Vierzig Jahre Rezeption des Zweiten Vatikanums. Mythos und Wirklichkeit

Vierzig Jahre Rezeption des Zweiten Vatikanums. Mythos und Wirklichkeit

Organisatoren
Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart; Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Weingarten
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.09.2005 - 18.09.2005
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Von
Maria E. Gründig, Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V.

Die bewährte Zusammenarbeit der Veranstalter brachte – im 26. Jahr des Bestehens des Geschichtsvereins - zum 25. Mal renommierte Wissenschaftler und interessierte Zuhörer und Zuhörerinnen aus dem deutschen Sprachgebiet zusammen. Im Weingartener Tagungshaus der Akademie berichteten zudem Zeitzeugen über die konkreten Veränderungen durch das Konzil, so dass Theorie und Praxis eine gelungene Einheit bildeten. Die Leitung der diesjährigen Tagung lag in Händen von Hubert Wolf (Geschichtsverein) und Dieter R. Bauer (Akademie).

Die vier Jahrzehnte nach Beendigung des Zweiten Vatikanums, darüber waren sich die Referenten weitgehend einig, sind geprägt durch Phasen der Konzilseuphorie und Phasen der Ernüchterung und Enttäuschung. Während progressive Reformer über die Beharrungskraft der Institution Kirche klagen, machen konservative Denker das Konzil für Auflösungserscheinungen verantwortlich. Selektive Wahrnehmungen durchziehen die Interpretationsgeschichten aller verabschiedeten Dokumente. Der Streit über die treue Umsetzung des II. Vatikanums in die kirchliche Praxis ist bis heute nicht abgebrochen. Ziel der Tagung war die analysierende Darstellung der grundsätzlichen Strukturen und Perioden der Umsetzung der Konzilsbeschlüsse. Themen waren zudem die konkreten Besonderheiten, Wirkungen und Wandlungen in Europa, im Osten und Westen Deutschlands, innerhalb der Diözese, sowie vor Ort in den jeweiligen Kirchengemeinden.

Zur Einführung in die Tagung zeigte Günther Wassilowsky (Münster) in Vertretung von Hubert Wolf (Münster) die Besonderheiten dieses Konzils auf. Es sprengte zum einen alle bisherigen Dimensionen: Die etwa 2000 Konzilsväter verabschiedeten während der vier Sitzungsperioden in Rom 16, teils umfangreiche, Dokumente. Anders als in anderen Konzilien wurden hier keine neuen Lehrverurteilungen und Dogmen verabschiedet; den Konzilsvätern ging es vielmehr um die Formulierung „neuer Plausibilitäten für den alten Glauben“, um ökumenische Verständigung und Wandel in der Pastoral. Die Erwartungen an dieses Konzil waren ungewöhnlich hoch – Ernüchterung und Enttäuschungen folgten zwangsläufig. Zudem hätten, so Wassilowsky, nicht allein die durchgeführten Reformen faktische Wirkung verursacht. Vielmehr sei ein „Mythos“, eine Konzilseuphorie entstanden, die eine außerordentliche Dynamik erzeugt hätten, die wiederum ein spezifisches Bild des Konzils entstehen ließ. Das „erfundene Konzil“ wirkte sich in manchen Bereichen stärker aus als das „wirkliche Konzil“. Abschließend legte Wassilowsky dar, dass auch heute keine Einigkeit darüber herrscht, wie das II. Vatikanum historisch einzuordnen sei.

Klaus Schatz SJ (Frankfurt-St. Georgen) legte in seinem Vortrag „Konzilien und ihre Rezeption in der Kirchengeschichte“ zunächst anhand von Beispielen dar, wie „verwickelt die Rezeptionsgeschichte der Konzilien“ sei. Er erläuterte, dass die Anerkennung durch Rom keineswegs das entscheidende Kriterium sei, wodurch Konzilien Gültigkeit erlangten. Manche Konzile seien trotz Anerkennung durch Rom nie umgesetzt worden. Am Beispiel des Konzils von Konstantinopel, eines Konzil, dessen Inhalte heute „Gemeingut aller christliche Kirchen“ ist, zeigte Schatz auf, dass die Rezeption ein oftmals außerordentlich langwieriger, Jahrhunderte dauernder Prozess gewesen sei. Wie selektiv Konzilsrezeption im ersten Jahrtausend geschah, erläuterte Schatz am Beispiel der Konzilien von Chalkedon und dem 100 Jahre später stattgefundenen II. Konzil von Konstantinopel: Hier wurden Theologen zu Ketzern verurteilt, die die Konzilsväter von Chalkedon als rechtgläubig anerkannt hatten. Im zweiten Teil seiner Ausführungen beschrieb Schatz acht Problemfelder der Konzilsrezeption. Für die Konzilien, auch für das II. Vatikanum, gelte: „Wie tief sie in das Leben der Kirche eingegangen sind, zeigt sich erst, wenn der epochale „Geist“, der sie beseelte, d.h. die Mentalität und Zeitströmung, in der ihre Beschlüsse entstanden sind, der Vergangenheit“ angehören.

Über die Frage, wie Konzilsrezeption praktisch vor sich ging, referierten Claus Arnold (Frankfurt), Dietrich Wiederkehr (Luzern) und Herman H. Schwedt (Tabiano). In seinem Vortrag „Innovation durch Rezeption. Zeugen der Tradition im Umfeld des Zweiten Vatikanums“ erläuterte Claus Arnold am Beispiel des Theologen Tommaso de Vio, genannt Cajetan (+1534), wie historische „Autoritäten“ im Vorfeld des II. Vatikanums helfen konnten, die antimodernistische Uniformierung der Tradition zu durchbrechen. Über seine Cajetan-Studien suchte der Dominikaner Jacques-Marie Vosté (1883-1949) in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die Spielräume für die historisch-kritische Exegese wieder zu erweitern. Im Jahr 1943 konnte Vosté als Redaktor der Enzyklika Divino afflante Spiritu diese Linie dann sogar im lehramtlichen Kontext durchsetzen. Trotz dieses erfolgreichen „Ressourcements“ sollte nicht vergessen werden, dass damit eine tatsächliche lehramtliche Wende nur verdeckt wurde.
„Unser Konzil ? Das zweite Vatikanum in der Theologie seiner Enkel“ lautete der Beitrag von Dietrich Wiederkehr. Darin stellte er dar, welche Hoffnungen seine (Theologen-)Generation auf die Ansätze der Konzilsaussagen setzte: „Was vorher nur gewagte kühne Theologie, verdächtigte Erneuerung war“ schien jetzt „offizielle Lehre der Kirche“ zu werden. Ihr nüchterner Optimismus nahm allerdings auch wahr, dass es beim Ungleichgewicht zwischen Primat und Bischofskollegium blieb und die Kirche trotz ihrer Erneuerungsbestrebungen fast altmodisch wirkte angesichts fortgeschrittener Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung. In den letzten Jahren, so fuhr Wiederkehr fort, verstärkte sich die Kraft, welche die ortskirchliche Eigenständigkeit zurückdrängte durch päpstliche Lehrschreiben, durch Bischofsernennungen, die „die Gleichschaltung sichern sollten“. Wiederkehr bedauerte zudem, dass die Pastoralkonstitution ‚Gaudium et Spes’ so spät erschienen sei, und hofft darauf, dass die „Enkel sich ob der einzelnen Blockierungen nicht entmutigen lassen“.
Herman H. Schwedt referierte über die Rezeption des Konzils in Rom und erläuterte durch Beispiele, wie das Konzil im kirchlichen Rom – im Vatikan wie im Bistum Rom, im Rom der Orden wie im Rom der kirchlichen Schulen und Universitäten – „seine Schatten“ geworfen habe. Schwedt berichtete zunächst über die römische Synode, die „Hausputz halten“ sollte, bevor der große Besuch ankam – und die folglich als traditionalistisch, reaktionär und antimodern galt. Er erzählte von der Interesselosigkeit der römischen Kleriker während der Sitzungsperioden, über unbesetzte obere Ränge im Petersdom, über das „süße“ (Alltags-)Leben in Rom, das sich nicht an die Regeln des Vatikans zu halten gedachte. Er berichtete über die ökumenischen und die liturgischen Bewegungen in Rom, die vieles vorweg nahmen, was das Konzil erst noch formulieren sollte. „Das Konzil hatte seine volle Rezeption in Rom gefunden, bevor es zusammentrat“, so Schwedt. Die Kurie wiederum akzeptierte das Konzil und rezipierte seine Normen loyal. Allerdings verließen die Bischöfe das Konzil „ohne jeden Rechtsanspruch“, weder bei der Gestaltung, noch bei der Finanzierung und der Personalpolitik.

Sechs Zeitzeugen erläuterten anschließend in einer von Hubert Wolf moderierten Runde aus ihrer Sicht über das Konzil und die Umsetzung vor Ort. Prälat Eberhard Mühlbacher (Rottenburg am Neckar) berichtete über seine Aufgabe und Erlebnisse als Sekretär von Bischof Carl J. Leiprecht. Für ihn war das Konzil ein „pfingstliches“, ein „religiös spirituelles Ereignis“, ein Ort, an dem nach Antworten auf die Fragen der Welt von heute gesucht wurde. Auch Otto Hermann Pesch (München) begrüßte das Vatikanum, weil man in einer Zeit, da „der Glaube inzwischen alles andere als selbstverständlich war“ mit der „Starrheit kirchenamtlichen Lehrens und Handelns“ nicht mehr weitergekommen sei. Begrüßt wurde zudem, so Pesch, die Liturgiereform, die Öffnung gegenüber anderen Religionen und die Erlaubnis, die historisch-kritische Methode anzuwenden. Er berichtete allerdings auch über Enttäuschungen: über die umstrittene Eucharistieenzyklika und das Verbot, während des Konzils über Geburtenplanung zu reden; über die Tatsache, dass sich seit dem Ende des Konzils die römische Liste der „Verstöße“ Jahr für Jahr verlängere, dass die Bischofskonferenzen machtlos seien und dass die Veröffentlichung des neuen Kirchenrechts (CIC 1983) gezeigt habe, dass „die rechtliche Gestaltung des kirchlichen Lebens am vorkonziliaren Kirchenbild“ ausgerichtet sei. Pfarrer Manfred Schlichte (Friedrichshafen-Ailingen) gehörte dem „Revoluzzerkurs“ an, dem Weihekurs 1968. Die von den jungen Priesteramtskandidaten formulierten „Voten“ über „künftige Strukturen kirchlichen Lebens“ (u.a. die Forderung nach der Einrichtung von Pfarrverbände, heute: Seelsorgeeinheiten) und über den Vikarsstatut sind, so Schlichte, heute weitgehend realisiert. Für die ehemalige Oberin der Franziskanerinnen von Sießen, Schwester M. Radegundis Wespel (Bad Saulgau-Sießen) war die empfohlene Rückbindung jeder Ordensschwester an den Geist des Ordensstifters wesentlich und die Reflexion über das Kloster(leben), woraus die Neufassung der Konstitution im Sinne des Franz von Assisi resultierte. Sie berichtete über Erleichterungen des klösterlichen und persönlichen Lebens: Das Stundengebet wurde auf Laudes und Vesper beschränkt, die Ordenstracht vereinfacht, Exerzitien und Weiterbildung, sowie Familienkontakte und Reisen ermöglicht. Die Klöster öffneten sich neuen Aufgaben (Exerzitien), geistlichen Strömungen (charismatische Bewegungen) und Methoden (Supervision). Der evangelische Pfarrer Peter Seils (Mittelbiberach) sprach über die Öffnung der Grenzen zwischen den Konfessionen in seiner Fellbacher Gemeinde, über den dortigen Mischehekreis und den ersten ökumenischen Gottesdienst im Jahr 1969 „mit Abendmahls- und Eucharistiefeier“. Er sparte allerdings auch die Zweifelsfälle nicht aus, die er – neben viel Positivem – in der Bischofsstadt Rottenburg erlebte. Über seine Zeit als Biberacher Dekan sagte er, dass er „nirgendwo … so viel wahre Freundschaft zwischen den Konfessionen erlebt“ habe wie im Biberacher Kirchenbezirk. Der Theologe Gregor Klapczynski (Münster) war aufgefordert, die Konzilsrezeption aus Sicht eines Nachgeborenen darzustellen. Am Beispiel des durch Transparenz und Offenheit beprägten Kirchen(neu)baues in seiner Kirchengemeinde im Märkischen Viertel Berlins beschrieb er nicht nur die Aneignung einer ‚ersten Rezeptionsphase’ in den 1960er und 1970er-Jahren; er berichtete auch über den Prozess des mentalen Abkapselns und Abschließens in jüngerer Zeit. Ein Prozess, der sich, so Klapczynski, ganz real niederschlug: Der bislang frei begehbare, offen gestaltete Innenhof wurde geschlossen um unter anderem dessen Verschmutzung zu verhindern.

Um die Konzilsrezeption zwischen Lehramt, Kirchenrecht und Dogmatik ging es in den Vorträgen von Norbert Lüdecke (Bonn), Bernd Jochen Hilberath (Tübingen), und Georg Bier (Freiburg i. Br.). Lüdecke und Hilberath fragten, ob der Codex Iuris Canonici (CIC) eine authentische Rezeption des Zweiten Vatikanum ermögliche. Für den Kanonisten Norbert Lüdecke ist das Kirchenrecht von 1983 eine authentische, d. h. verbindliche Rezeption des Zweiten Vatikanums. Er erläuterte, dass Papst Johannes Paul II. den CIC - mit seiner Unterstreichung der ständischen Struktur der Kirche und einem eher am I. Vatikanum orientierten Offenbarungsverständnis – als das letzte und krönende Konzilsdokument verstanden habe. Lüdecke erscheinen das Konzil und viele seiner Würdigungen als überschätzt. Das mag enttäuschend klingen, doch fragte Lüdecke, ob die kanonistische Sicht nicht auch „Gelegenheit zur möglicherweise unliebsamen, aber heilsamen Verabschiedung von Konzilsmythen“ biete und eine „realistische Rückbesinnung auf die Grundfesten des römisch-katholischen Kirche, auf den Codex“ zulasse. Der Dogmatiker Bernd J. Hilberath versuchte, das Verhältnis von Konzil und Codex durch eine vergleichende Textuntersuchung zu bestimmen. Er vertrat in seinem Co-Referat zudem die These, dass der CIC weder das letzte Dokument noch der hermeneutische Schlüssel zur Auslegung des Konzils sei. Vielmehr seien die Canones des Codex und ihre Interpretation daran auszurichten, was „wir im Verbund der Subjekte in der Communio der Kirche als Intension des Zweiten Vatikanums erkennen“. Die Communio-Struktur der Kirche müsse sich im Kirchenrecht niederschlagen und auswirken. Der Kirchenrechtler Georg Bier fragte in seinem Vortrag danach, ob die Bischöfe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufgewertet worden seien. In Lumen Gentium sei zwar formuliert worden, dass alle Bischöfe die Nachfolger der Apostel und Stellvertreter Christi seien, so dass mit dem Begriff Communio Gleichberechtigung aller Bischöfe assoziiert worden sei. Die Konzilsväter hätten ihn jedoch uneindeutig verwendet, so dass sein Inhalt und weder in Christus Dominus noch im CIC weitergeführt oder in Vollzug gesetzt worden sei. Der Bischof weide sein Volk, so Bier, unter der päpstlichen Autorität, so dass der Bischof – so das Bischofsdekret im CIC – in seiner Diözese zwar „jede Gewalt, die erforderlich ist“ besitze; allerdings lege der Papst fest, was erforderlich sei. Bier stellte abschließend fest, dass Konzilstexte selektiv wahrgenommen würden und betonte, dass der Bischof durch das Konzil nicht aufgewertet worden sei. Peter Walter (Freiburg i.B.), der zum gleichen Thema ein Co-Referat halten sollte, war leider erkrankt. Sein Beitrag wird jedoch im Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte (RJKG) veröffentlicht.1

Weitere Einblicke in die Rezeptionsgeschichte in der BRD gaben Bischof Josef Homeyer (Hildesheim) und Wolfgang Weiß (Würzburg). Bischof Homeyer, der als Sekretär die Bischofskonferenz begleitet hat, berichtete über die – zunächst verhaltene – Umsetzung der Würzburger Synodenbeschlüsse, die die „personale Glaubensentscheidung inmitten der Kirche“ betont, einen einsatzbereiten Glauben in einer lebendigen Gemeinde angestrebt und auf geistliche Erfahrung und Weltzugewandtheit abgezielt hätten. Zehn Jahre später sieht er dagegen, dass viele Diözesen Arbeitsgemeinschaften gegründet und die Würzburger Beschlüsse umgesetzt hatten: Das Christentum sei in der konkreten Lebenswelt wichtig geworden, pastorale Dienste hätten sich ausgeweitet und insgesamt sei das Bewusstsein gewachsen, dass jeder für die Weltkirche Verantwortung trage. Man habe zudem gelernt, mit „heißen Themen“ umzugehen (wenn auch nicht unbedingt, sie zu lösen), auch wenn die Verwaltungsgerichtsbarkeit noch immer Römisches Gebiet sei („Unterbau zu Rom“). Das Konzil habe uns weitergebracht; Allerdings sei, so Homeyer abschließend, der Lernprozess noch nicht abgeschlossen. Über „Die Würzburger Synode – Markstein oder Episode“ referierte auch Wolfgang Weiß. Er stellte fest, dass die Synode in einer ambivalenten Grundstimmung gearbeitet habe, dass sie zwischen konservativen Kräften und den „Progressiven“ gestanden sei, die Antworten auf Fragen nach der Mündigkeit des Christen, nach dem Zölibat oder der Stellung der Frau in der Kirche gesucht hätten. Weiß plädierte dafür, das Vatikanum und die Würzburger Synode – im Interesse der jüngeren Generation, die die Fundamente und Wandlungsprozesse seit dem Vatikanum nicht kenne und für die alles wie „aus grauer Vorzeit“ erscheine – einer nüchternden Analyse zu unterwerfen und deutlich zu machen, welche entscheidenden Wandlungen sich nach dem Konzil ereignet hätten.

Über Veränderungen in der DDR berichtete der Kirchenhistoriker Josef Pilvousek (Erfurt). Anders als erwartet, erlaubte die Regierung die Teilnahme der Bischöfe aus der DDR am Konzil. Auch gab es eine Fülle von Schriften für die Gemeinden, die bei den diskussionsfreudigen, meist jungen und gut gebildeten Gläubigen Resonanz fanden. Die Bischofskonferenz führte, so Pilvousek, zu einer rasch akzeptierten Liturgiereform. Dagegen wurden die Beschlüsse der Pastoralsynode nicht rezipiert und die Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der real existierenden Gesellschaft der DDR und damit ein stärkeres Hineinwirken unterbunden. Dies geschah, so Pilvousek, vor allem aus kirchenpolitischen, weniger aus theologischen Gründen.

Der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof (Münster) betonte in seinem Vortrag „Seitenblicke auf die Rezeption in Europa“, dass es keine homogen verlaufende europäische Rezeptionsbewegung gebe; vielmehr müsse von unterschiedlich(st)en Rezeptionsgeschichten ausgegangen werden. Bischof zeigte dies anhand Polens und Osteuropas, wo die Rezeption Brüche verursachte und verzögert erfolgte, und für West- und Mitteleuropa und Nordamerika auf, wo die Konzilsergebnisse die Erfüllung von zum Teil schon bestehender Forderungen bedeutete. Am Beispiel der Schweiz erläuterte Bischof, dass das Konzil langfristig viele Wünsche nicht erfüllte, so dass sich zunehmend Ernüchterung und antirömische Affekte zeigten.

In seinem weit gespannten Abendvortrag versuchte der Volkskundler Werner Mezger (Freiburg i.B.) die Transformation der Brauchtraditionen im Zuge der Konzilsrezeption nachzuzeichnen. Vor allem die Ablösung der vor dem Konzil noch jährlich wechselnden Perikopenordnung durch einen etwa dreijährigen Rhythmus sah Mezger als verhängnisvoll für das Verständnis der weiterhin jährlich wiederkehrenden, aus der kirchlichen Tradition entstandenen volksfrommen Bräuche an.

Der Umsetzung der Konzilsbeschlüsse innerhalb der Diözese Rottenburg-Stuttgart widmeten sich die Theologen Oliver Schütz (Esslingen) und Klaus Unterburger (Münster), Prälat Werner Groß (Leutkirch, früher Rottenburg), Justiziar Waldemar Teufel (Rottenburg) und Nicole Priesching (Münster). Oliver Schütz referierte zunächst über die Entwicklung der Katholischen Akademie in Stuttgart-Hohenheim. Hatten die Bischöfe die Akademien nach 1945 zunächst als Schulungsanstalten für Laien konzipiert, entwickelten sie sich tatsächlich zu Orten des Dialogs und der Begegnung von Kirche und Welt. Die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart wurde, so Schütz, zu einer entscheidenden Vermittlungsinstanz für die Konzilsentscheidungen. Zudem hinterfrage sie immer wieder, ob Konzilsbeschlüsse umgesetzt würden, benennt mangelnde Rezeption und mahnt deren Umsetzung an. Klaus Unterburger thematisierte die Rezeption durch den – nach dem rechten Verhältnis zur modernen Welt suchenden – Konzilsteilnehmer Bischof Carl Joseph Leiprecht, durch den „Vordenker diözesaner Erneuerung“, Josef Weiger, und den Förderer der Ökumene, Hermann Breucha. Trotz der von diesen Theologen angestoßenen Wandlungen blieben viele ihrer Erwartungen unerfüllt. Unterburger erkannte zwei Hauptlinien der Rezeption in der Diözese: Der Hauptstrom habe sich für eine grundlegende Erneuerung, ein weiterer habe sich für spirituelle Vertiefung und den Rückgriff auf die Quellen eingesetzt. Waldemar Teufel zeigte in seinem Vortrag, dass das diözesane Kirchenrecht bzw. die Kirchengemeindeordnung vom Mai 1972 durch das Konzil geprägt worden sei. In der Kirchengemeindeordnung wurde, so titelte die Presse, die Mitverantwortung aller – der Laien ebenso wie der Kleriker – zum Grundgesetz für die Kirchengemeinden erklärt. Tatsächlich könne der seit 1972 gewählte Kirchengemeinderat in allen Aufgabenbereichen der Kirchengemeinde beraten und beschließen. Ob allerdings ein Beschluss rechtswirksam wird, hänge von weiteren Voraussetzungen ab, denn der Pfarrer verantworte die rechte Verkündigung der Heilsbotschaft, die Liturgie, die Sakramentenverwaltung und die Diakonie. Zu diesem Bereich der besonderen Verantwortung des Pfarrers bedürfen, so Teufel, Beschlüsse zur Rechtswirksamkeit seiner Zustimmung.

Werner Groß hatte die Aufgabe übernommen, den Wandel der Liturgie in den vergangenen 40 Jahren zu beschreiben. Mit der Liturgischen Bewegung, so Groß, habe schon um 1920 eine Bewegung junger Christen existiert, die Liturgie erneuern wollte. Sie antizipierte damit Konzilsanliegen. Die Enzyklika „Mediator Dei“ von Papst Pius XII. habe deren Anliegen anerkannt. Das 1949 erschienene Gesang- und Andachtsbuch wollte die „Trennung von Liturgie und Volksfrömmigkeit überwinden“; Das deutsche Rituale sollte dies unterstützen. Bischof Leiprecht und dessen Nachfolger, Bischof Georg Moser, unterstützten auf diesem Hintergrund die Umsetzung der im Konzil formulierten Inhalte. Durch das neue Diözesangesangbuch (das „Gotteslob“), durch vermehrte Laiendienste, Kirchenneubauten und den Ausbau der Kirchenmusik seien die Reformanliegen des Konzils ebenfalls vorangebracht worden. Nicole Priesching referierte über die Wirkung des Konzils auf die Orden und Klöster. Nach einem historischen Überblick über die Entwicklung des Klosterwesens seit 1800 und dem Hinweis auf neue die Errichtung gemeinsamer Institutionen im Ordenswesen um 1959 (Vereinigungen von Ordensoberen und Ordensoberinnen, VDO und VOD), richtete sie ihren Blick v.a. auf die Frauenklöster, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts unter einem immensen Mitgliederschwund gelitten, mit einem negativen (Selbst-)Bild und mit Funktionsverlusten zu kämpfen gehabt hätten. Eine große Leistung sah Priesching in der erfolgreichen Suche nach Identität, u.a. durch die Orientierung auf die Gründerfigur.
Die fünftägige Veranstaltung wurde durch eine von Günther Wassilowsky moderierte Abendveranstaltung, in der Rudolf Guckelsberger Texte – aus zum Teil unveröffentlichten Briefen, Tagebüchern und Büchern – zum Konzil vortrug, abgeschlossen sowie durch einen festlich gestalteten Sonntagsgottesdienst in der Weingartener Basilika, der von Bischof Gebhard Fürst, dem Protektor des Geschichtsvereins, zelebriert wurde.

Anmerkungen:
1 Eine Veröffentlichung der Vorträge ist im Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte für das Jahr 2007 geplant.

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