HT 2021: Straßen im Ausnahmezustand. Besatzung, Widerstand und Gewalt im 20. Jahrhundert

HT 2021: Straßen im Ausnahmezustand. Besatzung, Widerstand und Gewalt im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Amerigo Caruso, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Die eskalierenden Proteste von Trump-Fans, sogenannten Querdenkern und Impfgegner:innen zeigen, dass die Straßen nach wie vor ein zentraler Austragungsort von Konflikten sind. Auch und vermutlich sogar verstärkt im digitalen Zeitalter generieren Straßenproteste mediale Sichtbarkeit, oft mittels Tabubrüchen und Gewalt. Unter dem Sektionstitel „Straßen im Ausnahmezustand. Besatzung, Widerstand und Gewalt im 20. Jahrhundert“ haben Nicolai Hannig (Darmstadt) und Martin H. Geyer (München) vier Beiträge gesammelt, die das Ziel hatten, Gewaltgeschichte(n) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive des Ausnahmezustands zu analysieren. Neben der Weimarer Republik dienten das Massaker von Amritsar 1919 und die französische Besatzung in Südwestdeutschland nach 1945 als weitere Fallstudien. Die Fragen nach den Auswahlkriterien der Fallstudien und ihrer Repräsentativität wurde nicht explizit thematisiert.

Einen roten Faden bildeten das Thema „Besatzung“ (die französische Armee in Süd- und Westdeutschland nach 1918 bzw. 1945, die britische Kolonialherrschaft in Indien) ebenso wie die Frage des Kriegs im Frieden, das heißt die Permanenz des Ausnahmezustands nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg. Einleitend betonte NICOLAI HANNIG (Darmstadt), dass der Straßenraum gewaltaffin ist, weil dort Praktiken der Repression, Bestrafung und Demütigung besonders wirksam sind, sie vor allem aber öffentlich (sichtbar) ausgetragen werden. Dabei fanden Konflikte nicht nur in, sondern auch um die Straßen statt. Diese wurden von einer Vielfalt an Akteur:innen ausgefochten, die aus unterschiedlichen Gründen Gewalt ausübten. Nach diesen einführenden Bemerkungen begann der eigentliche Vortrag über Gewalt in den Straßen während der Ruhrbesetzung 1923. Im Fokus standen vor allem Lynchjustiz, öffentliche Demütigungen und „Fememorde“ während des Ruhrkampfes. Neben diesen alltäglichen Gewaltformen war die Straße auch Schauplatz von Überwachungskonkurrenz zwischen Besatzern und Besetzten. Während die Besatzer auf Anschläge und „passiven Widerstand“ mit Ausweisungen, Requirierungen, Geiselnahmen und Geldstrafen reagierten, eskalierten unter den Besetzten Konflikte zwischen Rechts- und Linksextremisten, zwischen Nationalisten und „Kollaborateuren“. In diesem Zusammenhang wurden durch selbsternannte „nationale Überwachungsausschüsse“ Formen der Selbstjustiz praktiziert, die sich auf die Tradition mittelalterlicher Femegerichte beriefen und auf die Abstrafung deutscher „Kollaborateure“ zielten.

Die Reaktivierung des Femekonzepts intendierte, vermeintlich unehrenhaftes Verhalten zu stigmatisieren und „Volksverräter“, vor allem Frauen, öffentlich abzustrafen und zu demütigen. Eine beliebte Methode war dabei das Entweiblichen und Brandmarken von Frauen durch Kahlscheren. Diese und ähnliche Gewaltpraktiken wurden von zeitgenössischen Medien im Ruhrgebiet aufmerksam verfolgt. Viele national gesinnte Blätter unterstützten die Verfolgungen und veröffentlichten bereitwillig Prangerlisten und Aufrufe zur Lynchjustiz. Neben dem Kopfscheren war auch das Verprügeln männlicher „Kollaborateure“ ein weitverbreitetes Strafritual, das die Täter teils dank der Unterstützung deutscher Behörden und der Regierungsverantwortlichen, teils wegen der unklaren Rechtsverhältnisse in der Besatzungszone oft straffrei ausüben konnten. Hannig interpretiert die kollektiven Strafaktionen gegen „Franzosenfreunde“ als Form der völkisch-nationalistischen Selbstermächtigung. Sie wurden während der Ruhrbesetzung erprobt und im Zusammenhang mit der Zunahme und überregionalen Erweiterung der nationalsozialistischen Gewalt um 1930 im großen Stil reaktiviert.

Im Zentrum des Vortrags von TANJA BÜHRER (BERN) stand das Massaker von Amritsar in der nordwestlichen Provinz Punjab in Britisch-Indien – ein Schlüsselereignis der späten Kolonialherrschaft über den Subkontinent, das in Nasser Hussains Standardwerk über Kolonialismus und Rule of Law eingehend untersucht wurde.1 Unmittelbarer Anlass für die brutale Gewalt der Kolonisierenden waren Demonstrationen der indischen Bevölkerung gegen die Fortsetzung der repressiven Kriegsmaßnahmen, die während des Ersten Weltkriegs verhängt worden waren und 1919 immer noch bestanden. Der britische General Dyer erließ daraufhin ein Versammlungsverbot und als dieses nicht eingehalten wurde, gab er ohne Warnung den Schießbefehl. Die Repression forderte knapp 100 Tote und mehr als 1.000 Verletze unter den Demonstrierenden. Bührer ging in ihrem Vortrag die Frage nach, ob das Massaker von Amritsar eine Ausnahme oder eher eine Manifestation struktureller kolonialer Gewalt war. Dabei sieht sie die Handlungen General Dyers stark im kolonialen Verhalten des 19. Jahrhunderts verankert. Der britische Offizier gab vor einer Untersuchungskommission als Grund für die brutale Repression das Ehrgefühl der Kolonialisierenden und die Bewahrung rassistischer Hierarchien an: Hätte er die Verstöße gegen das Versammlungsverbot nicht mit extremer Gewalt bestraft, wäre das Militär durch die Kolonisierten verlacht worden. Er wollte also durch die Repression einen moralischen Effekt erzeugen und koloniale Macht im öffentlichen Raum demonstrieren. Die britische Kolonialherrschaft war nämlich bedroht, nicht nur durch die Proteste in Punjab, sondern vor allem durch die Artikulation der indischen Unabhängigkeitsbewegung und die wachsende Desillusionierung der Kolonisierten dem britischen imperialen Projekt gegenüber.

Die exemplarische Bestrafung von Protesten in Amritsar stellt sich in der Tradition der Herrschaftssicherung in Krisenzeiten, die auf demonstrativer Gewaltausübung im öffentlichen Raum basierte und in Europa bis weit ins 18. Jahrhundert praktiziert wurden, in den Kolonien noch im 20. Jahrhundert. Problematisch aus britischer Sicht war, dass diese Form der exzessiven Gewalt mit der neuen kolonialen Legitimationsideologie der friedlichen Kooperation und liberalen Reformen im Kontext des britischen Empires nicht mehr kompatibel war. Deswegen wurde das Massaker von Amritsar offiziell in London durch das Parlament und die Untersuchungskommission als Ausnahmefall und Fehlverhalten von General Dyer deklariert. Entgegen dieser Argumentationslinie interpretiert Bührer das Massaker als Ausdruck struktureller Gewaltregime in den Kolonien. Hier bedeutete der Übergang zum Ausnahmezustand die Fortsetzung der „Erziehung“ mit Gewaltmitteln.

MARTIN H. GEYER (München) hat sich mit der Geschichte von Notstandsregimen intensiv beschäftig und zu diesem Thema in den letzten Jahren innovativ publiziert.2 Besonders interessant ist dabei seine These, dass sich „Ausnahmezustandsmentalitäten“ als Folge von Rhetorik, Praxis und Normen des Notstands sedimentieren. Dieses Konzept stand auch im Mittelpunkt seines Vortrags und wurde als analytische Kategorie verwendet, um das Handeln von staatlichen Akteuren, aber auch von Zivilisten im Vorfeld, während und nach Notstandsmaßnahmen zu untersuchen. Das Konzept der Ausnahmezustandsmentalitäten eignet sich insbesondere für Fragestellungen, die über traditionelle Zäsuren hinweg denken, zum Beispiel die Epoche 1914 bis 1945, die hier im Mittelpunkt steht. Die rechtliche Übertragung des normativen Rahmens des Belagerungszustands von 1914 auf die Zeit nach der Novemberrevolution verlief, so Geyer, unproblematisch. Entscheidend für die Geschichte der Weimarer Republik sei aber nicht nur die rechtliche Übertragung des Notstands, sondern vielmehr die mentale Verknüpfung des Kriegszustands von 1914-18 mit den Ausnahmezuständen nach dem Kollaps des Kaiserreichs.

Um die Akzeptanz von Notstandsregelungen und Ausnahmezustandsmentalitäten zu verstehen, hob Geyer die Bedeutung der Idee der Notwehr hervor. Dieses Konzept spielte bei Carl Schmitt keine große Rolle und sei deswegen unterschätzt worden. Mit Blick auf die Idee der Notwehr kann man dennoch erklären, warum sogar Kritiker des Belagerungszustands während des Krieges wie der Bayerischer Justizminister Ernst Müller-Meiningen, Notstandsmaßnahmen nach 1918 bejahten. Grund für dieses Umdenken war die ideale Begründung des Notstandsrechts des Staates als Übertragung und Erweiterung der Notwehr der einzelnen Bürger. Existentielle Metaphern wie „Kampf um Leben und Tod“ oder „Not kennt kein Gebot“, die 1914-1945 allgegenwärtig waren, zeugen von der Verbreitung der Ausnahmezustandsmentalität. Diese wiederum bildete die Grundlage für kollektives und individuelles Notstandshandeln. Die Figur der Notwehr steht für diese Verknüpfung individuell-kollektiver „Selbsthilfe“, die zur Entstehung neuer Sicherheitsstrukturen und -akteure führte. Sie waren staatlich-private und politisch-militärische Hybride (Einwohnerwehren, Technische Nothilfe, Reichskommissare) oder Mischformen von Rechtsstaat und Willkür („Schutzhaft“, Kriegsgerichte). Der Staatsnotstandsgedanke wurde anfangs auch pro-republikanisch und zur Erhaltung der parlamentarischen Demokratie dekliniert, zum Beispiel mit dem Generalstreik gegen den Kapp-Putsch oder im Rahmen der Republikschutzgesetze nach dem Rathenau-Mord. Im Laufe der 1920er-Jahre wurde jedoch der Staatsnotstandsgedanke von den nationalen Rechten komplett vereinnahmt. Bei aller epochen- und länderübergreifenden Permanenz des Ausnahmezustands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei, so Geyers Schlussfolgerung, die enge Verknüpfung von Staatsnotstand und Notwehr spezifisch für Deutschland und die Zwischenkriegszeit.

Im letzten Beitrag dieser Sektion nahm Julia Wambach die Jahre der französischen Besatzung in Südwestdeutschland nach 1945 in den Blick. Hier zeigt sich erneut, dass Besatzungs- und Notstandsregime gemeinsame Merkmale haben, etwa die militärische Verwaltung, die eingeschränkte Souveränität der politischen Institutionen und die begrenzte Dauer. Die Handlungsoptionen der Besetzten bewegten auch nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den Extremen von Kollaboration und Widerstand, wobei die französische Besatzung in Südwestdeutschland nach 1945, anders als vorherige Besatzungsregime, als Wegbereiter der Versöhnung zwischen den „Erbfeinden“ gilt. Es handelte sich dabei aber nicht um einen linearen, vorbestimmten Prozess und es gab durchaus Momente des Widerstands und der Repression. Nach einem Attentat gegen die Franzosen in Speyer 1946 kam es wie zur Zeit der Ruhrbesetzung 1923 erneut zu einer Geiselnahme, diesmal in abgemilderter Form: Eine Gruppe deutsche Bürger:innen wurde gezwungen, mehrere Stunden ohne Kopfbedeckung vor dem Gebäude der Militärregierung stramm zu stehen.

Vor allem in der Anfangsphase der Besatzung war die Lage alles andere als versöhnlich und entspannt: Die Franzosen gingen aufgrund geheimdienstlicher Informationen von einer permanenten Gefahr aus; die deutschen „Kollaborateure“ sahen sich bedroht durch Stigmatisierung oder gewaltsame Bestrafung. Beide Seiten reaktivierten Praktiken (und Diskurse) aus der ersten Nachkriegszeit: nicht nur die bereits erwähnte Geiselnahme, sondern auch die Anfertigung schwarzer Listen und das Kahlscheren von Frauen, die Beziehungen mit französischen Soldaten eingegangen waren. Der Ausnahmezustand zwang die deutsche Bevölkerung, sich zwischen Kollaboration und Widerstand zu positionieren. In diesem Zusammenhang entstanden zumindest latente Konflikte, die zu eskalieren drohten, wenn die Soldaten abziehen und der Ausnahmezustand einen rechtsfreien Raum generierte. Hier trugen sich Konflikte und mediatisierte Formen der Abstrafung in der Öffentlichkeit aus, wurden aber im Gegensatz zur ersten Nachkriegszeit von den Medien nicht stark aufgegriffen.

Insgesamt charakterisierten die vier Beiträge die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein Zeitalter europäischer und globaler Ausnahmezustände. Vor allem für dieses Zeitalter des Ausnahmezustands erscheint es sinnvoll, die Begriffe Notstand/Ausnahmezustand nicht nur als Beschreibungs-, sondern auch als Analysekategorien zu verwenden. Denn ein solcher Ansatz ermöglicht es, synchrone Verflechtungen von Notstands- und Gewaltregimen, aber auch interepochale Kontinuitäten oder Unterschiede, zum Beispiel zwischen europäischem und globalem bzw. kolonialem Kontext sowie zwischen erster und zweiter Nachkriegszeit, neu zu beleuchten. Die Sektion hat das Potential dieser Herangehensweise deutlich gemacht, wobei Definitionen, methodisch-konzeptionelle Aspekte und fallstudienübergreifende Thesen nur andeutungsweise diskutiert wurden. Dieses „Abrunden“ ist aber eher Aufgabe einer Publikation, auf die man gespannt sein kann.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Martin H. Geyer (München) / Nicolai Hannig (Darmstadt)

Nicolai Hannig (Darmstadt): Straßen der Strafe. Gewalt, Überwachung und Feme im „Ruhrkampf“

Tanja Bührer (Bern): Aufruhr und Ausnahmezustand im kolonialen öffentlichen Raum: Das Massaker von Amritsar 1919

Martin H. Geyer (München): Umkämpfte Straßen und Ausnahmezustandsmentalitäten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs

Julia Wambach (Berlin): Besatzung als Ausnahmezustand. Kollaboration und Widerstand in der französischen Besatzungszone 1945–1949

Anmerkungen:
1 Nasser Hussain, The Jurisprudence of Emergency. Colonialism and the Rule of Law. Ann Arbor, 2003.
2 Martin H. Geyer, “Grenzüberschreitungen: Vom Belagerungszustand zum Ausnahmezustand,” in: Stefan Kaufmann (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, 341–384; Ders., What Crisis? Speculation, Corruption, and the State of Emergency during the Great Depression, Bulletin of the GHI Washington 55 (2014), S. 9–35.


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