HT 2021: Identitätsnarrative von Gesellschaften im Geschichtsunterricht – Genese, Vergleich und Instrumentalisierung

HT 2021: Identitätsnarrative von Gesellschaften im Geschichtsunterricht – Genese, Vergleich und Instrumentalisierung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Gabriele Götz-Dittebrand, Franz-Ludwig-Gymnasium Bamberg

Das Thema „Identitätsnarrative von Gesellschaften im Geschichtsunterricht – Genese, Vergleich und Instrumentalisierung“ eröffnet interessante Perspektiven. Die Vortragenden beleuchteten Identitätsnarrative aus wissenschaftlicher, didaktischer und methodischer Perspektive. Dabei wurde deutlich, wie gezielt Narrative in Gesellschaften erschaffen wurden – und werden – um auf der einen Seite Identität und auf der anderen Seite Ausgrenzung (im Inneren und nach außen) zu schaffen. Dabei den Blick über Europa hinaus auf China und die USA zu richten, ergab überraschende Einblicke. Im Geschichtsunterricht sollte der Umgang mit nationalen Narrativen kritisch gestaltet werden.

Theo Emmer stellte in der Anmoderation die Vortragenden vor: Volker Depkat ist Professor für Amerikanistik an der Universität Regensburg und Mitorganisator für das Kontaktstudium von Geschichts- und Sozialkundelehrern. Andreas Wolfrum ist, nach seiner Lehrerlaufbahn, Dozent für Historische und Politische Bildung am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz. Julia Behr unterrichtet als Fachschaftsleiterin an einem bamberger Gymnasium Geschichte und Sozialkunde. Danach skizzierte Alfrun Gebauer in der Einführung die Relevanz der Beiträge für den Geschichtsunterricht. Sie führte nach dem Modell Barricellis1 aus, eine Annäherung an die Geschichte erfolge über vier Stufen narrativer Kompetenzen. Der ersten Stufe des Nacherzählens und des Erkennens, dass persönliche Einflüsse die Erzählung beeinflussen, folge die Rekonstruktion des Verfahrens im zweiten Schritt. Im dritten Schritt erreiche das Umerzählen von Ereignissen Multiperspektive und Empathie. Die anspruchvollste Arbeitsebene im vierten Schritt bestehe im rezensierenden Erzählen mit Dekonstruktion und eigenem Urteil. Vor diesem Hintergrund muss man die Beiträge verstehen, die aufzeigen, welche Geschichten Gesellschaften erfinden, erzählen und missbrauchen, um ihre jeweilige Einzigartigkeit herauszustellen und sich damit vom Anderen abzugrenzen. So wird der Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaften gefördert, jedoch auch Minderheiten exkludiert, die den Narrativen vermeintlich nicht folgen.

VOLKER DEPKAT (Regensburg) widmete sich in seinem Vortrag dem American Exceptionalism der die USA, aus sich selbst heraus entstanden und mit eigenen historischen Kontexten, als einzigartig darstelle. Bezeichnenderweise sehe sich die USA dabei als Nicht-Europa. Die daraus resultierende Überlegenheit auf den Gebieten von Moral, Selbstbestimmung und Einzigartigkeit präge den sozial konstruierten, Orientierung gebenden „Way of Life“ und die an Emotionen gebundene Vorstellung des normativ „guten“ Lebens. Jedoch sei diese Vorstellung des Amerikanismus nur ein Rahmen, der sehr unterschiedliche Mythen und Narrative vor allem von „weißen Männern“ enthalte, ohne jedoch ein fest bestehendes Ganzes zu bilden. Darunter fielen beispielsweise zentrale Narrative wie das „Manifest Destiny“, die USA als „Nation der Nationen“ oder als „Land of the free“.

Allerdings präge die Angst vor dem Verlust der Ausnahmestellung die Betonung der Einzigartigkeit und Vorrangstellung der USA. Anschaulich werde dies am Beispiel der amerikanischen Außenpolitik des 20. Jahrhunderts, die unter dem Dogma, sich bewähren zu müssen, missionarisch agierte, um die Utopie einer Welt ohne Krieg und Armut, als Folge von Demokratie und freier Marktwirtschaft, weltweit zu installieren. Depkat betonte, dass die Außenpolitik der USA zugleich auch immer als Identitätspolitik (gemäß den Narrativen des American Exceptionalism) galt, trotz der unterschiedlichsten Strategien, in Laufe der Zeit verfolgt wurden: Divergierende Ziele seien Ausdruck der ebenso umstrittenen Indentitätskonzepte. Depkat regte an, diese Zusammenhänge in den Fokus künftiger Forschungsarbeiten zu rücken.

Eng verknüpft mit der amerikanischen Außenpolitik stehe der Begriff „Demokratischer Internationalismus“. Er beinhalte zum einen, dass Demokratien als per se friedliche Staaten angesehen wurden, zum anderen als Folge der freien Marktwirtschaft der Wohlstand die Demokratie stabilisiert. So bewertet Depkat die Kriegsbotschaft von Wilson vom 2. April 1917 an den U.S. Kongress als einen Ausdruck des American Exceptionalism, um die Ideale von Demokratie und Frieden unter der Führung der USA weltweit durchzusetzen (Schlagwort „Grand Strategy“), auch wenn dies mit erheblichen Verlusten erkauft werden müsste. Wilson wende sich damit explizit gegen die Autokratie in Preußen. Unter der Führung der USA sollten also dauerhaft existierende Demokratien geschaffen werden, mit Überwachung durch eine internationale Organisation. Die USA sahen daher den Ersten Weltkrieg als Chance, im Sinne des exzeptionalistischen Denkens, die Welt unter ihrer Verantwortung zu „einem besseren Ort“ zu machen. Und eben weil die USA dazu in der Lage seien, müssten sie dies unter allen Umständen tun.2 Es würde sich sicher lohnen, dieser interessanten Sichtweise vertiefend nachzugehen.

Depkat steht nicht allein, wenn er American Exceptionalism als eine Art Ideologie ansieht: Die Außenpolitik der USA bekämpfte (und bekämpfe) Ideologien wie den Faschismus, den Kommunismus oder den Terrorismus, die den American Way of Life ablehnten. Die existenzielle Bedrohung der USA gehe dabei von ideologischen Feinden aus, nicht von existierenden Staaten. So gesehen sind die aktuellen politischen Entwicklungen neu zu bewerten.

ANDREAS WOLFRUM (Bamberg) führte in seinem Beitrag mit zahlreichen Beispielen sechs wesentliche Narrativstränge (legendenhafte Gründung, Leiden, Widerstand, Neu-Gründung, zivilisatorische Mission, Fortschritt) aus. Die Annäherung an chinesische Geschichte ergibt einen neuen Blickwinkel von Außen auf die Geschichte Europas oder der USA: Somit ergeben sich für den Geschichtsunterricht neue Aspekte der Bewertung von Ereignissen, wie das Beispiel des Narrativ des Leidens, im Westen „Zweiter Weltkrieg“, zeigt.

In China stünden im Vordergrund die heldenhaften Opfer, die erbracht werden mussten und die letztlich zur Ausrufung der Volksrepublik Chinas 1949 führten. Flucht und Vertreibung jedoch würden in China, da ein wiederkehrendes Phänomen über die Jahrtausende, keine Rolle spielen. Eine nationale Gemeinschaft durch die gemeinsame heroische Niederkämpfung eines Feindes herbeizuführen, sei auch das Ziel des Narrativ des Widerstands. Der Sieg über den Westen während des Boxeraufstandes oder der über Japan würde allein den Kommunisten zugeschrieben, was zu einer (aus westlicher Sicht) lückenhaften Geschichtsdarstellung führe. Als Narrativ weitergeführt werde nur der Widerstand gegen Japan. Wolfrum bemerkte, zu brisant erscheine der chinesischen Führung die Darstellung einer Massenbewegung gegen die eigene Obrigkeit. Erst im Zuge der Öffnung Chinas für den Westen in den 1980er-Jahren gebe es für historische Darstellungen auch liberalere Bewertungen.

Zur Überwindung des „Jahrhunderts der Schande“, das mit dem Verlust imperialer Größe und der wirtschaftlichen Dominanz des Westens verbunden werde, diene das Narrativ der (Neu-)Gründung. Dies als unterdrückend und schmerzlich empfundene Kapitel würde mit der Gründung der Volksrepublik 1949 beendet.

Das Narrativ der zivilisatorischen Mission sei als Befreiung Chinas von der japanischen Besatzung zu verstehen und nicht, bis auf Tibet, gebietsmissionarisch zu verstehen. Somit diente und diene die international anerkannte, wirtschaftlich prosperierende Großmacht als Vorbild und Partner vor allem bei afrikanischen Staaten.

Das Narrativ des Fortschritts versuche abzubilden, dass wirtschaftliche Entwicklungen in China wegen der regionalen Disparitäten nicht parallel erfolgt seien. Zugleich aber würden die Diskussionen um politischen Fortschritt bereits ab 1864 zeigen, dass Weiterentwicklung nur mit mehr Selbstverwaltung gegenüber einer Zentralverwaltung stattfinden könnte. Wolfrum benannte als Beginn dieses Reformprozesses einen ersten Verfassungsentwurf von 1898 für eine konstitutionelle Monarchie. Nur langsam manifestierte sich die Einsicht bei den politischen Eliten, dass Überlegenheit nicht allein wirtschaftliche Gründe besäße, sondern auch westliche Politsysteme umfasse. Die Zahl von über 40 von oben verordneten Verfassungsentwürfen in den letzten 100 Jahren spräche für die Suche nach einem für China gangbaren Weg. Schneller adaptiert wurden auf wirtschaftlicher Ebene zahlreiche westliche Elemente. Dies könne man, nach chinesischen Gesichtspunkten, als den Beginn einer neuen Großmachtära deuten.

Kritisch merkte Wolfrum am Ende an, dass die Identitätsnarrative ohne den Hintergrund chinesischen Geschichte im Geschichtsunterricht nur begrenzt einsetzbar seien. In der Tat unterscheidet sich die chinesische Geschichtsauffassung deutlich von der westlichen und sind den Lernenden, bei allen interessanten Aspekten, sicher nur oberflächlich zu vermitteln.

Der Beitrag von JULIA BEHR (Bamberg) setze sich mit europäischer Identität, wie sie in Geschichtsbüchern vermittelt wird, auseinander und vermittelte die Probleme einer europäischen Geschichtsschreibung für den Unterricht. Allein eine Definition von „Europa“ mit aktuell 27 Nationalstaaten zeige die Schwierigkeit einer „europäischen Identität“: Benne man dafür gemeinsame antike historische Wurzeln oder doch eher Grundhaltungen aus Politik, Naturwissenschaft und Philosophie, wie sie in der Kopenhagener Erklärung 1973 erstmalig angesprochen würden?

Europäische Identität bestehe nach außen vor allem in der Abgrenzung von anderen Räumen wie dem Nahen, Mittleren oder Fernen Osten, nach innen jedoch würden sich die einzelnen Mitgliedsstaaten mit nationaler Narration als Europa zugehörig fühlen. Behr verdeutlichte dies mit den Zustimmungsraten von Bürgern zu Europa: 74 Prozent der Polen fühlten als Europäer, hingegen Deutsche lediglich zu 60 Prozent; Spanier und Franzosen lägen dazwischen. Für mehr Zustimmung bedürfe es wohl weniger einer nationalen als einer einheitlichen Bildungspolitik. Somit drängten sich für die Kompetenzorientierung in den Lehrplänen folgende Fragen auf: Sollte eher eine „europäische Kompetenz“, ein „europäisches Bewusstsein“ angestrebt oder ein „europäischer Bürger“ gewünscht werden? Im Schulbuchbereich gäbe es schon länger Bemühungen mit dem Ziel von Versöhnung und Verständigung, vor allem vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Doch unterschieden sich die Geschichtsbücher der vier angeführten Staaten erheblich, wie das Beispiel Zweiter Weltkrieg zeige. Es wird deutlich, dass sowohl der Umfang wie auch die Heraushebung oder das Weglassen von Themen eher die nationale Betonung befördert und eine nationale Sichtweise reflektiert. Die Stichworte Kollaboration, Vichy-Regime und Resistance oder Franco-Diktatur mögen dafür genügen.

Behr stellte drei Beispiele für europäische Geschichtsbücher vor. 3 Das erste supranationale Geschichtsbuch „Histoire de l´europe“ für junge Erwachsene initiierte Delouche 1988. Die Schwierigkeiten für die fünfzehn Autoren, das Buch zu erstellen, seien vor allem in den Bewertungen von Ereignissen und Persönlichkeiten sowie bei Problemen mit der adäquaten Übersetzung von nationalen Begriffen gelegen. Trotzdem bemängelten Kritiker, dass das Werk zu sehr westeuropabezogen sei, keine Lehrplananbindung besitze oder eine zu männerzentrierte Geschichtsschreibung beinhalte.

Ein binationales Werk ist das „Deutsch-französische Geschichtsbuch“ oder „Manual d´Histoire franco allemand“, das für die Oberstufe konzipiert und auch in mehreren Bundesländern als Geschichtsbuch zugelassen sei. Das Besondere an diesem Werk sei der Perspektivenwechsel, der neue Sichtweisen zulasse und mehr Verständnis erzeuge. Ein weiteres binationales Geschichtsbuch ist „Europa – unsere Geschichte“ aus dem Eduversum Verlag, das 2021 erscheinen soll. Der erste Band (von 2016) ist ein Projekt der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission und in allen Bundesländern, außer Bayern, als Schulbuch zugelassen. Interessant sind hier vor allem die konsequente Kompetenzorientierung und die kritische Dekonstruktion von Narrativen.

Am Ende stellte Behr die Forderung, dass alle Bemühungen für ein europäisches Geschichtsbuch zum Ziel haben sollten, Schülerinnen und Schülern neben der nationalen eine europäische Identität zu vermitteln und Geschichtsnarrative kritisch zu hinterfragen. Insgesamt, so der gewonnene Eindruck, scheinen alle Projekte nur langsam voranzugehen und sich in nationalen Interessen zu verlieren.

In der Diskussion wurde deutlich, dass Narrative immer wieder im Hinblick auf die Entwicklung von Staatsbeziehungen auch in der Gegenwart zu untersuchen sind. Dies gilt sowohl für China, gerade weil es eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, wie auch für die USA, in der die Erzählungen der „weißen alten Männer“ gerade kritisch beleuchtet werden. Die Osterweiterung Europas sollte auch als Herausforderung verstanden werden, durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Nationserinnerungen Integration zu fördern.

Fazit der Beiträge ist, dass Identitätsnarrative bewusst gewählt werden: Sie spielen eine wichtige Rolle zur staatlichen Identitätsfindung, zur Legitimation von Herrschaft und zur Rechtfertigung außenpolitischer Ziele. Herausgelöst aus dem orts- und zeitgebundenen Geschehen dienen sie dazu, „Aufträge“ für die Nachwelt abzuleiten. Lehrbücher haben eine zentrale Bedeutung bei der Etablierung von Narrativen, um bestimmte Werte und ein nationales Bewusstsein zu schaffen. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass im Geschichtsunterricht Kompetenzen gefördert werden, die diese Strukturen erkennen lassen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Theo Emmer (Parsberg) / Alfrun Gebauer (Landsberg)

Volker Dekpat (Regensburg): American Exceptionalism und die Tradition der amerikanischen Außenpolitik

Andres Wolfrum (Bamberg): Chinas Selbstverständnis als Kontrapunkt für den Geschichtsunterricht in Deutschland

Julia Behr (Bamberg): Diskurse über europäische Identität in Geschichtsbüchern

Anmerkungen:
1 Michele Barricelli, Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005
2 Für weitergehende Ausführungen verwies Depkat auf sein 2021 erschienenes Buch American Exceptionalism.
3 In diesem Zusammenhang bietet das Georg Eckert Institut für internationale Schulbuchforschung wertvolle Forschung.


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