichen Geltungsbereiches sowie der Ablösung des keynesianischen Gesellschaftsmodells wurden zwei konkrete Felder markiert, die in weiteren Forschungen zentral sein könnten.


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