Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung

Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung

Organisatoren
Monika Estermann; Ute Schneider; Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2005 - 06.10.2005
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Von
Monika Estermann, Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Frankfurt am Main

Die interdisziplinär ausgerichtete Tagung widmete sich in vier Sektionen (1. Entwicklung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften, 2. Verlage und Verleger als Wissenschaftsvermittler, 3. Wissenschaft und Öffentlichkeiten, 4. Wissenschaft und Spezialbetriebe) der Frage nach der Interdependenz von Wissenschaftsverlagen und dem Grad der Entwicklung und Etablierung der jeweiligen Disziplinen in den Kultur- und Naturwissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Grundtenor war die zunehmende Spezialisierung der Wissenschaftsdisziplinen, an deren Bedürfnissen nach Lehr- oder Handbüchern, Textausgaben, Zeitschriften oder Forschungsberichten sich die Verleger orientierten. Die unterschiedlichen Disziplinengeschichten bestimmtem die Handlungsmuster der Verleger, ihre Rolle in den jeweiligen Wissenschaftsorganisationen sowie ihre Filterfunktion im wissenschaftlichen Feld. Dabei stellte sich die Frage nach der Verortung des Verlegers im wissenschaftlichen Feld für die einzelnen Fächer immer neu. Der zweite Aspekt war der Adressatenkreis, der entweder selbstreferenziell nur aus dem Kreis der Wissenschaftler bestehen konnte oder aber eine größere Öffentlichkeit intendierte, da der rein wissenschaftliche Markt sehr begrenzt war. Dadurch öffnete sich die Schere zwischen der angestrebten Professionalisierung und der oft notwendigen Popularisierung. Es zeigte sich aber, dass die Bemühungen um Öffnung der wissenschaftlichen Zirkel meist nur das gebildete Bürgertum ereichten, nicht aber "das Volk" oder die sozialen Unterschichten.

Historiker, Germanisten, Medizinhistoriker, Geographen, Mathematiker und Buchwissenschaftler befassten sich mit der Rolle des Verlegers - als handelndes Individuum, als Leiter eines größeren Unternehmens, als Organisator - mit der Absicht, die unterschiedlichen Selektionsprozesse bei der Aufnahme von Büchern in das Verlagsprogramm zu erhellen.

Hans-Erich Bödeker (Göttingen) eröffnete die Tagung mit der Perspektive auf die moderne Wissenschaftsforschung und den Kommunikationsaspekt des wissenschaftlichen Buches und des Lehrbuchs. Monika Estermann (Frankfurt) stellte mit dem Verlag von Salomon Hirzel ein Beispiel besonderen verlegerischen Engagements vor. Der Verlag wagte in der Zeit des Historismus noch keine Spezialisierung, er hatte nur ein germanistisches Segment im Programm mit dem „Deutschen Wörterbuchs“, das die Brüder Grimm 1853 begonnen hatten, und den mittelhochdeutschen Texteditionen Moriz Haupts. Für die neuere deutsche Philologie, speziell die Goethe-Philologie, aber wurde Hirzel selbst initiativ mit der Edition „Der junge Goethe“ (1874), die er mit Michael Bernays herausgab, der ersten philologischen Ausgabe von Texten Goethes. Die Grundlage dafür war seine eigene Goethesammlung, die er für diesen Zweck zusammengetragen hatte. In diesem Fall trug der Verleger selbst wesentlich zur Konstituierung der Disziplin der neueren deutschen Philologie bei, er stand nicht nur am Rande des wissenschaftlichen Feldes, im Grenzbereich zwischen Ökonomie und Wissenschaft, sondern mitten darin. Sammler, so Estermann, spielten insgesamt für den Aufbau von Disziplinen eine große Rolle (z.B. Theodor Mommsen, Gustav Freytag, Otto Jahn u.a.).

Das persönliche Engagement des Verlegers betonte auch Frank Bernstein (Mainz) auch in dem er das Verhältnis von Hirzels Schwager, Karl Reimer, zu seinem Autor Theodor Mommsen darstellte, dessen „Römische Geschichte“ (1854 bis 1856) Reimer verlegte. Dieses leidenschaftlich geschriebene Werk, das die Erfahrungen von 1848 reflektierte, richtete sich an ein größeres Publikum und hatte in nur vier Jahren eine Auflage von 5.000 Exemplaren erreicht. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Frage nach den Kriterien für die Akquirierung des unbekannten, jungen Extraordinarius für römisches Recht. Sie lagen, so Bernstein, in den gesellschaftlichen und geselligen Kontakten, die in dieser Zeit, in der es kaum fachliche und publizistische Foren gab, große Bedeutung hatten. Dagegen stießen die Versuche des Cotta Verlags, eine „Bibliothek der deutschen Geschichte“ für ein allgemeines Publikum herauszubringen, nicht nur wegen der vorhandenen Konkurrenzprodukte auf große Probleme, sondern auch wegen methodischer Grundkonflikte innerhalb führender Historikerkreise. Martin Nissen (Berlin) stellte dieses glücklose Projekt vor, das unter großen Mühen von 1887 bis 1912 endlich erscheinen konnte.

Die Vorreiterfunktion, die ein Verlag für eine noch nicht vollständig etablierte Disziplin spielen konnte, stellte Heinz Peter Brogiato (Leipzig) am Beispiel des Verlags Justus Perthes in Gotha am Beispiel der Geographie dar. Geographische Schriften oder Zeitschriften waren sehr populär, ihre Akademisierung setzte aber erst nach 1870 ein. Um die Jahrhundertmitte wurde sie vor allem von gelehrten Gesellschaften vorangetrieben, die mit Perthes zusammenarbeiteten. Besonders unter August Petermann wurde der Verlag zu einer kleinen geographischen „Gelehrtenrepublik“, die die entstehende Hochschulgeographie vorbereitete. Ein privatwirtschaftlicher Verlag spielte so für die Professionalisierung wie die Popularisierung der Geographie eine bedeutende Rolle.

Ute Schneider (Mainz) zeigte dagegen am Beispiel des Verlags B. G. Teubner die Strategien und Möglichkeiten der Programmprofilierung, die ihn um 1900 für ein etabliertes Fach wie die Mathematik zur „Heimstätte“ der deutschen Mathematik werden ließ. Hier war es nicht mehr die Verlegerfigur, die im Mittelpunkt stand, hier bestimmten fachliche Berater über die Aufnahme von Autoren. Zum Ausbau seiner Stellung im Fach diente Teubner die Gründung binnendisziplinärer Institutionen, wie die Zeitschrift „Mathematische Annalen“, die Anbindung an die Deutsche Mathematiker Vereinigung oder die Reform der „Jahresberichte der Deutschen Mathematiker Vereinigung“ zu einem Medium sozialer Integration und der Selbstreflexion der Wissenschaftlergemeinde. Durch diese Bündelung, bei der besonders die Berufsverbände als Bindemittel dienten, konnten durch Mehrfachnutzung, z.B. bei der Zweitverwertung von Inhalten in Lehrbüchern, die Absatzstrategien verfeinert und das Produktangebot für einen disziplingebundenen Absatzmarkt differenziert werden.

Mit ähnlicher Zielstrebigkeit baute Walter de Gruyter nach 1900 sein Verlagsunternehmen auf, wie Helen Müller (Gütersloh) darstellte. De Gruyter, aus der Montanwirtschaft kommend, kaufte 1890 den angesehenen, aber angeschlagenen Georg Reimer Verlag und gliederte ihm durch Zukäufe weitere an, wie z.B. den Leipziger Göschen Verlag. Der Verleger repräsentierte zwar das Unternehmen, aber die assoziierten Verlage wurden von eigenen Direktoren geführt. Überlegungen zur Popularisierung der Stoffe etablierter Wissenschaften, die andere Verlage längst betrieben, stießen wegen der engen Bindung des Verlags an ein konservatives politisches Milieu auf Schwierigkeiten, denn die marktstrategischen Erwägungen, die verpönte „Merkantilisierung“, standen den standespolitischen Traditionen, die sich de Gruyter angeeignet hatte, entgegen. Mit der „Sammlung Göschen“ konnte de Gruyter jedoch eine führende Rolle auf einem größeren Markt einnehmen.

Angela Schwarz (Duisburg-Essen) zeigte dagegen, wie tatsächliche Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in England im 19. Jahrhundert, etwa bei dem Verlag Cassell, betrieben wurde. Gemeinverständliche Werke wurden hier nicht als eine Art Zweitverwertung, als letztlich minderwertigere Ausführung betrachtet, vielmehr wollten sie unterhalten, teilweise sogar aufregende Abenteuer vermitteln, und nicht in erster Linie bilden. Dabei waren die Illustrationen von zentraler Bedeutung, die in wissenschaftlichen Werken meist als deplaziert galten. In Deutschland entsprach Alfred Brehm dieser neuen Forderung nach Visualisierung. Auf dem Massenmarkt war das Interesse an der Biologie am größten, hier hatte ein Paradigmenwechsel stattgefunden.

Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg untersuchte Sigrid Stöckel (Hannover) die Rolle und Publikationspolitik von zwei Medizinjournalen, der „Münchner Medizinischen Wochenschrift“ und der Deutschen Medizinischen Wochenschrift“, als Foren der scientific community. Beide Journale waren Spiegel von Wissenschaft und Gesellschaft und reflektierten die politisch unterschiedlich gefärbte Wiedergabe der Diskussion um die Münchner Pläne zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens.

Das spannungsgeladene Verhältnis des Springer Verlags zu der Deutschen Mathematiker Vereinigung als Standesorganisation im Dritten Reich stellte Volker Remmert (Mainz) dar. Der externe Druck auf das mathematische Publizieren wurde durch das Amt für Wissenschaften mit seiner Forderung, die Zahl der Zeitschriften zu reduzieren, immer größer. Durch sein internationales Renommee konnte Springer sich aber gegen die Ideologisierung der Mathematik nach dem Vorbild der „Deutschen Physik“ zur Wehr setzen. 1941 wurden die Schriften auf dem Gebiet der Mathematik als kriegswichtig eingestuft. Der Verlag blieb jedoch als Publikationsort weitgehend unbeschädigt.

Olaf Blaschke (Trier) hatte die Geschichtswissenschaften und das Verlagswesen nach 1945 zum Thema. Auch er arbeitete die Bedeutung der Verleger für die Disziplin und für die Ordnungen des Wissens heraus. In der Nachkriegszeit setzte im Verlagswesen ebenfalls eine Restauration ein, denn die wichtigen Verleger waren bereits in den zwanziger Jahren tätig gewesen. So bildeten sich „Gesinnungsaffinitäten“, die sich bei der Einstellung von Mitarbeitern ebenso zeigten wie bei der Bildung von Netzwerken und der Selektion von Titeln. Für den historischen Verlag war eine Positionierung als reiner Wissenschafts- oder Publikumsverlag besonders problematisch, da er sich im Konflikt zwischen Kultur und Kommerz sieht, was sich aber, so Blaschke, als ein akademisches Scheinproblem erweist, das sich etwa in Großbritannien nicht gestellt habe.

Die Tagung machte deutlich, dass das Thema des wissenschaftlichen Verlegens und der disziplinären Interdependenz noch wenig bearbeitet ist. Es ergaben sich Konstanten wie die konstitutive Funktion des Verlegers bei der Disziplinbildung oder seine Rolle am Rande des wissenschaftlichen Feldes, das aber in den Natur- und Kulturwissenschaften je nach Fach unterschiedlich organisiert und strukturiert sein konnte und damit entsprechende Anforderungen an den Verleger stellte. Es zeigten sich auch Desiderate wie etwa die Frage nach den Selektionsprozessen, den Autoren, nach den Adressaten, den Öffentlichkeiten, dem Einfluß des Verlegers auf den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs, den Marktbezug und die Finanzierung oder den Auswirkungen von wissenschaftlichen und verlegerischen Traditionen. Für die Frage von Professionalisierung oder Popularisierung allerdings müssten auch die Produkte, die Bücher, mit ihren typographischen Traditionen berücksichtigt werden, wie etwa die Funktion der Illustrationen. Dazu wäre ein internationaler Vergleich sehr dienlich.

Es ist geplant, die Vorträge in einem Sammelband zu publizieren.

Kontakt

Dr. Monika Estermann
Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Großer Hirschgraben 17-21
60311 Frankfurt am Main
agb@mvb-online.de


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