HT 2021: Zurück ins Reich? Konflikte, Legitimation und Identität in Grenzregionen

HT 2021: Zurück ins Reich? Konflikte, Legitimation und Identität in Grenzregionen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Brenner, Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Wer unter Eindruck des Schengener Abkommens oder etwa der Begründung der Eurozone von dem Gefühl beschlichen wurde, dass Staatsgrenzen im Europa des 21. Jahrhunderts als Auslaufmodell bald auf dem Komposthaufen ausgedienter staatspolitischer Konzepte landen würden, wurde angesichts der europäischen Migrationskrise oder noch eindrücklicher mit den Auswirkungen der SARS-CoV-2 Pandemie zumindest fürs Erste eines Besseren belehrt: Grenzen sind und waren seitdem wieder nicht nur in den Köpfen vieler Berufspendler und Reisender fest verankert. Anlässlich der jüngsten Jährung der Pariser Vorortverträge setzte sich die epochengreifende Sektion „Zurück ins Reich? Konflikte, Legitimation und Identität in Grenzregionen“ anhand unterschiedlicher, vom Mittelalter bis in die Nachkriegszeit reichender Fallbeispiele mit der auch heute noch brandaktuellen Frage nach der Rechtfertigung von Grenzverläufen und -verschiebungen und den in mitunter umstrittenen Grenzräumen entwickelten Identitätskonzepten auseinander.

Im Rahmen seiner thematischen Einführung präsentierte ENNO BÜNZ (Leipzig) einen kundigen, bis in die jüngste Zeit reichenden Abriss der historischen Bedeutung von Grenzen vorrangig als politisches Ordnungsprinzip von Staatlichkeit und Herrschaft. Gerade weil Grenzvorstellungen und -konzepte angesichts ihres raum-, kultur- und epochenübergreifenden Bestehens einen gradezu universellen Charakter aufweisen, sprach Bünz der geschichtswissenschaftlichen Beforschung von Grenzen ganz zurecht ein enormes Erkenntnispotential zu: So kann eine Auseinandersetzung mit Grenzen nicht nur Aufschlüsse hinsichtlich ganz praktischer Fragen von Herrschaft liefern, schließlich müssen dieselben organisiert, verwaltet sowie schließlich legitimiert und mitunter auch verteidigt werden. Darüber hinaus gestatten Grenzen gleichermaßen auch Einblicke in sozial- oder kulturgeschichtliche Sachverhalte, denke man etwa an Herausforderungen des Grenzverkehrs, des grenzüberschreitenden Handel oder an Migration.

Im Anschluss an diesen thematischen Aufriss lieferte LAURA POTZUWEIT (Kiel) mit der Insel Gotland ein erstes, aufgrund ihrer zentralen Lage in der Ostsee zugegebenermaßen ein Stück weit unerwartetes, auf den zweiten Blick gleichwohl treffendes Beispiel für einen innereuropäischen, vormodernen Grenzraum. Auch wenn die heutige Zugehörigkeit zu Schweden unumstritten ist, sah sich die Insel durch das Mittelalter hinweg ganz im Sinne einer contested landscape unterschiedlichen Hoheitsansprüchen ausgesetzt: Die Könige von Dänemark und Schweden sowie das Mecklenburgische Herzogshaus und nicht zuletzt der Deutsche Orden verstanden die Insel mit mal mehr, mal weniger überzeugenden Argumenten zeitweise als Teil ihrer Einfluss- und Hoheitssphäre. Während die um die Insel geführten dänisch-schwedisch-mecklenburgischen Auseinandersetzungen 1395 im Frieden von Lindholm einen gewissen Ausgleich erfuhren, und Dänemark die Kontrolle über weite Teile der Insel zugesprochen wurde, trat wenig später der Deutschen Orden als Akteur in dieser Gemengelage auf, als er die dort inzwischen untergekommenen Vitalienbrüder vertrieb und die Insel im Anschluss regelrecht in Besitz nahm – die Folge war ein Wiederaufflammen der Streitigkeiten über die Besitzverhältnisse Gotlands. Potzuweit konnte zeigen, dass in der Folge unterschiedliche Narrative entwickelt wurden, die als Legitimationsgrundlage für die Hoheitsansprüche über die Insel dienen sollten: Der Deutsche Orden betonte die Eroberungsleistung und die Vertreibung der Vitalienbrüder, die bis dahin die Handelsverkehr auf der Ostsee gefährdeten; die Unionskönigin Margarethe I. hingegen verwies auf erbliche Ansprüche und gar auf ein göttliches Besitzrecht. 1408 konnte sich letztlich die dänische Seite durchsetzen und Gotland sollte gegen eine finanzielle Entschädigung für den Orden und nachdem Erich von Pommern 1448 endgültig auf bestimmte Hoheitsrechte verzichtet hatte, bis 1645 von Kopenhagen aus regiert werden. Ganz gemäß der Leitfrage der Sektion, setzte sich in diesem Konflikthorizont letztlich also die Argumentation „Zurück ins Reich“ durch.

Im geographischen Nordeuropa ist auch der Redebeitrag von CAROLINE ELISABETH WEBER (Odense) zu verorten, der sich mit der deutsch-dänischen Grenzfrage im 19. und 20. Jahrhundert und dessen bis heute reichenden Konsequenzen für das Zusammenleben zwischen Deutschen und Dänen auseinandersetzte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erwuchs aus der Frage der nationalen Zugehörigkeit des multiethnischen, von Deutschen, Dänen und Friesen gleichermaßen bewohnten Herzogtums Schleswig, ein langfristiger deutsch-dänischer Konflikthorizont. Während die Schleswig-Holsteinische Erhebung (Treårskrigen) noch keine Grenzveränderungen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein zur Folge hatte, musste der König von Dänemark aufgrund seiner Niederlage im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 auf seine Herrschaftsansprüche in Schleswig, Holstein und Lauenburg zugunsten Preußens und Österreich verzichten. Diese derart geschaffene deutsch-dänische Grenze wurde allerdings 1920 auf Basis von zwei Volksabstimmungen revidiert, die auch den heutigen Grenzverlauf festlegten. Der nördliche Teil Schleswigs ging an Dänemark, der südliche verblieb beim Deutschen Reich; nationale Minderheiten auf beiden Seiten waren die Folge. Weber präsentierte im Rahmen ihres Vortrag die unterschiedlichen regionalen und nationalen Zugehörigkeitsnarrative, die dabei über die Jahrhunderte von Dänen und Deutschen an das Herzogtum Schleswig herangetragen wurden: Dänischerseits kursierte seit 1864 das Narrativ des verlorenen Schleswigs, und die Hoffnung auf eine „Wiedervereinigung“ (Genforeningen) des Herzogtums mit dem Königreich Dänemark ging mit dem Versailler Vertrag für viele Dänen zumindest in Teilen in Erfüllung, obwohl das Herzogtum zu keinem Zeitpunkt Teil desselben war. Dem gegenüber entwickelte sich im Nachgang des Ersten Weltkriegs auf deutscher Seite die Meistererzählung eines Schleswigs, das den Deutschen mit der Kriegsniederlage geraubt wurde. Insbesondere in der Deutschen Minderheit in Nordschleswig wurde in der Folgezeit der Wunsch nach einer vermeintlichen „Heimkehr“ ins Deutsche Reich laut, für das NS-Regime stand eine offizielle Grenzverschiebung nach Norden allerdings nicht zur Debatte. Dass diese Narrative – nun weniger radikal – mitunter noch heute in Dänemark und Deutschland anzutreffen sind, zeigt welche Bedeutung der deutsch-dänischen Grenzgeschichte noch heute in der kollektiven Erinnerungskultur beigemessen wird.

Die mit dem Frieden von Versailles einhergegangenen Grenzverschiebungen in Mitteleuropa standen auch im Zentrum der Ausführungen von ANDREA DI MICHELE (Bozen). Er blickte in seinem Vortag wiederum nach Süden, in den Alpenraum und dort konkret auf die historische Region Tirol und setze sich in seinem Vortrag zum einen mit den Legitimationsstrategien auseinander, mit denen das Königreich Italien im Nachgang des Ersten Weltkrieges versuchte, die Annexion Südtirols auf Kosten Österreich-Ungarns zu rechtfertigen: Abseits von geographischen und militärstrategischen Argumenten, die auf italienischer Seite für die neue Grenzziehung entlang des Brennerpasses angeführt wurden, entwickelten sich ab den 1920er-Jahren im faschistischen Italien zusätzlich historische und zunehmend auch zivilisatorische Rechtfertigungsnarrative für die Verschiebung von Italiens Nordgrenze. So wurde im Mussolini-Regime auf die Eroberung und Romanisierung dieses Raumes durch Drusus und Tiberius vor knapp 2000 Jahren verwiesen und Tirol kurzerhand als Ausgangspunkt der Zivilisierung der Germanenstämme nördlich der Alpen und damit zu einem festen Bestandteil eines vorgeblich seit der Antike bestehenden lateinisch-italienischen Kulturraums stilisiert. Diesem Narrativ folgend wurde die Einwanderung und Niederlassung von Germanen nach der christlichen Zeitenwende insbesondere nach bzw. in Südtirol als oberflächliches und kurzlebiges Intermezzo abgetan, das mit dessen „Wiedervereinigung“ mit Italien sein endgültiges Ende fand – die deutschsprachigen Südtiroler seien sogar seit jeher unwissentlich Italiener gewesen. Darüber hinaus wandte sich Di Michele in seinem Beitrag auch konkret der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol und der Frage nach (Süd )Tiroler Identitätskonzepten im italienischen Staat zu. Neben dem Erhalt der deutschen Kultur und Sprache war deren oberstes Ziel nach dem Ersten Weltkrieg die „Wiedervereinigung“ mit dem deutschen Kulturraum. Nachdem sowohl die Entstehung eines grenzübergreifenden Tirols als auch der mitunter gewünschte Anschluss an Österreich bzw. das Deutsche Reich letztlich gescheitert waren, entwickelte sich ausgehend von der Nachkriegszeit eine bis in die Gegenwart anhaltende ausgeprägte Regionalidentität, die 1948 und 1972 in umfassenden Autonomierechten kulminierte.

Komplementär zu den von Weber und Di Michele thematisierten deutsch-dänischen respektive österreichisch-italienischen Grenzräumen befasste sich PAUL SRODECKI (Gießen) im Rahmen seines Vortrags mit der deutsch-polnischen Grenzgeschichte und damit mit einer der historisch wohl komplexesten Grenzregionen im Europa des 20. Jahrhunderts. Im Fokus standen dabei die in der nationalpolnischen Propaganda nach 1945 als „wiedergewonnene Gebiete“ proklamierten Regionen Pommern und Schlesien. Ausgehend von der Piastenzeit und dem hochmittelalterlichen Landesausbau in der Germania Slavica im Mittelalter über die Grenzverschiebungen in der Frühen Neuzeit und die polnisch-litauischen Teilungen bis hin zu den Auswirkungen des Versailler Vertrages sowie des Zweiten Weltkrieges präsentierte Srodecki zunächst die mannigfaltigen Veränderungen der Herrschaftsverhältnisse im nördlichen Ostmitteleuropa in der longue durée. Insbesondere auf den Hoheits- und Interessenraum der Piasten stützend versuchte die polnische Regierung, die nach 1945 zu diesem Zweck eigens ein Ministerium für die wiedergewonnenen Gebiete einrichtete, den mit der Westverschiebung Polens im Nachgang des Zweiten Weltkrieges einhergehenden Erhalt Pommerns, Schlesiens und Teilen Ostpreußens als eine vermeintliche „Wiedergewinnung“ ohnehin einst polnischer Gebiete unter Anwendung anachronistischer Argumente zu legitimieren. Dass Schlesien und Hinterpommern seit dem Hoch- bzw. Spätmittelalter kein Bestandteil der polnischen Hoheitssphäre mehr waren, der Südteil Ostpreußens sogar zu keinem Zeitpunkt zu selbiger gehörte, und in diesen Gebieten mitunter mehrheitlich deutsche und größtenteils germanisierte oder bilinguale westslawische Bevölkerungsgruppen lebten, tat der Argumentation dabei keinen Abbruch. Während diese Gebiete und die dortige nicht deutsche Bevölkerung im 19. und 20. Jahrhundert in Teilen eine staatlich gesteuerte Germanisierung erleben mussten, die mitunter auch von Vertreibung und Verfolgung gekennzeichnet war, wiederholte sich Gleiches nach 1945 nun unter dem Vorzeichen eine vorgeblichen „Re“-Polonisierung.

In der anschließenden Zusammenfassung betonte STEEN BO FRANDSEN (Odense) die augenfällig gewordenen inhaltlichen Gemeinsamkeiten innerhalb der unterschiedlichen vorgebrachten Rechtfertigungsnarrative, die territorialen Hoheitsansprüchen sowie damit korrelierenden Grenzverschiebungen und -verläufen als Legitimationsgrundlage dienen sollten. Anhand der präsentierten Einzeluntersuchungen – jeder der betrachtenden Grenzräume betraf auf die eine oder andere Weise deutsche Bevölkerungsgruppen – wurde zudem deutlich, dass die in diesem Zusammenhang produzierten, den jeweiligen Meistererzählungen zugrundeliegenden Argumentationsstrukturen in variierenden Nuancierungen zwischen gottgewollten, naturräumlichen, militärstrategischen, historischen und kulturellen Prämissen oszillieren konnten. Insbesondere den Aspekten der Historizität von Regionen und der Kulturzugehörigkeit dortiger Bevölkerungsgruppen wurde und wird bis heute dabei eine große Überzeugungskraft für Grenzveränderungen respektive deren Status quo zugesprochen, was sich etwa anhand der Häufigkeit des Verweises auf eine vermeintliche „Wiedervereinigung“ oder „Wiedergewinnung“ und dem damit einhergehenden Rückbezug auf vergangene Grenzverhältnisse ablesen lässt. Als Ausgangspunkt für die Forderung nach oder Rechtfertigung von Grenzverschiebungen sind in der Regel wiederum ideologische, ökonomische oder schlicht machtpolitische Faktoren ausfindig zu machen. Als eine Konklusion der darauffolgenden Diskussionen ließe ein Abrücken von der Vorstellung einer Grenze als ausschließlich lineares Konzept konstatieren: Grenzen müssten vielmehr zugleich als politisch und sozial permeable und stets fluide Kontakt- und Konfliktzonen mit eigenen Voraussetzungen, Chancen und Herausforderungen interpretiert werden, um das diesem Phänomen zugrundeliegende Erkenntnispotential nicht einseitig zu verengen. Abschließend lässt sich resümieren, dass es der Sektion gelungen ist, epochenübergreifende Argumentationsgrundlagen für territoriale Besitzansprüche und Grenzverschiebungen exemplarisch offen gelegt sowie die möglichen Folgen derselben für die Identitätsgefüge der davon betroffenen Bevölkerungsteile ausgeleuchtete zu haben.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Enno Bünz (Leipzig)

Enno Bünz (Leipzig): Einleitung und Hinführung zum Thema

Laura Potzuweit (Kiel): Gotland – Mittelalterliche Besitznarrative zwischen Schweden, Dänemark und dem Deutschen Orden

Maximilian Groß (Paris/Heidelberg): Die Ré-union unter Ludwig XIV.: Saarregion, Elsass und die Pfalz

Caroline Elisabeth Weber (Sonderburg): Up ewig ungedeelt oder wiedervereinigt? Schleswig-Holstein und Dänemark zwischen Bürgerkrieg und demokratischer Volksabstimmung 1848 bis 1920

Andrea Di Michele (Bozen): Südtirol/Trentino zwischen italienischem Faschismus, Option und nationalsozialistischer Besatzung

Paul Srodecki (Gießen): Pommern und Schlesien als „wiedergewonnene Gebiete“ in der nationalpolnischen Propaganda nach 1945

Steen Bo Frandsen (Sonderburg): Kommentar


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